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Leseprobe Gesang vom Leben

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die hohlen Friedensphrasen des Staates konterkariert. Vor allem aber<br />

ermutigt Schenker, der an der Musikhochschule Komposition und<br />

Improvisation unterrichtet, viele junge Künstler zu unideologischen<br />

Experimenten, die in den frühen 1990er Jahren manch überraschende<br />

Symbiose nach sich ziehen. Wenn Musiker wie der Bratscher Henry<br />

Schneider und der Klanggestalter Erwin Stache erst ein Festival im<br />

Reichsgerichtsgebäude installieren und dann mit ihren Aktionen in<br />

die von Theaterleuten wiederentdeckte Ruine des Plagwitzer Lindenfels<br />

wechseln, dann offenbart sich hier eine geistige Freiheit, die zwar<br />

die Puristen unter den Neue-Musik-Anhängern hinter sich lässt, aber<br />

eben auch neue Zuhörerschichten erschließt.<br />

In seinem thüringischen Heimatdorf Stelzen ruft Schneider zu<br />

jener Zeit ein Wald-und-Wiesen-Festival ins <strong>Leben</strong>, bei dem die<br />

gesamte Leipziger Musikszene ohne jede Berührungsängste ein- und<br />

ausgeht und das der Avantgarde ebenso wie der Tradition huldigt.<br />

Klavierrezitals und Chormusik gibt es da direkt neben Staches Landmaschinen-Sinfonien<br />

mit klingenden Mähdreschern und brennenden<br />

Klavieren. Es scheint, als wären diese Aktionen, die anfangs von vielen<br />

nur als Klamauk gedeutet werden, Vorboten jener Probleme, die<br />

mancher Akteur heute mit der Neuen Musik hat: Im 21. Jahrhundert<br />

nämlich zeichnet sich die zeitgenössische Musik immer mehr<br />

durch grenzenlose Vielfalt aus, eine Vielfalt, die <strong>vom</strong> althergebrachten<br />

Begriff Neue Musik kaum noch erfasst werden kann. Protagonisten<br />

der Szene lehnen den Terminus darum auch aus diesem Grund<br />

zunehmend ab, zahlreiche neue Begriffe werden erfunden, die ihrerseits<br />

aber selbst nicht reichen, um das zu beschreiben, was Musiker<br />

heute in Konzerten und Tonstudios produzieren.<br />

Diese Vielfalt geht auch in Leipzig einher mit einer stetigen Aufweichung<br />

des musikalischen Materials. Historische und aktuelle<br />

Klänge werden aufgegriffen, vorbehaltlos schöpft man aus dem akustischen<br />

Vorrat der Welt. Beschränkungen gibt es keine, alles kann<br />

zum Gegenstand von Kunst werden. Komponisten sind nicht mehr<br />

nur Klangschöpfer, sondern auch Klangforscher, die ihr Material<br />

aus einem riesigen Steinbruch immer wieder neu zusammentragen.<br />

Sie integrieren Elemente anderer Kulturen, Jazz, Rock und Pop, sie<br />

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