Leseprobe Gesang vom Leben
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Betroffenen. Der Betroffene ist aufgestört, wird unsicher und ratlos.<br />
Wer schreit, will entweder terrorisieren oder braucht Hilfe. In jedem<br />
Falle wird der, der den Schrei vernommen hat, aus seiner Ruhe aufgescheucht.«<br />
35 Auch in Leipzig sind die Kleinbürger aufgescheucht.<br />
Nur drückt man sich hier weniger intellektuell aus, werden Beatfans<br />
als »Gammler«, »Rowdys«, »Langhaarige« und »Verwahrloste«<br />
bezeichnet. Um Vorfälle wie in Berlin oder Hamburg von vornherein<br />
auszuschließen, spricht man massenhaft Verbote aus: 54 von 58 der<br />
in Leipzig registrierten Bands trifft der Bannstrahl. Darunter sind<br />
nicht nur Hinterhof-Gruppen, sondern auch die von Klaus Jentzsch<br />
alias Renft gegründeten The Butlers, die als Antwort der DDR auf die<br />
Beatles ein »zentraler kultureller Hoffnungsträger« 36 sind.<br />
Zwei Jugendliche aus Markkleeberg, die sich mit dem Verbot nicht<br />
abfinden wollen, rufen daraufhin für den 31. Oktober 1965 zu einer<br />
Protestdemonstration auf. Obwohl die beiden nur wenige Flugblätter<br />
anfertigen, sind die Machthaber äußerst nervös. Die Presse hetzt gegen<br />
die Beatfans, Lehrer warnen vor der Teilnahme an der Demo und<br />
erreichen das Gegenteil: Jetzt spricht sich erst recht herum, dass auf<br />
dem Wilhelm-Leuschner-Platz demonstriert werden soll. Schätzungsweise<br />
2500 Jugendliche treffen sich so an jenem Sonntag unweit des<br />
Neuen Rathauses. Es ist ein unfreundlicher Herbsttag, das Thermometer<br />
steigt nur auf acht Grad, immer wieder regnet es. Nass werden<br />
die Beatfans aber sowieso: Mit Gummiknüppeln, Hunden und<br />
Wasserwerfern löst die Staatsmacht die Demonstration auf – immerhin<br />
die größte nicht genehmigte in der DDR zwischen 1953 und<br />
1988. 267 Jugendliche werden verhaftet, 97 von ihnen müssen ohne<br />
Gerichtsurteil bis zu sechs Wochen lang Zwangsarbeit in Braunkohletagebauen<br />
leisten, unzählige werden von ihren Schulen relegiert.<br />
Äußerlich scheint der Widerstand der Jugendlichen gebrochen.<br />
In Wirklichkeit aber suchen sie nur weniger verdächtige Nischen.<br />
Sie finden diese bei Liedermachern und im Chanson, der sich zur<br />
legendären Leipziger Liederszene auswächst. Nachdem der Zentralrat<br />
der Freien Deutschen Jugend Gitarrensounds als »progressive<br />
Erscheinung der Tanzmusikentwicklung« 37 bezeichnet, wird per FDJ-<br />
Beschluss eine Singebewegung ins <strong>Leben</strong> gerufen, bei der Bands oder<br />
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