Leseprobe Gesang vom Leben
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Solisten durchaus anspruchsvolle deutsche Texte mit akustischen<br />
Gitarren verbinden: die sozialistische Antwort auf kritische amerikanische<br />
Liedermacher wie Bob Dylan, der 1965 das traditionelle Folk-<br />
Festival in Newport mit seinen E-Gitarren regelrecht schockt. Dylans<br />
Stilpluralismus aber traut man sich im Osten nicht. Die Grenzen zwischen<br />
Liedermacher, Folk, Weltmusik und Rock bleiben hier noch<br />
lange fest zementiert. Doch gerade wegen der glaubhaften Abgrenzung<br />
der Gitarrenkünstler zum ungeliebten Beat entwickelt sich die<br />
Liedermacherzunft einige Jahre lang nahezu ungebremst.<br />
Erst als die Künstler, nachdem die Singebewegung Mitte der 1970er<br />
Jahre landesweit etabliert ist, beginnen, auch kritische Texte zu<br />
schreiben, schaut die Staatsmacht genauer hin: Ȇberholen ohne einzuholen,<br />
das ist DDR-konkret. Idioten macht man zu Idolen, weil sie<br />
loben, was besteht«, singt 1975 Gerulf Pannach, der Verantwort liche<br />
der Singebewegung im Kreiskabinett für Kulturarbeit. Umgehend<br />
wird ein Auftrittsverbot ausgesprochen, das auch für die Rockband<br />
Renft gilt, für die Pannach ebenfalls dichtet – Klaus Jentzsch trifft<br />
nun bereits zum zweiten Mal ein strenges Verdikt. Zuvor schon<br />
wagt sich Michael Sallmann aus der Deckung. Auch ihm werden die<br />
Auftritte untersagt, aber er spielt illegal weiter und wird inhaftiert.<br />
Zur gleichen Zeit schreibt sich ein ehemaliger politischer Häftling<br />
als Student an der Musikhochschule ein: Hubertus Schmidt. Während<br />
eines Krankenhausaufenthaltes vertont er Texte von Andreas<br />
Reimann, den er bereits aus seiner Cottbuser Gefängniszeit kennt.<br />
Das daraus entstehende Knast-Projekt mit 50 Klavierliedern im Stil<br />
von Brecht und Weill wird in den 1970er Jahren eines der meistaufgeführten<br />
Stücke im Leipziger Untergrund: Liedertheater nennen die<br />
Protagonisten den Stilmix.<br />
Zwei Druckmittel haben die Machthaber bis zum Ende der DDR<br />
gegen aufmüpfige Musiker, beide zeigen stets Wirkung. Wer es zu<br />
sehr übertreibt, wandert wegen »staatsfeindlicher Hetze« ins Gefängnis<br />
und wird dann in den Westen abgeschoben. Für alle anderen reichen<br />
in Aussicht gestellte Lockerungen der rigiden Vorschriften zu<br />
Auftritts- und Aufnahmemöglichkeiten. Denn nach dem Amtsantritt<br />
von Michail Gorbatschow als Generalsekretär der KPdSU 1985 lassen<br />
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