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Gesund & Leben 2021/12

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GEHIRNFORSCHUNG<br />

n BUCHTIPP<br />

Von der Steinzeit<br />

ins Internet.<br />

Der analoge<br />

Mensch in der<br />

digitalen Welt<br />

Prof. Dr. rer. nat.<br />

Lutz Jäncke <br />

hogrefe, € 25,70<br />

„DURCH DIE GROSSE<br />

MENGE AN<br />

INFORMATIONEN<br />

VERLIEREN WIR DIE<br />

FÄHIGKEIT, DAS<br />

SINNVOLLE ZU<br />

WÄHLEN.“<br />

Inwiefern?<br />

Wir sind keine Multitasker und ersticken an der<br />

Kommunikationsflut. Pro Sekunde strömen<br />

ungefähr elf Millionen Bits auf uns ein, aber<br />

bewusst verarbeiten können wir nur 11 bis 60<br />

Bits. Es drängeln sich zu viele Informationen in<br />

unseren Bewusstseinskanal, mit denen wir nichts<br />

anfangen können. Die Folge von zu vielen Reizen<br />

ist zu wenig Disziplin. Wir werden getrieben und<br />

können nicht mehr konzentriert arbeiten. Unsere<br />

ohnehin schwache Multitasking-Leistung wird<br />

dadurch noch schlechter.<br />

Wie äußerst sich dies in unserem Alltag?<br />

Durch die große Menge an Informationen verlieren<br />

wir die Fähigkeit, das Sinnvolle zu wählen,<br />

Stichwort ‚Lazy-Brain-Mechanismus‘. Wir gehen<br />

Reizen nach, werden von ihnen absorbiert. Wir<br />

wählen Inhalte nicht mehr aktiv aus und trainieren<br />

unseren Frontalkortex (= Stirnlappen) nicht<br />

mehr, sondern gehen unwichtigen Dingen nach.<br />

Relevantes wird nicht von Irrelevantem getrennt.<br />

Damit werden wir zum Sklaven dieser Reize.<br />

Auf der anderen Seite erleichtert uns die<br />

digitale Welt das <strong>Leben</strong>, zum Beispiel Google<br />

Maps …<br />

Durch das Internet verlieren wir die Überlebensfähigkeit<br />

in der realen Welt. Wir verlassen uns<br />

komplett auf unsere Geräte. Beim Autofahren<br />

benutzen wir keine Landkarten mehr, sondern<br />

das Navi. Auch Wörterbücher sind Geschichte –<br />

wir haben ja Übersetzungsprogramme. Wir übernehmen<br />

alles aus der digitalen Welt – und brauchen<br />

bald für alles eine App.<br />

Andererseits sind im Netz alle Informationen für<br />

alle jederzeit zugänglich. Ein Fluch oder Segen?<br />

Für mich überwiegt der Fluch. Denn unsere<br />

Beeinflussbarkeit hat stark zugenommen, Stichwort<br />

Shitstorms und Mobbing. Hier wird beleidigt<br />

und Meinung gemacht, auch politisch. Auch die<br />

alten Römer haben dies alles praktiziert, nur eben<br />

nicht in dieser Geschwindigkeit.<br />

Verkommt das News-Medium Internet immer<br />

mehr zum Fake-News-Kanal?<br />

Das Internet gefährdet mittlerweile unsere Demokratie.<br />

Überall auf der Welt gibt es Firmen wie<br />

Cambridge Analytics, die Menschen gezielt digital<br />

beeinflussen. Sie versorgen sie mit Botschaften, die<br />

ihre Meinung bestätigen. Damit wird erfolgreich<br />

Politik gemacht: beim Brexit, aber auch bei der<br />

Trump-Wahl und aktuell in Österreich – beängstigend.<br />

Wie soll unsere Demokratie das überleben?<br />

Ihre Voraussetzung ist ja, dass sich jeder Mensch<br />

frei entscheiden kann.<br />

Wäre ohne die Social-Media-Kampagnen der<br />

Impfgegner die Impfquote höher?<br />

Da bin ich mir sicher. Viele Impfgegner sind unsicher<br />

und suchen im Internet. Bei Angst finden sie<br />

hier eine Erklärung dafür. Dies wird auch noch<br />

verstärkt, weil auf der anderen Seite die Politik und<br />

manche Medien sehr ineffizient kommunizieren.<br />

Dies öffnet selbsternannten Experten auf YouTube<br />

Tür und Tor …<br />

Social Media zielt auf unsere Emotionen ab. Mit<br />

welchen Folgen?<br />

Der Mensch von heute ist ein Gefühls-Junkie. Wir<br />

fahren vermehrt auf Headlines ab, die uns emotionalisieren<br />

– wir sind verführbar. Und unsere Kommunikation<br />

wird komisch, zum Beispiel auf Twitter,<br />

wo sie oft merkwürdig kontextfrei ist. Auch auf<br />

Instagram & Co rauschen wir von einer Gefühlsdarstellung<br />

in die nächste: Wie sehe ich aus? Auf<br />

diese Weise werden wir süchtig nach Gefühlen.<br />

Viele Heranwachsende fragen sich: Bin ich zu dick,<br />

zu wenig schön? Wir dröhnen uns mit Nichtssagendem<br />

zu und trainieren unser Lustsystem in die<br />

falsche Richtung.<br />

Eine Gefahr für jede Einzelne und jeden Einzelnen.<br />

Auch für die Gesellschaft?<br />

Durch Social Media werden besonders junge Menschen<br />

egoistisch. Ich nenne das den ‚Look- at-me-<br />

Faktor‘. Sie haben mehr Fokus auf sich selbst als<br />

auf andere. Doch für die Aufgaben der Zukunft<br />

brauchen wir keine Selbstdarsteller, sondern<br />

mehr Miteinander. Auch manifestieren sich im<br />

Internet immer mehr Unterschiede zwischen den<br />

Geschlechtern, es kommt zu einem Rückfall in<br />

alte Klischees – eine groteske Entwicklung in einer<br />

Zeit, in der alle gleichberechtigt sein sollten.<br />

Werden wir Menschen im Netz zu abgestumpften<br />

Avataren?<br />

Wir sind auf dem Weg dorthin. Auf Social Media<br />

begegnen uns ja keine echten Menschen mehr. Sie<br />

sind verkleidet und agieren wie anonyme Avatare.<br />

FOTO: ISTOCK_ W_ IPOPBA_ VIOLETASTOIMENOVA_STARLINEARTS<br />

INTERNET- UND<br />

SOCIAL-<br />

MEDIA-NUTZER<br />

IN ÖSTERREICH<br />

15,0i<br />

<strong>12</strong>,5i<br />

10,0i<br />

7,5i<br />

5,0i<br />

2,5i<br />

0,0i<br />

Nutzerzahl (in Millionen)i<br />

Gesamtbevölkerung<br />

9,02i<br />

Mit dem Internet<br />

verbundene Mobiltelefone<br />

13,08i<br />

Dabei müssten wir gezielt das Gegenteil üben:<br />

soziales Verhalten bei Treffen im realen <strong>Leben</strong>. Nur<br />

dadurch entwickeln wir Mitgefühl füreinander.<br />

Erschafft die digitale Welt den Menschen 2.0?<br />

Sagen wir so: Seit der<br />

Erfindung des iPhones<br />

und des iPads haben sich<br />

die Menschen verändert.<br />

Bei Jugendlichen und<br />

jungen Erwachsenen ist<br />

dies bereits messbar – sie<br />

gehen anders und oberflächlicher<br />

mit Informationen<br />

um. Ich merke<br />

dies bei meinen Söhnen:<br />

Filme, die wir früher<br />

spannend fanden, sind<br />

langweilig für sie. Heute<br />

ist die Frequenz höher,<br />

die Drehung schneller,<br />

Pop-Songs und Sätze<br />

werden kürzer. Fehlinterpretationen<br />

sind damit programmiert, zum Beispiel<br />

bei Shitstorms. Sie entstehen, wenn nur die<br />

Headline, nicht aber der erklärende Text gelesen<br />

wird.<br />

Internetnutzer<br />

8,03i<br />

Social-Media-Nutzer<br />

7,21i<br />

Ein aktueller Report geht von einer Einwohnerzahl<br />

in Österreich von 9,02 Millionen<br />

aus. Demnach entsprechen die<br />

8,03 Millionen Internet-User einem<br />

Prozentsatz von 89.<br />

Die Tendenz ist weiter steigend, sodass<br />

man inzwischen von einer flächendeckenden<br />

Nutzung ausgehen<br />

kann. Mit dem Netz sind 13,08 Millionen<br />

Mobiltelefone gibt es knapp, also<br />

deutlich mehr als Einwohner. Auch bei<br />

den Social-Media-Nutzern wurde ein<br />

großer Zuwachs verzeichnet. Die nunmehr<br />

7,21 Millionen Nutzer zeigen,<br />

dass fast 80 Prozent der Menschen in<br />

Österreich soziale Medien nutzen.<br />

Wird unser Gehirn in Zukunft ein Computer sein?<br />

Ich glaube, dass es bald Roboter gibt, die die besseren<br />

Menschen sind. Denn Roboter passen idealer<br />

in die digitale Welt als wir. Ich bin skeptisch,<br />

ob der Mensch Zukunftsprobleme wie die Klimakrise<br />

lösen kann.<br />

Viele Mechanismen<br />

hindern uns daran,<br />

zum Beispiel unser<br />

Egoismus, der durch<br />

Social Media noch<br />

befeuert wird. Dabei<br />

müssten wir an<br />

diesen großen Aufgaben<br />

gemeinsam<br />

und gesamtheitlich<br />

arbeiten. Roboter<br />

sind dabei eindeutig<br />

besser. <br />

KARIN LEHNER n<br />

„ICH GLAUBE, DASS ES<br />

BALD ROBOTER GIBT,<br />

DIE DIE BESSEREN<br />

MENSCHEN SIND. “<br />

QUELLE: HOOTSUIT UND WE ARE SOCIAL<br />

36 GESUND & LEBEN <strong>12</strong>/21<br />

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