Leseprobe Gesang vom Leben
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Sie beginnt mit Wolfgang Amadeus Mozart und endet bei Richard<br />
Strauss: Gefühlte 90 Prozent aller zu hörenden Werke entstammen<br />
diesem nur zweihundertjährigen Zeitraum, dessen Eckpunkte die<br />
Sterbejahre von Bach und Strauss 1750 und 1949 bilden. Alles andere<br />
wird nach und nach ausgelagert, weil sich im späten 20. Jahrhundert<br />
der Glaube durchsetzt, ein modernes Sinfonieorchester könne weder<br />
die Werke von vor 1750 noch die von nach 1950 adäquat aufführen.<br />
Dafür hat man Experten, und deren Nischen werden von Ausführenden<br />
und Fans gleichermaßen bald als Alte Musik und Neue Musik<br />
bezeichnet.<br />
Der Name für die erste Nische ist in den 1950er Jahren noch gar<br />
nicht gefunden, da geschieht in Leipzig bereits das, was in West europa<br />
erst zwei bis drei Jahrzehnte später zu einer regelrechten Mode wird:<br />
Musik des Mittelalters, der Renaissance und des Barock auf historischen<br />
Instrumenten ihrer Zeit und mit dem Wissen um die jeweilige<br />
Stilistik möglichst authentisch aufzuführen. In Leipzig funktioniert<br />
das von Anfang an gut, weil es hier mit der Sammlung von Paul de<br />
Wit eine der größten Musikinstrumentenkollektionen Deutschlands<br />
zu bewundern gibt. Möglich wird deren Ankauf für die Universität<br />
im Jahr 1926 überhaupt erst, als der Musikverleger Henri Hinrichsen<br />
eine große Spende hinterlegt, durch welche die einst in Leipzig<br />
zusammengetragene und dann nach Köln gegebene Sammlung an<br />
ihren Ursprungsort zurückkehren kann – zur Präsentation der Schau<br />
stellt die Stadt damals den Nordflügel des gerade erst erbauten Grassimuseums<br />
zur Verfügung. Weil bereits vor dem Bombenangriff <strong>vom</strong><br />
4. Dezember 1943, der auch den Museums komplex trifft, Inventar<br />
ausgelagert wird, übersteht die Kollektion den Krieg wenigstens teilweise.<br />
In den 1950er Jahren, als das Museum das Musikwissenschaftliche<br />
Institut beherbergt, erwacht die Sammlung wieder zum <strong>Leben</strong>.<br />
Einen der jungen Forscher inspiriert sie 1957 gar zu einer visionären<br />
Idee: Die Instrumente sollen nicht nur gezeigt, sondern auch gespielt<br />
werden – am besten in einem festen Ensemble.<br />
Der Mann hinter der Idee, der 28-jährige Hans Grüß, gilt lange<br />
als Sonderling. Gleichermaßen forscht er zu ältester und neuester<br />
Musikgeschichte. Lange bevor die historische Aufführungspraxis<br />
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