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Di 09:00 Uhr bis 16:00 Uhr | A21204 | Seite 58
Der lange Schatten der Pandemie
Eine psychologische Folgenabschätzung
FACHTAGUNG
02
NOV
33
auf vieles verzichten müssen, macht
die Aufzählung deutlich: Besonders Alleinerziehende
und junge Familien stehen
in der Pandemie unter Druck. Häufig
fehlen ihnen die psychosozialen,
zeitlichen und finanziellen Ressourcen,
um gut durch die Krise zu kommen.
Es nimmt also kein Wunder, dass sich
frauenspezifische Probleme in der Corona-Krise
massiv verschärft haben.
Care-Arbeit ist immer noch
vermehrt Frauensache
Frauenbewegung und Bundesgleichstellungsgesetz
hin oder her: Die familiäre
Care-Arbeit, also das Sich-Kümmern
um und das Pflegen von Familie,
ist noch immer primär Frauensache.
Und weil viele Frauen deshalb in Teilzeit
arbeiten, sind sie von der coronabedingten
Mehrfachbelastung besonders
betroffen. Sie halten in diesen
Zeiten das System Familie am Laufen.
Und nicht nur das. Mehr als zwei Drittel
aller beschäftigten Frauen arbeiten im
Gesundheits-, Sozial- oder Bildungsbereich,
also in Arbeitsfeldern, die als
„systemrelevant“ eingestuft werden.
Doppelte Systemrelevanz aber führt
nicht etwa zu doppelter Wertschätzung
oder Entlastung, sondern in die
Stressfalle: Eine Intensivpflegerin in
Teilzeit managt beispielsweise nicht
nur die Corona-Station, sondern nebenbei
noch ihre vierköpfige Familie.
Es ist wie so oft: Wer es schwer hat,
den trifft es besonders.
Zu ihnen zählen Menschen, die die
Krise genutzt haben, um ihr Leben zu
überdenken und neu auszurichten.
Oder Menschen, die vor Corona extrem
unter Druck standen, aber während
der Krise deutlich weniger Stress
empfinden, weil sich das berufliche
und soziale Leben für sie entspannt,
ja geradezu entschleunigt hat. Dazu
gehören auch die, die das, was die
meisten als negative Stressoren, auch
Distress genannt, erfahren, umdeuten
und sogar als positiven Stress, sogenannten
Eustress, empfinden können.
Ob Kurzarbeit, Kinderbetreuung oder
Kontaktsperre – all diese Belastungsfaktoren
können, aus einem anderen
Blickwinkel, als Ressourcen und Chancen
aufgefasst werden.
Es gibt aber auch
Gewinner:innen der Krise
Doch es gibt auch Gewinnerinnen und
Gewinner der Krise. Damit meine ich
nicht etwa Amazon, Netflix oder Pfizer.
Vielmehr meine ich Menschen,
deren psychosoziales Wohlergehen in
Pandemiezeiten gestiegen ist. Die medizinisch-psychologische
Forschung,
traditionell defizit- und krankheitsorientiert,
weiß noch nicht viel über sie.
Sie weiß nur, dass es sie gibt.
Wer ein dynamisches Vertrauen in sich
und in andere entwickelt, kann gestärkt
aus der Krise hervorgehen. Von
diesen Beispielen können wir lernen.
Gleichwohl gilt es aber auch, damit wir
uns nicht in einer naiven und selbstzentrierten
positiven Psychologie verfangen,
die systemischen Missstände,
die Corona offengelegt hat, beherzt
anzugehen. Die Post-Corona-Gesellschaft
muss nicht nur resilienter, sondern
auch gerechter und solidarischer
werden. |Je