Leseprobe Gesang vom Leben
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nicht ihren Frieden machen, aber sie wenigstens tolerieren. Leipziger<br />
Jazzfans können diese kulturpolitische Wende an einem einzigen<br />
Datum festmachen – dem 23. März 1965, jenem Tag, an dem der<br />
King of Jazz Louis Armstrong sein umjubeltes erstes Konzert in Ostdeutschland<br />
gibt.<br />
Natürlich bleibt die Staatssicherheit misstrauisch. Massenhaft sogenannte<br />
»Inoffizielle Mitarbeiter« sollen das Konzert besuchen, denn<br />
es sei damit zu rechnen, »dass der Auftritt Louis Amstrongs [sic]<br />
durch Jugendliche, die in der Vergangenheit bei Tanzveranstaltungen<br />
negativ aufgefallen sind, zu Provokationen ausgenutzt werde.« 34 Der<br />
Geheimdienst hat zweifellos Grund genug, skeptisch auf die Jugend<br />
zu schauen. Allerdings lässt die musikalische Kenntnis der Spitzel zu<br />
wünschen übrig. Denn wenngleich Armstrongs Konzert ausverkauft<br />
und auch jüngeres Publikum anwesend ist, lässt sich die Jugend jener<br />
Zeit längst nicht mehr wie in früheren Jahrzehnten von Jazz und<br />
Swing zu politischen Statements hinreißen. Dafür hat man nun eine<br />
eigene Musik: den Beat. Der entwickelt sich in jenen Jahren aus dem<br />
Rock’n’Roll der 1950er und wird dank eines Quartetts aus Liverpool,<br />
das als Beatles den Stil im Namen trägt, zur globalen Mode, die sich<br />
von keinem »Eisernen Vorhang« aufhalten lässt. Beatbands greifen<br />
zu zwei bis drei E-Gitarren, singen oft mehrstimmig und bevorzugen<br />
simpel aufgebaute Lieder, die sich rhythmisch bewusst <strong>vom</strong><br />
Swing abgrenzen. Weil mancher zudem lieber in Alltagskleidung als<br />
im Anzug spielt und auch sonst einige der bisherigen ästhetischen<br />
Übereinkünfte aufgekündigt werden, wird der Beat überall in der<br />
Welt – und so auch in Leipzig – zum Ärgernis für die ältere Generation.<br />
Als Fans der Rolling Stones im September 1965 in Hamburg und<br />
Westberlin massiv randalieren, schlägt das Establishment in Ost und<br />
West nicht nur verbal zurück. Intellektuell geschliffen drückt sich<br />
ein nur mit Kürzel zeichnender Autor der Zeit neun Tage nach dem<br />
Berliner Skandalkonzert aus, wenn er über den »kehlkopfzerstörenden,<br />
nervenzerfetzenden Schrei« als »Kunstmittel des Beat« schreibt:<br />
»Viel wichtiger als die Beherrschung der Stimmbänder ist die Beherrschung<br />
der Mikrophone und der Lautsprecher. Der Schrei stößt tief<br />
in die Seele hinab und erregt das Gemüt. Der Hörende wird zum<br />
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