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Hartwig von Schubert: Nieder mit dem Krieg! (Leseprobe)

Jahrzehnte des Krieges in Afrika, auf dem Balkan, am Golf und im Nahen Osten, Krieg in der Ukraine, Krieg in Mexiko, Krieg in Afghanistan. Die USA haben sich weltweit zurückgezogen, das Vakuum füllen andere. Europa sollte sich dieser Realität stellen, um nicht immer wieder von ihr überrascht zu werden; dies aber nicht auf dem Weg zurück in die Machtspiele des 19. Jahrhunderts, sondern auf den Wegen des Völkerrechts und durch die Errichtung von und die Mitwirkung an Systemen gemeinsamer Sicherheit. Liegt aber nicht gerade das Völkerrecht am Boden? Wer glaubt noch an die UN-Charta? Christen glauben nicht an die Charta, sondern an Gott und die Macht der Nächstenliebe. Zu diesem Glauben aber gehört das Bekenntnis zu Menschenwürde und Menschenrecht und zur zivilisierenden Kraft des Völkerrechts. Die Gründe für dieses Bekenntnis werden in Hartwig von Schuberts zukunftsorientierter »Ethik politischer Gewalt« ausführlich erläutert.

Jahrzehnte des Krieges in Afrika, auf dem Balkan, am Golf und im Nahen Osten, Krieg in der Ukraine, Krieg in Mexiko, Krieg in Afghanistan. Die USA haben sich weltweit zurückgezogen, das Vakuum füllen andere. Europa sollte sich dieser Realität stellen, um nicht immer wieder von ihr überrascht zu werden; dies aber nicht auf dem Weg zurück in die Machtspiele des 19. Jahrhunderts, sondern auf den Wegen des Völkerrechts und durch die Errichtung von und die Mitwirkung an Systemen gemeinsamer Sicherheit. Liegt aber nicht gerade das Völkerrecht am Boden? Wer glaubt noch an die UN-Charta? Christen glauben nicht an die Charta, sondern an Gott und die Macht der Nächstenliebe. Zu diesem Glauben aber gehört das Bekenntnis zu Menschenwürde und Menschenrecht und zur zivilisierenden Kraft des Völkerrechts. Die Gründe für dieses Bekenntnis werden in Hartwig von Schuberts zukunftsorientierter »Ethik politischer Gewalt« ausführlich erläutert.

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Vorwort<br />

»<strong>Nieder</strong> <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> <strong>Krieg</strong>! <strong>Nieder</strong> <strong>mit</strong> der Regierung!« Neben anderem war es diese<br />

Doppelparole Karl Liebknechts am 1. Mai 1916 auf <strong>dem</strong> Potsdamer Platz in Berlin,<br />

die ihn und Rosa Luxemburg das Leben kosten sollte. Die Parole richtete<br />

sich gegen politische Gewalt, sie rief zugleich auf zu politischer Gewalt, zu Opfern<br />

politischer Gewalt sollten beide alsbald werden. Beider Ermordung löste<br />

eine bis in die Katastrophe des NS-Regimes fortwirkende Serie paramilitärischer<br />

Gewalt aus. Das Problem der Gewalt unter den Bedingungen moderner Staatenbildung<br />

ist bis heute hoch kontrovers und erfordert nach wie vor eine grundlegende<br />

theoretische Auseinandersetzung. Das soll diese Studie einlösen. Viele<br />

Menschen in Europa – nach zwei Weltkriegen sehr nachvollziehbar – lehnen<br />

Gewalt intuitiv ab, sie laufen da<strong>mit</strong> jedoch Gefahr, sich zu wenig für sie zu interessieren,<br />

sich ihr im Ernstfall hilflos auszuliefern und die Verwirklichung eigener<br />

Gewaltpotentiale nicht zu verantworten. Mit <strong>dem</strong> Begriff »politische Gewalt«<br />

soll die Ethik des Menschenrechts <strong>von</strong> ihrem problematischen, dunklen,<br />

scharfen, aber auch real wirksamen Ende her in den Blick genommen werden,<br />

da hier ihre Glaubwürdigkeit in besonders hohem Maße auf <strong>dem</strong> Spiel steht.<br />

Zu klären ist die Legiti<strong>mit</strong>ät politischer, insbesondere staatlicher Gewalt.<br />

Dazu wird Religion als Forum verstanden, in <strong>dem</strong> Menschen symbolische Ordnungen<br />

errichten, um sich in der Welt zu orientieren. In diesen kulturtheoretischen<br />

Rahmen werden zwei Linien eingezeichnet. Unter <strong>dem</strong> Stichwort »Macht<br />

und Literatur« werden biblische Stoffe vorgestellt, die ein Ethos erzählend abbilden<br />

und darin auch politische Erfahrungen verarbeiten. Unter »Macht und<br />

Wissenschaft« wird <strong>mit</strong> der politischen Philosophie eine zweite eher diskursiv<br />

argumentierende Linie gezogen. Nicht zuletzt die Korrespondenz dieser beiden<br />

sehr dynamischen Sphären symbolischer Ordnung hat das politische Denken<br />

durch seine Geschichte vorangetrieben.<br />

Vor <strong>dem</strong> Hintergrund einer solchen ideengeschichtlichen tour d’horizont soll<br />

auch die Komplexität des Gewaltbegriffs erschlossen werden. Zu unterscheiden<br />

sind beispielsweise auf der physischen Ebene »autotelische« und »instrumentelle«,<br />

auf der politischen Ebene »eigennützig-despotische« und »gewaltenteiligrepublikanische«<br />

Gewalt. Auch Liebknecht rief auf gegen den <strong>Krieg</strong> und zugleich


6<br />

Vorwort<br />

zum politischen Kampf, deshalb stellt sich die Aufgabe, politische Gewalt nicht<br />

zu tabuisieren, sondern einzuhegen und zu verantworten, den Kampf aufzunehmen,<br />

Konflikte auszutragen und zugleich kritisch zu ihnen auf Abstand zu gehen.<br />

Eben dazu befreit der kulturtheoretische Rahmen, er entlastet vom un<strong>mit</strong>telbaren<br />

Druck des Politischen und gibt Raum für eine Ethik politischer Gewalt,<br />

die insbesondere »den <strong>Krieg</strong> als Rechtsgang schlechterdings verdammt« (Kant).<br />

Was kann und soll die theoretische Auseinandersetzung leisten? Wissenschaftlich<br />

zu forschen, zu philosophieren, eine Weltanschauung zu entwickeln,<br />

Religion zu haben, all das bedeutet neben vielem anderen, seinen Horizont zu<br />

erweitern und diese Erweiterung in systematische Gedankenführungen übersetzt<br />

zu ver<strong>mit</strong>teln. Jene Erweiterungen aber drängen das Denken dazu, die<br />

Grenzen des Privaten zu überschreiten, sich <strong>mit</strong>zuteilen, praktisch zu werden,<br />

und dies öffentlich und verbindlich, kurz: politisch zu werden. Nun geht es alle<br />

an. Und spätestens jetzt bricht Streit aus, und bei wachsenden Ansprüchen eskaliert<br />

in diesem Streit die Gewalt. Der Inbegriff der Bemühungen, sich in Konflikten<br />

als Einzelner zusammen <strong>mit</strong> und stellvertretend für allen bedeutsamen<br />

Anderen zu behaupten und zu verantworten, ist die Politik. Sie stiftet dazu Bindungen<br />

und steigert deren normatives Niveau, also deren Verbindlichkeit, bis<br />

in die Sphären der Moral und des Rechts. Eines der wichtigen Mittel der Politik,<br />

wenn nicht ihr wichtigstes, ist die Rechtsgewalt als Staatsgewalt. Am Beispiel<br />

des Staates als Gewaltakteur <strong>mit</strong> Monopolanspruch wird deutlich, dass Politik<br />

niemals <strong>von</strong> außen oder <strong>von</strong> oben auf einen Konflikt einwirkt, sie ist immer Teil<br />

des Konfliktes, den sie zu bewältigen sucht. Sie kann der Gewalt nie entrinnen,<br />

sie hat sie zu verantworten, deshalb bedarf es im weiten Rahmen einer politischen<br />

Ethik einer noch einmal konzentriert auf Staatlichkeit ausgerichteten<br />

Ethik politischer Gewalt. Auf der einen Seite steht die Erwartung, dass Staaten<br />

für die Menschen eigentlich die Lösungen großer Probleme bieten sollen. Tatsächlich<br />

aber stellen sie weltweit das alles überragende Problem des Politischen<br />

dar und können geradezu zum Fluch werden. Angesichts dieser Ambivalenz ist<br />

der lebendige Streit um die Bindung des Staates an ein wohlbegründetes Recht<br />

ein Gebot der Vernunft im Prozess politischer Willensbildung im säkularen<br />

Raum und in den Kirchen der Indikator für ihre Treue zum Gebot Gottes im Feld<br />

des Politischen.<br />

Aufgabe der Ethik ist es, in Konflikten allzu selbstgewisse Schritte zwischen<br />

Denken und Handeln und zur Etablierung <strong>von</strong> Bindungen zu unterbrechen, zu<br />

verlangsamen und zu begutachten. Handeln wir vernünftig? Gehen Staaten und<br />

Politiker vernünftig um <strong>mit</strong> der Gewalt? »Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt<br />

schwankt sein Charakterbild in der Geschichte.« 1 Das gilt auch für Parteinahmen<br />

in der Gegenwart; »die Politik« – eine Redeweise, als handele es sich<br />

dabei um eine Personengruppe – ist ebenso schnell bejubelt wie verdammt.<br />

Selbst aber verantwortlich politisch zu handeln, führt in den Konflikt, in das<br />

Risiko des Scheiterns und der Schuld. Die Ethik repräsentiert auch im politi-<br />

1<br />

Schiller (1800): Wallenstein, 273.


Vorwort 7<br />

schen Kampf wie alle Wissenschaft das Denken im Handeln und das Handeln<br />

im Denken und ebenso das Allgemeine im Einzelnen und das Einzelne im Allgemeinen.<br />

Wie soll sie das leisten? Schon über die hier avisierten zentralen Begriffe<br />

– Ethik, Moral, Politik, Recht, Religion, Wissenschaft – herrscht wenig<br />

Einigkeit. Eine Ethik politischer Gewalt ist da<strong>mit</strong> ohne gründliche Einleitungen<br />

in die jeweiligen Begriffsbildungen nicht möglich. Das gilt umso mehr, als diese<br />

Fragen am wenigsten in aka<strong>dem</strong>ischen Elfenbeintürmen verhandelt werden,<br />

meistens stellen sie sich im Kampf, im Kampf um Freiheit, um Gerechtigkeit,<br />

im Kampf um <strong>Krieg</strong> und Frieden, im Kampf <strong>von</strong> Menschen ums Überleben.<br />

Der hier<strong>mit</strong> avisierte erhebliche theoretische Aufwand dieser Studie soll<br />

dazu dienen, politisch wache Zeitgenossen in ihrer ethischen Urteilsbildung zu<br />

stärken und dies <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> besonderen Augenmerk auf den Staat und auf staatliche<br />

Gewalt. Im Rückblick auf den <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> »letzten deutschen <strong>Krieg</strong>« (Rolf-Dieter<br />

Müller) verbundenen Zivilisationsbruch und angesichts der aktuellen Forderung,<br />

Deutschland solle künftig politisch und militärisch mehr Verantwortung<br />

in der Welt übernehmen, sollten unter anderem die verheerenden Erfahrungen<br />

des 20. Jh. gründlich studiert werden, die sich niemals wiederholen dürfen.<br />

Eineinhalb Jahrzehnte habe ich als Militärdekan an der Führungsaka<strong>dem</strong>ie<br />

der Bundeswehr in Hamburg gearbeitet. 2 Schon allein durch den Einsatz ihrer<br />

Seelsorge tragen die beiden großen Kirchen in Deutschland ihren Anteil »Legiti<strong>mit</strong>ät«<br />

in die Streitkräfte. Ist das, und wenn ja, wie zu verantworten? Es sind<br />

Soldaten gewesen, Männer und Frauen, die große Verantwortung in <strong>dem</strong> höchst<br />

problematischen Bereich bewaffneter Massenkonflikte tragen, die mich durch<br />

ihre kritischen Fragen zur Theorie getrieben haben. Die Kirchen und die theologisch-ethische<br />

Theoriebildung haben die Wahl, sie können die Akteure dabei<br />

allein lassen oder sie in ihrem Nachdenken ermuntern, bestärken und kritisch<br />

begleiten. Ich befürworte Letzteres und will <strong>mit</strong> dieser Arbeit dazu einen Beitrag<br />

leisten. Gewalt ist zu wichtig, als sie einfach in die operative Verantwortung <strong>von</strong><br />

»Gewaltexperten« abzuschieben. Eine Kritik politischer Gewalt bedarf allerdings<br />

eines theoretischen Rahmens. Das regulative Ideal des Gerechten Friedens<br />

und das Programm einer Ethik rechtserhaltender Gewalt bieten einen solchen<br />

Rahmen. 3<br />

2<br />

Mit dieser Studie lege ich u.a. Rechenschaft ab über 15 Jahre Mitarbeit in Forschung<br />

und Lehre in politischer Ethik an der Führungsaka<strong>dem</strong>ie der Bundeswehr in Hamburg.<br />

In den eher knappen Formaten der Stabsoffizierlehrgänge dürfte etwa die Hälfte aller<br />

Absolventen, also ca. 4.500 Hauptleute und Kapitänleutnante und teilweise überlappend<br />

in den anschließenden zweijährigen Admiralstabs- / Generalstabslehrgängen alle ca.<br />

1.500 Korvettenkapitäne und Majore und ihre Tutoren meinen Abriss einer politischen<br />

Ethik <strong>von</strong> ihren antiken Anfängen bis in die Gegenwart intensiv kennengelernt haben.<br />

Zusammen <strong>mit</strong> anderen Dienstgraden waren das ca. 6.000 Soldatinnen und Soldaten.<br />

3<br />

Wer Heinz Eduard Tödt, Wolfgang Huber und Hans-Richard Reuter in der Tradition<br />

<strong>von</strong> Barth und Bonhoeffer als »Heidelberger Schule« bezeichnen möchte, mag diese Studie<br />

gerne dort <strong>mit</strong> einzeichnen. Gleichwohl soll auch die auf den Münsteraner Heinz<br />

Dietrich Wendland zurückgehende Tradition der »Münchner Schule« hier einbezogen


8<br />

Vorwort<br />

Vielen Menschen schulde ich Dank. Der erste gilt meinen Kindern. Sie lehren<br />

mich Dinge, die mich sonst niemand lehrt, und bringen mich in Verlegenheiten,<br />

die mir sonst entgingen. Ich danke meiner Frau Martina Fischer-<br />

Klepsch, die mir Raum gegeben hat für diese Studie, und Frank Rutkowsky, <strong>mit</strong><br />

<strong>dem</strong> mich Jahrzehnte der Freundschaft und des fachlichen Austauschs verbinden<br />

sowie Volker Stümke für die theologische Wegbegleitung in den Jahren an<br />

der Führungsaka<strong>dem</strong>ie und bis heute. Stellvertretend für die Offiziere, <strong>mit</strong> und<br />

<strong>von</strong> denen ich gelernt habe, danke ich Marcel Bohnert, Reinhard Dietrich†, Oliver<br />

Gerhardt, Falk Grundschok, Uwe Hartmann, Henning Klement, Robert Kühner,<br />

Frank Leidenberger, Matthias Rogg, Karl Heinz Schreiner, Thorsten Schütz,<br />

Lennart v. Souchon, Carsten Stawitzki, Henning Straus, Michael Strunk, Rolf v.<br />

Uslar, Ulrich Weber, Hannes Wendroth und Klaus Wittmann; ebenfalls danke<br />

ich den Juristen Peter Dreist, Anna Gebhardt, Wolfgang Haager, Gerd Hankel,<br />

Oskar v. Lepel†, Stefan Oeter und Sebastian Roßner. Stellvertretend für viele<br />

weitere Wegbegleiter danke ich Sebastian Borck, Sven Findeisen, Michael Haspel,<br />

Jürgen Hübner, Otto Michel†, Bernhard Moltmann, Klaus Naumann, Hans-<br />

Richard Reuter, Dietrich Ritschl†, Jörn Thießen, Wolfgang Vogelmann, Martin<br />

C. Wolff und ganz besonders Enno Rudolph für die Zugänge zur Philosophie in<br />

meinen Heidelberger Jahren <strong>von</strong> 1987 bis 1991 sowie den Gutachtern Christoph<br />

Seibert und Friedrich Lohmann und den Mitgliedern des Habilitationsausschusses<br />

des Fachbereichs Evangelische Theologie der Universität Hamburg. Mein<br />

Gedenken geht auch an meinen Vater Karl <strong>von</strong> <strong>Schubert</strong>† und meinen Onkel<br />

Klaus <strong>von</strong> <strong>Schubert</strong>†, die mich angestoßen und mir den Weg geebnet haben,<br />

aka<strong>dem</strong>isch zu arbeiten.<br />

werden: Wolfhard Pannenberg, Trutz Rendtorff, Friedrich Wilhelm Graf, Reiner Anselm.<br />

Beide Schulen unterscheiden sich in »der Betonung, worin primär eine <strong>dem</strong>okratische<br />

Freiheitsordnung ihre Stabilität finden kann: in der Verteidigung ihrer grundrechtsgestützten<br />

Verfassungsordnung (»München«, HvS) oder in der umfassenden Demokratisierung<br />

aller Lebensverhältnisse (»Heidelberg«, HvS)« [Polke (2013): Protestantische Ethik<br />

und Demokratie, 188; vgl. die Typisierung in ein liberalkonservatives München, ein<br />

linksliberales Heidelberg und – als dessen Ableger? – ein antikapitalistisch-antiimperialistisches<br />

Genf bei Kalinna (2019): Die öffentliche Verantwortung einer Kirche für gerechten<br />

Frieden]. Die Verteidigung der Freiheitsordnung steht m.E. nicht im Gegensatz<br />

zu ihrer offensiven Ausbreitung und Durchsetzung. Viel wichtiger als diese Nuancen in<br />

der Intonation ist überhaupt die Rekapitulation der ideellen Grundlagen dieser Freiheitsordnung,<br />

denn anders können die Folgerungen des Freiheitsbegriffs für Recht, Staatlichkeit<br />

und internationale Ordnungen im Sinne einer <strong>dem</strong> Vernunftrecht unterworfenen<br />

Gewaltmonopolisierung und -regulierung weder defensiv noch offensiv entwickelt werden.<br />

Für die Legiti<strong>mit</strong>ät politischer Gewalt ist dies elementar. Insbesondere Trutz Rendtorff<br />

kann nicht hoch genug angerechnet werden, dass er als Vorsitzender der Kammer<br />

für Öffentliche Verantwortung der EKD ab 1980 seinen Kurs in der Hitze der Kontroversen<br />

um Antworten auf drängende politischer Herausforderungen dennoch beharrlich<br />

und am Ende erfolgreich beibehielt, nämlich in Richtung auf »die positive Würdigung<br />

des <strong>dem</strong>okratischen Verfassungsstaates als politische Form und rechtliche Institutionalisierung«<br />

[Heinig (2017): Die Entstehung der Demokratiedenkschrift, 54].


Inhaltsverzeichnis<br />

1 Einleitung ..................................................................... 11<br />

1.1 Anlass und Zweck, Ergebnis und Anlage der Studie .......... 12<br />

1.1.1 Anlass und Zweck .................................................................. 12<br />

1.1.2 Ergebnis und Anlage der Begründung ................................ 25<br />

1.2 Kultur- und religionstheoretischer Rahmen ....................... 35<br />

1.2.1 »Religion«: Forum symbolischer Kommunikation .............. 36<br />

1.2.2 »Ethik«: die Kunst moralisch und rechtlich zu urteilen ...... 64<br />

1.2.3 »Politik«: auf der Suche nach <strong>dem</strong> besseren Staat ............. 84<br />

1.2.4 »Ethische Theologie«: Geltung aus Glaubenserfahrung .. 103<br />

2 Herausforderungen politischer Ethik ....................... 111<br />

2.1 »Modernität«: Wie zivilisiert ist die Menschheit? ............ 113<br />

2.1.1 Massenwohlstand und Massenverelendung ..................... 114<br />

2.1.2 Menschwerdung und Zivilisationsprozess ......................... 122<br />

2.2 »Universität«: Der europäische Sonderweg ..................... 124<br />

2.2.1 Voraussetzungen des europäischen Sonderweges ........... 124<br />

2.2.2 Scholastik und Renaissance ................................................ 129<br />

2.3 »Globalität«: Selbstbefreiung und Selbstgefährdung ..... 134<br />

2.3.1 Die Vermessung der Welt ................................................... 134<br />

2.3.2 Die Revolution der Wissenschaften ................................... 138<br />

2.3.3 Das liberale Versprechen und sein Schicksal ..................... 140<br />

3 Religion als Forum des Politischen ........................... 148<br />

3.1 Christus als König: eine politische Metapher ................... 149<br />

3.1.1 Rechtsidee, Feindesliebe und Gütergemeinschaft ............ 153<br />

3.1.2 Ein Reich nicht <strong>von</strong> dieser Welt .......................................... 158<br />

3.1.3 Die Frau, der Drache und das Kind .................................... 162<br />

3.2 Die Staaten Gottes: Politik in Röm 13 ............................... 166<br />

3.2.1 Röm 13 im Römerbrief und im Neuen Testament ............ 167<br />

3.2.2 Zur Exegese <strong>von</strong> Röm 13, 1-7 .............................................. 169<br />

3.2.3<br />

3.2.4<br />

Zum Politischen im Kontext paulinischer Briefe ............... 174<br />

Systematische Auswertung ................................................. 179


10<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

4 Symbolische Ordnungen des Politischen ................. 186<br />

4.1 Antike Ursprünge: Jerusalem und Athen .......................... 187<br />

4.1.1 Prophetie in Jerusalem: Macht und Literatur .................... 190<br />

4.1.2 Philosophie in Athen: Macht und Wissenschaft ................ 204<br />

4.2 Kant: der Republikanismus und die Republik der<br />

Republiken ........................................................................... 224<br />

4.2.1 Aufklärung über die Aufklärung ....................................... 226<br />

4.2.2 Rechtsphilosophie ............................................................... 236<br />

4.2.3 Staatsphilosophie ................................................................ 250<br />

4.2.4<br />

4.2.5<br />

Vom ewigen Frieden ........................................................... 265<br />

Politische Urteilskraft .......................................................... 278<br />

5 Christliche Ethik des Politischen ............................... 291<br />

5.1 Ethische Theologie und politische Gewalt ........................ 292<br />

5.1.1 Religion und Politik in der Geschichte des Christentums . 292<br />

5.1.2 Ethische Theologie in der christlichen Glaubenslehre ...... 314<br />

5.1.3<br />

5.1.4<br />

Das christliche Ethos in der Politik ..................................... 329<br />

Glaube und politische Einbildungskraft ............................ 349<br />

5.1.5 Die Politik und das Böse ..................................................... 362<br />

5.2 Theologische Ethik in Fragen militärischer Gewalt .......... 371<br />

5.2.1 Macht und Herrschaft ......................................................... 375<br />

5.2.2 Staatliche und militärische Gewalt .................................... 393<br />

5.2.3 Ius Contra Bellum: Rechtsgewalt für den Frieden ............. 426<br />

5.2.4 Humanitäres Völkerrecht bewaffneter Konflikte ............. 442<br />

5.2.5 Konfliktszenar und ethisches Urteil ................................... 455<br />

5.3 Resümee und pastoraltheologisches Finale ...................... 483<br />

6 Literatur ...................................................................... 492


1 Einleitung<br />

»Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu<br />

müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist<br />

das nicht mein Land.« Angela Merkel, Deutsche Bundeskanzlerin, am 15. September<br />

2015 in Berlin.<br />

»Deshalb muss ich noch sagen: Dass man <strong>mit</strong> westlichen Ideen auch mal verlieren<br />

kann, stimmt, deshalb sind sie trotz<strong>dem</strong> nicht falsch.« Sigmar Gabriel, Deutscher<br />

Außenminister, am 9. März 2017 in Moskau.<br />

In den Zitaten betonen eine Politikerin und ein Politiker 4 , sie müssten »ganz<br />

ehrlich« etwas »noch sagen«, nämlich wofür ihre Politik steht. Das sollten sie<br />

öfter tun. Gewiss, sie müssen an die Macht kommen, an der Macht bleiben, sie<br />

verteidigen und organisieren, das fordert Energie, also wofür eigentlich? Was ist<br />

Idee, Sinn und Zweck <strong>von</strong> Politik? Politik soll Probleme lösen, Not lindern, Wohlstand<br />

sichern, das Klima retten, den <strong>Krieg</strong> abschaffen, durch eine Pan<strong>dem</strong>ie führen<br />

und alles gleichzeitig? Wie spricht man über den Sinn <strong>von</strong> Politik und wie<br />

bestimmt dieser Sinn ihre Mittel? Sinn und Grenzen politischer Macht und Gewalt<br />

sind das Thema dieser Studie. Sie setzt dabei vor allem auf zwei Disziplinen:<br />

die Philosophie und die Theologie, nach Bedarf werden die Politik- und<br />

Rechtswissenschaften und die historische Soziologie hinzugezogen. 5<br />

4<br />

Wenn angemessen und sinnvoll, wähle ich nur eine Form. Das grammatische Genus<br />

kann einerseits der Differenz männlich/weiblich/sächlich zugeordnet sein, stabilisiert<br />

darüber hinaus aber syntaktische Verbindungen unabhängig vom biosoziokulturellen<br />

Genus, es erlaubt in Sätzen <strong>mit</strong> mehreren Referenzen die Zuordnung der Satzteile. Sind<br />

<strong>mit</strong> Nomina – der Arzt, das Individuum, die Person – keine konkreten Personen gemeint,<br />

dann handelt es sich um Abstrakta, dann reicht eine Form, das erleichtert den Sprachfluss<br />

und setzt die Aufmerksamkeit frei für die Fülle <strong>von</strong> Notationen einer Aussage.<br />

5<br />

Der zentralen Rolle ökonomischer Aspekte wird in Abschnitt 4.2.2. Rechtsphilosophie<br />

Rechnung getragen <strong>mit</strong> der Erörterung des Eigentumsbegriffs bei Kant. Kant geht<br />

bewusst nicht vom Öffentlichen Recht zum Privatrecht, sondern beginnt beim individuellen<br />

Menschenrecht auf Eigentum im Sinne des inneren und des äußeren Mein und Dein


12<br />

1 Einleitung<br />

1.1 Anlass und Zweck, Ergebnis und Anlage der<br />

Studie<br />

1.1.1 Anlass und Zweck<br />

1. Der politische Kampf: Nie tritt uns das Politische als ein großes Ganzes direkt<br />

gegenüber, vielmehr sind es die Schicksale Einzelner und in diesen Schicksalen<br />

einzelne Momente, die wir zu Gesamtbildern zusammenfügen:<br />

»2. Mai, Donnerstag: [...] Am Dienstagmorgen, ohne alle vorherige Ankündigung –<br />

<strong>mit</strong> der Post zugestellt zwei Blätter: a) Ich habe auf Grund <strong>von</strong> § 6 des Gesetzes zur<br />

Wiederherstellung des Berufsbeamtentums [...] Ihre Entlassung vorgeschlagen. Entlassungsurkunde<br />

anbei. Der kommissarische Leiter des Ministeriums für Volksbildung.<br />

b) »Im Namen des Reiches« die Urkunde selber, unterzeichnet <strong>mit</strong> einer Kinderhandschrift:<br />

Martin Mutschmann. Ich telefonierte die Hochschule an; dort hatte<br />

man keine Ahnung. Göpfert, der Kommissar, gibt sich nicht da<strong>mit</strong> ab, das Rektorat<br />

um Rat zu fragen. Erst war mir abwechselnd ein bißchen betäubt und leicht romantisch<br />

zumut; jetzt ist nur die Bitterkeit und Trostlosigkeit fühlbar. Meine Lage wird<br />

und insofern beim Privatrecht als Abwehrrecht gegen den Staat und entwickelt <strong>von</strong> dort<br />

das Öffentliche Recht. Bei der Entfaltung des Öffentliche Rechts konzentriere ich mich<br />

auf die Funktion des Staates als Gewaltmonopolisten und dort auf das Problem der Regulierung<br />

bewaffneter Massengewalt. Was die Thematisierung weiterer politischer, wirtschaftlicher,<br />

sozialer und kultureller Dynamiken betrifft, die <strong>von</strong> der Gewaltmonopolisierung<br />

erfasst werden sollen, so gibt es eine große Zahl <strong>von</strong> Institutionen, die dazu qualifizierte<br />

Beiträge liefern, ich nenne nur die International Crisis Group; https://www.crisisgroup.org<br />

sowie das European Council on Foreign Relations; https://ecfr.eu. Mein Projekt<br />

ist auch weniger die Frage wie, als weshalb Politik am besten rechtsstaatlich verfasst<br />

sein soll und warum sie u.a. auf ökonomische Spannungen wie die zwischen den Erfolgen<br />

und den Abgründen des Kapitalismus, die ich im zweiten Kapitel so klar wir knapp thematisiere,<br />

souverän reagieren können soll. Wer die Funktion des Staates und der Staatengemeinschaft<br />

im Kontext politischer Ökonomie ethisch reflektieren möchte, sollte Ulrich<br />

(2008 4 ): Integrative Wirtschaftsethik, dort insbesondere die Ausführungen zu den<br />

Wirtschaftsbürgerrechten, 313-426, konfrontieren <strong>mit</strong> Piketty (2008): L’économie des inégalités;<br />

Wolff (2012): Democracy at Work; Wolff / Resnick (2012): Contending Economic<br />

Theories; Mason (2016 2 ): Postkapitalismus; Wolff (2016): Capitalism’s Crisis Deepens;<br />

Haskel / Westlake (2017): Capitalism without Capital; Jackson (2017 2 ): Wohlstand ohne<br />

Wachstum; Piketty (2019): Capital et Idéologie; Pistor (2019): The code of capital. Wurde<br />

einst das Privatrecht als Abwehrrecht des Individuums gegen den Staat konzipiert, um<br />

so das Öffentliche Recht und <strong>mit</strong> ihm das Völkerrecht zu bestimmen, so ist es heute, und<br />

zwar international, als Abwehrrecht sowohl der Individuen als auch ihrer Staaten gegen<br />

das entfesselte Kapital zu reformulieren.


1.1 Anlass und Zweck, Ergebnis und Anlage der Studie 13<br />

eine überschwere. Bis Ende Juli soll ich noch das Gehalt bekommen, die 800 M, <strong>mit</strong><br />

denen ich mich so quäle, und danach eine Pension, die etwa 400 betragen wird«. 6<br />

Jedermann sollte damals bald erleben, was auf diese Vorgänge in Deutschland,<br />

Europa und der Welt folgte. Wer anfangs noch geglaubt hat, er bliebe verschont,<br />

hätte besser erkennen sollen: Der <strong>Krieg</strong> der Nationalsozialisten gegen die Juden<br />

war Zentrum eines <strong>Krieg</strong>es gegen jeden freien Bürger. Wo stehen wir heute?<br />

»Democracy and pluralism are under assault. Dictators are toiling to stamp out the<br />

last vestiges of domestic dissent and spread their harmful influence to new corners<br />

of the world. At the same time, many freely elected leaders are dramatically narrowing<br />

their concerns to a blinkered interpretation of the national interest. In fact, such<br />

leaders—including the chief executives of the United States and India, the world’s<br />

two largest <strong>dem</strong>ocracies—are increasingly willing to break down institutional safeguards<br />

and disregard the rights of critics and minorities as they pursue their populist<br />

agendas. As a result of these and other trends, Freedom House found that 2019<br />

was the 14th consecutive year of decline in global freedom. The gap between setbacks<br />

and gains widened compared with 2018, as individuals in 64 countries experienced<br />

deterioration in their political rights and civil liberties while those in just 37<br />

experienced improvements. The negative pattern affected all regime types, but the<br />

impact was most visible near the top and the bottom of the scale. More than half of<br />

the countries that were rated Free or Not Free in 2009 have suffered a net decline in<br />

the past decade.« 7<br />

Diese Einschätzung ließe sich durch Millionen <strong>von</strong> Einzelschicksalen belegen.<br />

Um nur ein Land herauszugreifen: Nach ca. 400.000 Toten und 12 Mio. Vertriebenen<br />

seit 2011 und im Oktober 2019 erneut fast 70.000 Kindern auf der Flucht<br />

im Norden Syriens 8 kann niemand ernsthaft behaupten, in den letzten Jahren<br />

dort praktisch oder wenigstens theoretisch zu einer befriedigenden Lösung<br />

wirksam beigetragen zu haben, am wenigsten der syrische Staat selbst, aber<br />

auch externe Akteure nicht. Und wer Syrien für eine extreme Ausnahme hält,<br />

kann sich über das anhaltend hohe <strong>Krieg</strong>sgeschehen auf der Erde <strong>mit</strong> <strong>dem</strong><br />

Schwerpunkt auf innerstaatlichen bewaffneten Konflikten ebenfalls leicht anhand<br />

einschlägiger Quellen informieren. 9 Und selbst dort, wo keine akute be-<br />

6<br />

Klemperer (1995 4 ): Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten I, 195 f. (Eintrag vom 2.<br />

Mai 1935).<br />

7<br />

Repucci (2020): A Leaderless Struggle for Democracy, 1; vgl. die ein Jahrzehnt zuvor<br />

erstellte Analyse: Brozus / Schröder (2011): Autoritäre Regime.<br />

8<br />

https://www.unicef.de/informieren/aktuelles/presse/2019/nord-syrien-kinder-aufder-flucht/201816<br />

[31.10.2019].<br />

9<br />

https://hiik.de/konfliktbarometer/aktuelle-ausgabe [04.11.2020]. Im Jemen starben<br />

in 2018 ca. 30.000 Menschen, und 2 Mio. galten als Binnenvertriebene; vgl. Ausgabe<br />

2018, 186. Um die Intensität eines Konfliktes zu bestimmen, reichen die Zahlen der


14<br />

1 Einleitung<br />

waffnete Massengewalt herrscht, sind Milliarden <strong>von</strong> Menschen Opfer staatlicher<br />

Willkür oder staatlicher Ohnmacht. 10 Die Ratlosigkeit und der Fatalismus<br />

angesichts dieser Lage 11<br />

sollten eigentlich jedermann überzeugen, dass eine<br />

gründliche theoretische Befassung <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Problem <strong>von</strong> Gewalt im Inneren wie<br />

im Äußeren auch in unseren Tagen alles andere als ein Luxus ist. Denn dieses<br />

Problem ist nicht irgendeines unter vielen politischen Problemen; die Lösung<br />

dieses Problems ist vielmehr die Voraussetzung dafür, überhaupt politisch wirksam<br />

handeln zu können. Das Problem der Gewalt ist in allen sogenannten »großen<br />

Fragen der Zeit« virulent. Deren Konjunkturen lösen einander ab, vor noch<br />

nicht langer Zeit waren dies die Blockkonfrontation samt nuklearer Aufrüstung,<br />

die Dekolonisierungskriege, das Bevölkerungswachstum, die Erschöpfung der<br />

Ressourcen, der Welthunger, die Krisen der Weltwirtschaft; längst hinzugekommen<br />

sind der Terrorismus, der Aufstieg eines autokratischen, in Phasen immer<br />

wieder totalitären China, die Digitalisierung, der Klimawandel, die Massenmigration,<br />

aktuell eine Pan<strong>dem</strong>ie, generell die Menschheitsfrage, wie »globale öffentliche<br />

Güter« zu schützen sind. Solche knappen Zeitdiagnosen drängen zum<br />

Handeln und machen es <strong>dem</strong> Denken, insbesondere <strong>dem</strong> ethischen Denken,<br />

nicht leicht. Man möchte schnell etwas tun. Ohne gründliches Nachdenken aber<br />

muss jedes Handeln unweigerlich im Strudel der Konflikte untergehen. Deshalb<br />

ist die Klärung grundlegender Einleitungsfragen einer Ethik politischer Gewalt<br />

insbesondere im Blick auf die Rolle und Funktionsfähigkeit <strong>von</strong> Staaten für die<br />

Bewältigung der genannten Konflikte unverzichtbar.<br />

Um es gleich an einem der zentralen Begriffe einer Ethik politischer Gewalt<br />

zu veranschaulichen, am Begriff der Macht. Wer soll die Macht bekommen,<br />

seine Meinung im politischen Kampf durchzusetzen? Der vorstehenden Zeitdiagnose<br />

kann man zum Beispiel leicht Alarmismus vorwerfen. Denn gewiss eskaliert<br />

nicht jede »Klimaschwankung« zur »Klimakatastrophe«, nicht jede »Epi<strong>dem</strong>ie«<br />

zur »Pan<strong>dem</strong>ie« und nicht jeder »Konflikt« zum »<strong>Krieg</strong>«. Wer also<br />

bestimmt, dass wir in einer Krise sind? Der Konflikt im Kampf um Macht, hier<br />

also um Deutungsmacht, gehört zum Wesen des Politischen. Und jeder wird sich<br />

<strong>Krieg</strong>stoten und -vertriebenen nicht aus, andere Charakteristika wie Anzahl der Beteiligten<br />

und Grad der Bewaffnung und Zerstörungen treten hinzu; vgl. a.a.O. 6ff.); vgl. das<br />

englischsprachige Pendant: https://www.crisisgroup.org/crisiswatch [04.11.2020]. Neben<br />

den <strong>Krieg</strong>en in Syrien und <strong>dem</strong> Jemen muss auch der <strong>Krieg</strong> in Libyen genannt werden.<br />

Das gesamte östliche Mittelmeerbecken ist derzeit Aufmarschgebiet <strong>von</strong> Truppen<br />

diverser Regionalmächte. Wer gezielt aktuelle Länderberichte sucht, wird fündig – allerdings<br />

auf Englisch – im oben zitierten Heidelberger Konfliktbarometer.<br />

10<br />

2018 lebten laut Demokratie-Index des Economist nur 4, 5% der Weltbevölkerung in<br />

vollständigen Demokratien, 43, 2% wenigstens in unvollständigen Demokratien; also<br />

etwas mehr als die Hälfte lebte in Hybridregimen oder Autoritären Regimen; vgl.<br />

http://pages.eiu.com/rs/753-RIQ-438/images/Democracy_Index_2018.pdf<br />

[04.11.2020].<br />

11<br />

Vgl. die Belege bei Kleine-Brockhoff (2019): Die Welt braucht den Westen, 4f. Anm.<br />

4+5.


1.1 Anlass und Zweck, Ergebnis und Anlage der Studie 15<br />

so oder so eine Meinung bilden. Man behaupte also erstens nicht, über jegliche<br />

Macht erhaben zu sein, und schaue zweitens auf die eigenen Machtkämpfe, bevor<br />

sie eskalieren. Die Meinungsfreiheit führt in den Meinungskampf. Niemand<br />

sollte sich wundern, dass menschlicher Freiheits- und Entfaltungsdrang immer<br />

in Konflikte führt, auf Widerstand, zuweilen sogar auf massive Feindschaft<br />

stößt. Denn erstens schränkt die Freiheit jedes Menschen die Freiheit aller anderen<br />

ein, sie fordert einen wechselseitigen Verzicht; und den zu erbringen,<br />

kostet Überwindung. Mal gewinnen die einen, mal die anderen. Und darüber<br />

hinaus gibt es die prinzipiellen Feinde und Verächter der Freiheit anderer, sie<br />

beanspruchen maximale Freiheit für sich und das alleinige Recht zu bestimmen,<br />

was gilt und was recht ist. Und <strong>mit</strong> der Usurpation dieses Rechtes beanspruchen<br />

sie nicht nur die Gewalt über dieses oder jenes, sondern die Macht und Entscheidungsgewalt<br />

über den Ausnahmezustand, ergo die Gewalt über die Gewalt über<br />

alles, sie lassen die Politik hinter sich und erklären den Bürgern den totalen<br />

<strong>Krieg</strong>. Diese Regierungsform trägt den Namen Despotismus. Dort ist die Gesellschaft<br />

Eigentum des Staates, in der Republik ist es umgekehrt. Freiheit ist folglich<br />

ohne Kampf gegen den Despotismus nicht zu haben.<br />

Daraus folgt aber nicht, Despotie könne nur gegen Despotie ausgetauscht<br />

werden. Wer so dächte, müsste den <strong>Krieg</strong> für das Mittel der Rechtsfindung halten.<br />

Um diesem verhängnisvollsten aller politischen Irrtümer entschlossen entgegenzutreten,<br />

einigen sich die Kämpfer für die prinzipiell gleiche Freiheit aller<br />

darauf, das Recht aller auf Rechte sowohl anzuerkennen als auch ihm zur Herrschaft<br />

zu verhelfen. Denn auch sie, oder besser: wir streben nach Macht. Wir –<br />

und dieses Wir ist hier appellativ-programmatisch, nicht ideologisch selbstermächtigend<br />

oder selbstlobend oder vereinnahmend gemeint – beschließen eine<br />

gerechte Verfassung, die das Recht aller auf Rechte für unantastbar erklärt und<br />

auf ewig stellt und da<strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Kampf ein für alle Mal entzieht. Unsere Regierungsform<br />

trägt den Namen Republikanismus. Und im Machtstreben der Republik<br />

stehen Interessen und Prinzipien einander nicht entgegen, sondern das republikanische<br />

Prinzip der Gewaltenteilung gibt auch sehr gegensätzlichen Interessen<br />

Raum, ver<strong>mit</strong>telt sie und setzt ihnen gemeinsame Grenzen. Nichts liegt<br />

mehr im Interesse der Republik als republikanische Prinzipientreue.<br />

Die Advokaten der Despotie können nun gegen den Republikanismus eine<br />

Doppelstrategie verfolgen. Sie können den Gründungsakt einer freiheitlich <strong>dem</strong>okratischen<br />

Grundordnung ebenfalls als arroganten und usurpatorischen Gewaltakt<br />

einer selbsternannten Elite diffamieren, insbesondere in<strong>dem</strong> sie auf die<br />

darin angelegte Gewaltmonopolisierung verweisen und darauf spekulieren, dass<br />

manifeste Gewalt den Republikanismus delegitimiere. Der Republikanismus<br />

kann sich zwar bei der Aufrichtung einer republikanischen Verfassung noch<br />

nicht auf dieselbe gründen, niemand kann einen Rechtsweg beschreiten, wenn<br />

dieser noch gar nicht gebahnt ist. Der Gründungsakt ist aber auf das Innenverhältnis<br />

der Republik beschränkt; die Legiti<strong>mit</strong>ät republikanischer Konstitutionen,<br />

auch die einer Republik der Republiken, ruht auf friedlichem Einvernehmen, Gewalt<br />

als Mittel zur Gründung der Rechtsgemeinschaft ist abgeschafft. Da diese aber


16<br />

1 Einleitung<br />

Recht setzt, ist <strong>mit</strong> jener gewaltfreien Konstitution sogleich verfügt, die Legislation,<br />

Jurisdiktion und Exekution des Rechts erlaube durchaus den Einsatz geeigneter,<br />

erforderlicher und angemessener Mittel rechtserhaltender Gewalt, und<br />

sei es die einer Stimmenmehrheit. Wenn ein Mensch auch nur einem einzigen<br />

Rechtsgenossen zu nahe kommt und ihm das Recht etwa der freien Meinungsäußerung<br />

nimmt, so wird er notfalls gezwungen, da<strong>von</strong> abzulassen. Er wird entweder<br />

zum Beitritt in die Rechtsgemeinschaft gezwungen oder <strong>mit</strong> Gewalt daran<br />

gehindert, sich in ihrer Sphäre frei aufzuhalten. Der nach wie vor unausweichliche<br />

Kampf um die Freiheit, um die Absicherung des Rechtsweges und einzelne<br />

Rechte verlagert sich dabei unter <strong>dem</strong> Schutz der Verfassung weg <strong>von</strong> den<br />

Schlachtfeldern und Grenzbefestigungen hin auf die Parlamente, Gerichte und<br />

Organe der Staaten und auf die Gremien, Gerichte und Vollzugsorgane der Völkerrechtsgemeinschaft.<br />

Sogar die Gegner der Republik sind eingeladen, in <strong>dem</strong><br />

derart zivilisierten politischen Kampf für ihre Interessen zu streiten. Hier setzt<br />

die zweite Strategie des Despotismus an, er geht unter Vortäuschung einer republikanischen<br />

Gesinnung den langen Marsch durch die Institutionen, um sich<br />

nach Erringung der Mehrheit die Staatsorgane, insbesondere die Führung der<br />

Streitkräfte gefügig zu machen, die republikanisch verfasste Ordnung zu stürzen<br />

und durch ein despotisches Regime zu ersetzen. 12 Gegen diese Doppelstrategie<br />

gilt es sich zu wappnen. Und die wichtigste Waffe des Republikanismus<br />

ist die öffentliche, diskursive Festigung der in den vorstehenden Absätzen skizzierten<br />

Argumentation im Ringen um die politische Seele jedes einzelnen Bürgers,<br />

insbesondere jedes Amtsträgers hoheitlicher Gewalt.<br />

2. Stellung nehmen im politischen Kampf: Der Entfaltung, Vertiefung und Schärfung,<br />

vor allem der Entwicklung und Begründung der vorstehenden Argumentation<br />

dient die vorliegende Studie. Denn der Republikanismus in Gestalt der<br />

liberalen Demokratie muss stets zweierlei leisten, zum einen Politik planen und<br />

gestalten und zum anderen Politik legitimieren. Anders als der Despotismus<br />

kann er die Zustimmung für seine Politik nicht erschleichen oder erpressen,<br />

sondern muss in der Arena kritischer Argumentation dafür werben. Und im Ringen<br />

um Kampf um politische Ideen kann und will auch die christliche Theologie<br />

ihren eigentümlichen und gewiss etwas ungewöhnlichen Beitrag leisten:<br />

»Und am Abend desselben Tages sprach er zu ihnen: Lasst uns ans andre Ufer fahren.<br />

Und sie ließen das Volk gehen und nahmen ihn <strong>mit</strong>, wie er im Boot war, und es<br />

12<br />

Das Vertrauen in den Republikanismus wird erschüttert, wenn seine Institutionen<br />

politische Probleme nicht wahrnehmen, ertragen und lösen. Zur Bilanzierung <strong>von</strong> Militärdiktaturen,<br />

vgl. Straßner (2013): Militärdiktaturen im 20. Jahrhundert. Zur Pathologie<br />

großer Demokratien vgl. Arendt (1975): Home to Roost; zum »Mafia-Staat« vgl. Paoli<br />

(2003): Mafia Brotherhoods; Kinzig (2004): Die rechtliche Bewältigung <strong>von</strong> Erscheinungsformen<br />

organisierter Kriminalität; Stille (2006): Die Richter, die Mafia und der Tod; Saviano<br />

(2007): Gomorrha; Dalla Chiesa (2014): Manifesto dell’Antimafia. Magyar (2016):<br />

Post-Communist Mafia State; Bierling (2018): Wie Demokratien zu Mafia-Staaten werden.


1.1 Anlass und Zweck, Ergebnis und Anlage der Studie 17<br />

waren noch andere Boote bei ihm. Und es erhob sich ein großer Windwirbel, und die<br />

Wellen schlugen in das Boot, sodass das Boot schon voll wurde. Und er war hinten<br />

im Boot und schlief auf einem Kissen. Und sie weckten ihn auf und sprachen zu ihm:<br />

Meister, fragst du nichts danach, dass wir umkommen? Und er stand auf und bedrohte<br />

den Wind und sprach zu <strong>dem</strong> Meer: Schweig! Verstumme! Und der Wind legte<br />

sich und es ward eine große Stille. Und er sprach zu ihnen: Was seid ihr so furchtsam?<br />

Habt ihr noch keinen Glauben? Und sie fürchteten sich sehr und sprachen<br />

untereinander: Wer ist der, dass ihm Wind und Meer gehorsam sind!« (Mk 4, 35-41)<br />

Ein Unwetter kommt auf, eine Havarie nimmt ihren Lauf, eine Kette katastrophaler<br />

Ereignisse setzt ein, die zentrale Figur schlummert seelenruhig: ein<br />

schlafender Jesus als vom irdischen Leiden Unberührbarer. »Meister, fragst du<br />

nichts danach, dass wir umkommen?« Das ist keine Frage, sondern eine Anklage.<br />

Die Wellen toben, die Götter schlafen – zynisch oder souverän? Und warum<br />

Meister? Wer ist er, dass sie ihn Meister nennen? Was soll er denn tun?<br />

Wasser schöpfen, Ballast abwerfen, das Steuerruder übernehmen, zu Gott beten?<br />

Der Meister herrscht den Sturm an, bezwingt ihn und kontert <strong>mit</strong> einer<br />

Gegenklage: »Was seid ihr so furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben?« Die<br />

Szene endet da<strong>mit</strong>, dass die Jünger über den Meister sprechen, wer er sei. Das<br />

Wunder ist als Wundererzählung im Rahmen der eigenständigen Literaturgattung<br />

namens »Evangelium« bedeutsam. Der Meister hat die Jünger gewonnen,<br />

sich ihm anzuschließen, sie bilden <strong>mit</strong> ihm eine Lehr- und Lerngemeinschaft,<br />

und die ist in der Szene bedroht und steht vor <strong>dem</strong> Scheitern. Da<strong>mit</strong> bekommt<br />

das Wunder eine starke Evidenz: Wäre der Meister nicht Herr über die Elemente,<br />

hätte seine Mission nicht wie durch ein Wunder schon etliche Stürme<br />

überstanden, dann hätte die Geschichte es nicht bis zu uns geschafft. Das hat<br />

sie aber. So besteht begründete Hoffnung, dass sie weitergeht. Der Evangelist<br />

und seine Adressaten waren Zeitgenossen des Jüdischen <strong>Krieg</strong>es. Bellum Judaicum<br />

ist der Name der sehr verlustreichen <strong>Nieder</strong>schlagung des jüdischen Aufstandes<br />

durch Rom <strong>von</strong> 66 bis 74 n. Chr. Der <strong>Krieg</strong> war <strong>von</strong> mehreren Massakern<br />

begleitet und endete <strong>mit</strong> der Zerstörung des Jerusalemer Tempels; die Stadt<br />

blieb über 60 Jahre lang unbewohnbar. Die <strong>Nieder</strong>schlagung <strong>von</strong> zwei weiteren<br />

jüdischen Aufständen – Diasporaaufstand um 116 n. Chr., Bar-Kochba-Aufstand<br />

<strong>von</strong> 132 bis 135 n. Chr. – führte zum Ende der letzten Reste jüdischer Eigenstaatlichkeit<br />

in der Antike. Im Text ist die Rede <strong>von</strong> einer »großen Stille«. Die<br />

Jünger beruhigen sich, sie sprechen <strong>mit</strong>einander: Wer ist der, dass er machtvoll<br />

die Elemente des Kosmos beherrscht und sitzt doch <strong>mit</strong> ihnen in einem Boot?<br />

Max Weber definiert: »Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung<br />

den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel<br />

worauf diese Chance beruht. Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl<br />

bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.« 13 Dem Mei-<br />

13<br />

Weber (1976 5 ): Wirtschaft und Gesellschaft, § 16.


18<br />

1 Einleitung<br />

ster gehorchen die Elemente. Wie weit also geht der Systemanspruch des Evangeliums?<br />

Gilt er auch für Staaten und Völker? Er beschränkt sich offensichtlich<br />

nicht auf die Selbsterhaltung der christlichen Lehr- und Lerngemeinschaft; als<br />

»kosmische« Macht und Herrschaft erstreckt sich der Anspruch sicher auch auf<br />

das Politische. In welcher Weise und Richtung aber beeinflusst das Evangelium<br />

die Politik? Die »große Stille« eröffnet die Chance, souverän, dann aber auch<br />

möglichst präzise, über Politik zu debattieren. Und die nutzt die Theologie.<br />

Aber welche Chance auf Erfolg hat eine solche Debatte? Zwingt der Realitätsdruck<br />

des Politischen nicht allen Wissenschaften seine Logik auf, degradiert<br />

er nicht jede politische Ethik zu esoterischer Lyrik? Was vermögen Worte gegen<br />

die Macht? Ist der Republikanismus in seiner Selbstbehauptung nicht selbst despotisch?<br />

Wird er nicht schnell ermatten, sich nicht verunsichern und verwirren<br />

oder sich <strong>von</strong> den Heils- und Wohlstandsversprechen der Dirigisten oder Kapitalisten<br />

zu fatalen Abhängigkeiten verführen lassen? Glaubt irgendjemand, man<br />

könne <strong>mit</strong> Menschenrechten herrschen? Glaubt irgendjemand, man könne <strong>mit</strong><br />

Völkerrecht den <strong>Krieg</strong> besiegen? Was können einzelne Staaten, geschweige<br />

denn einzelne Bürger schon ausrichten? Die theologisch zu bekräftigende These<br />

dieser Studie lautet: Ja, man kann <strong>mit</strong> politischen Ideen, wie sie in Verfassungen,<br />

Verträgen und in der Charta der Vereinten Nationen (VN) niedergelegt<br />

sind, und <strong>mit</strong> der Tugend strategischer Geduld den <strong>Krieg</strong> verhindern und überwinden,<br />

das gelang in der Vergangenheit und kann auch künftig gelingen. Der<br />

verbreitete Glaube, man müsse eine Behauptung nur oft genug wiederholen und<br />

beschwören, dann stelle sich geradezu magisch die gewünschte Wirklichkeit<br />

ein, ist zwar eine Illusion. Aber an der Wahlurne zählt jedes Kreuz, im Parlament<br />

zählt jede Stimme und vor Gericht zählt jedes triftige Argument, um Macht<br />

in Bewegung zu bringen und die Wirklichkeit dramatisch zu verändern. Dazu<br />

müssen aber Wahlen stattfinden, Parlamente zusammentreten und Richter und<br />

Geschworene berufen und am Ende auch Staaten in Systeme gemeinsamer Sicherheit<br />

eingebunden werden. Und das geschieht nicht <strong>von</strong> ungefähr, sondern<br />

als Ergebnis im Kampf um diskursive Macht im Feld politischer Ideen.<br />

Aber warum gerade <strong>mit</strong> diesen republikanischen Ideen, warum nicht <strong>mit</strong><br />

den Ideen absoluter Souveränität. Und wenn es theologische Gründe gibt, den<br />

Republikanismus gegen den Despotismus zu stärken, wie steht die christliche<br />

Theologie dann zur republikanischen Staatsgewalt? Es ist zu vermuten, dass ihr<br />

Beitrag sich eher auf den Hintergrund als auf den Vordergrund des Politischen<br />

bezieht. Mut zur Kritik also, auch zur Kritik der republikanischen Gewalt. Beispielsweise<br />

wurde in den Nürnberger Prozessen das Rückwirkungsverbot <strong>mit</strong><br />

<strong>dem</strong> Hinweis auf ein vorstaatliches Naturrecht außer Kraft gesetzt. Nach <strong>dem</strong><br />

Urteil Walter Benjamins war das Naturrecht aber schon zu Beginn des 20. Jh.<br />

<strong>dem</strong> Rechtspositivismus diskursiv unterlegen. Der dezisionistische und materialistische<br />

Rechtspositivismus wiederum hatte sich in der ersten Hälfte des 20.<br />

Jh. bereitwillig in den Dienst totalitärer Regime gestellt und war da<strong>mit</strong> nachhaltig<br />

diskreditiert. Danach konnte er umstandslos in das Lager eines nicht minder<br />

totalitären Marktradikalismus wechseln. Das Wiederaufkommen nationalisti-


1.1 Anlass und Zweck, Ergebnis und Anlage der Studie 19<br />

scher und geopolitischer Rivalitäten in unseren Tagen nährt die Furcht, die<br />

Weltgeschichte bewege sich erneut an den Rand des Abgrundes und wirft die<br />

Frage auf, unter Berufung auf welche ethischen Horizonte auf aktuelle schwere<br />

Krisen geantwortet werden kann. 14<br />

Die vorliegende Arbeit vertritt die These,<br />

dass weder das Naturrecht noch der Rechtspositivismus noch die Postulate des<br />

Vernunftrechts als solche das Recht vom Verdacht usurpatorischer Setzung befreien<br />

können. Die Frage lautet: Wie soll Recht alternativ zum Kampf der Kulturen<br />

und zum <strong>Krieg</strong> um Ressourcen ein offenes und faires Forum für die Ver<strong>mit</strong>tlung<br />

<strong>von</strong> Interessengegensätzen bereitstellen, und welches Recht soll das sein? Die Antwort<br />

lautet: Allein durch Aufklärung, die sich über sich selbst aufklärt, kann das<br />

positive Recht, im Falle beispielsweise globaler Gewaltkonflikte die VN-Charta in<br />

Verbindung <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Haager und <strong>dem</strong> Genfer Recht bewaffneter Konflikte, trotz<br />

seiner »westlichen« Genese universale Geltung erlangen und die Köpfe und Herzen<br />

der Menschen gewinnen. Ob sich der »freie Westen« global als normativ aufgeladener<br />

politischer Markenbegriff anbietet, ist mehr als fraglich. Der Frieden in der Welt<br />

wird nicht durch Proklamationen messianischer Universalismen oder reflexiver<br />

Modernen, sondern durchaus <strong>von</strong> diesen inspiriert, dann aber politisch in der Bewährung<br />

prozeduraler Säkularität gewonnen. 15<br />

3. Kritik der Gewalt: Wer eine solche »Ethik rechtserhaltender Gewalt« vertritt,<br />

kann ein bestimmtes Handeln <strong>von</strong> Menschen dann jedoch nicht nach <strong>dem</strong> Kriterium<br />

verurteilen, es sei »durch das, was unter Menschen nicht sein soll, bestimmt:<br />

Gewalt«. 16 Gewalt ist im gegenwärtigen deutschen Sprachgebrauch weithin<br />

negativ konnotiert. Diese Studie setzt die These dagegen: Wer Menschen<br />

jeglicher Gewalt beraubt, nimmt ihnen die Möglichkeit, Recht aufzurichten und<br />

wirksam zu beanspruchen und sich durch Recht und Staat zu schützen. Denn: »Das<br />

stricte Recht kann auch als die Möglichkeit eines <strong>mit</strong> jedermanns Freiheit nach<br />

allgemeinen Gesetzen zusammenstimmenden durchgängigen wechselseitigen<br />

Zwanges vorgestellt werden.« 17 Eine ethisch orientierte Kritik der Gewalt macht<br />

folglich nur Sinn in einem rechts- und staatsphilosophischen Horizont. Eine<br />

Ethik politischer Gewalt, die diese These begründet, ist wiederum nur in Rekapi-<br />

14<br />

Die Münchner Sicherheitskonferenz titelte 2018: »Am Abgrund – und wieder<br />

zurück?«; vgl. https://securityconference.org/publikationen/munich-security-report-<br />

2018 [04.11.2020].<br />

15<br />

Um es <strong>mit</strong> einem kühnen Vorschlag zu illustrieren: Nach <strong>dem</strong> Erfolg der Beilegung<br />

des Kalten <strong>Krieg</strong>es nach 1990 u.a. durch den Beitrag der Konferenz für Sicherheit und<br />

Zusammenarbeit in Europa (KSZE, später OSZE) kann diese Organisation nach Kap. VIII<br />

VN-Charta als Modell gelten für die Sicherung des Friedens und den Wiederaufbau nach<br />

<strong>Krieg</strong>en auch in Regionen wie <strong>dem</strong> Mittleren Osten und Nordafrika (MENA). Deutschland<br />

zusammen <strong>mit</strong> den Partnern in der EU und der NATO könnten <strong>von</strong> den Konflikten in der<br />

Region betroffene Staaten zur Teilnahme an einer »KSZE-MENA« einladen; wie kühn ein<br />

solcher Vorschlag ist, zeigt Maull (2017; Hrsg.): Auflösung oder Ablösung?<br />

16<br />

Ebeling (2006): Militär und Ethik, 9.<br />

17<br />

Kant, Metaphysik der Sitten, AA VI, 232.


20<br />

1 Einleitung<br />

tulation der klassischen Quellen ethischer Urteilsbildung, insbesondere auf <strong>dem</strong><br />

kritischen Niveau und in der freiheitlichen Grundausrichtung wie <strong>dem</strong> der kantischen<br />

Rechts- und Staatsphilosophie möglich. Wäre Gewalt pauschal und undifferenziert<br />

verpönt und verboten, so müsste sie nur aus der Welt geschafft,<br />

nicht aber verantwortet werden.<br />

Am 28. Juli 1914 begann der Erste Weltkrieg <strong>mit</strong> der <strong>Krieg</strong>serklärung Österreich-Ungarns<br />

an Serbien. Am 21. November 1990 wurde in der Charta <strong>von</strong><br />

Paris der Kalte <strong>Krieg</strong> formell beigelegt. In den etwas über 76 Jahren zwischen<br />

den beiden genannten Daten waren europäische Mächte Hauptakteure zweier<br />

Weltkriege sowie eines anschließenden Kalten <strong>Krieg</strong>es, in welchem dann allerdings<br />

im Schatten der Supermächte <strong>von</strong> europäischer Souveränität kaum mehr<br />

die Rede sein konnte. In den Jahren <strong>von</strong> 1945 bis 1990 standen sich die Blöcke<br />

nicht zuletzt an der innerdeutschen Grenze <strong>mit</strong> der Androhung der nuklearen<br />

Totalvernichtung gegenüber. Zusammengefasst kann man also einschließlich<br />

<strong>von</strong> Latenzzeiten <strong>von</strong> einem 76jährigen <strong>Krieg</strong> in Europa <strong>von</strong> 1914 bis 1990 sprechen.<br />

Die Abgründe dieses <strong>Krieg</strong>es sind <strong>mit</strong> drei Orten exemplarisch benannt:<br />

Verdun, Auschwitz und über Europa hinausgehend Hiroshima. Als Zeitenwenden<br />

stehen das Jahr 1914 <strong>mit</strong> der Initialkatastrophe, das Jahr 1945 <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Ende<br />

des Zweiten Weltkriegs und das Jahr 1989 <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Fall der Mauer. Die kritische<br />

Sicht auf die zentrale Rolle Deutschlands im <strong>Krieg</strong>sgeschehen des 20. Jh. begründet<br />

die deutsche »Kultur der militärischen Zurückhaltung« seit 1945 und<br />

dies auch über die Wiederbewaffnung Deutschlands im Jahr 1956 hinaus. Dennoch<br />

ist Deutschland längst als »Rahmennation« für Militäroperationen gefordert.<br />

Deutschland profitiert zwar bis in die derzeitige Pan<strong>dem</strong>ie hinein da<strong>von</strong>,<br />

sich vielerorts herauszuhalten. So kann es sich beispielsweise eines der weltweit<br />

besten Gesundheitssysteme leisten. Aber die Zeit dieser privilegierten<br />

Rolle geht ihrem Ende zu. Im Rahmen der Unterscheidung zwischen Despotismus<br />

und Republikanismus muss Deutschland u.a. in internationalen Gewaltkonflikten<br />

aktiver Stellung beziehen.<br />

Nach <strong>dem</strong> Ende der Blockkonfrontation war im ersten Jahrzehnt des 20. Jh.<br />

ein signifikanter Rückgang der <strong>Krieg</strong>e auf der Erde zu verzeichnen, nämlich in<br />

2010 um etwa die Hälfte gegenüber 1992. 18 Das nährte Hoffnungen auf ein Erstarken<br />

der internationalen Krisenbewältigung, die jedoch erstens durch das<br />

Jahrzehnt der Jugoslawienkriege <strong>von</strong> 1991 bis 2001 auf eine harte Probe gestellt<br />

wurde und zweitens zu Anfragen an die Adresse Deutschlands geführt hatte,<br />

sich in diesen Krisen unter anderem auch militärisch zu beteiligen. Seit der Beteiligung<br />

an der Operation Südflanke im Rahmen des Zweiten Golfkrieges, also<br />

seit 1990 befindet sich die Bundeswehr im Rahmen der Bündnisse durchgehend<br />

außerhalb der Bundesrepublik Deutschland im Einsatz, seit Ende der 1990er<br />

Jahre mandatiert durch die große Mehrheit des Deutschen Bundestages. Das<br />

Bundesverfassungsgericht bestätigte die verfassungsrechtliche Zulässigkeit<br />

18<br />

Vgl. Schreiber (2011): <strong>Krieg</strong>e und bewaffnete Konflikte 2011, 1.


1.1 Anlass und Zweck, Ergebnis und Anlage der Studie 21<br />

solcher Einsätze nach Maßgabe des Art. 24 Abs. 2 GG in einem Urteil <strong>von</strong> 1994. 19<br />

Gemäß Artikel 87a GG stellt der Bund Streitkräfte zu Verteidigung auf, Artikel<br />

24 Absatz 2 räumt <strong>dem</strong> Bund die Möglichkeit ein, sich zur »Wahrung des Friedens«<br />

in ein »System gegenseitiger kollektiver Sicherheit« einzuordnen und dabei<br />

in Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einzuwilligen. Beides stellt nach<br />

Auffassung des Verfassungsgerichts die verfassungsrechtlichen Grundlagen<br />

und setzt die Grenzen für militärische Einsätze der Bundeswehr sowohl im Rahmen<br />

der VN als auch der Europäischen Union (EU) und der Nordatlantik-Paktorganisation<br />

(NATO), insofern diese als Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit<br />

gelten könnten.<br />

Eine Kritik der Gewalt steht anlässlich solcher Rechtsbegründungen vor der<br />

Aufgabe, erstens zu klären, ob und inwiefern eine solche höchstrichterliche Entscheidung<br />

auf hinreichenden rechtsethischen Voraussetzungen ruht. Und da<br />

selbst das, was verfassungsrechtlich möglich ist, deshalb noch lange nicht politisch<br />

und militärisch geboten sein muss, ist zweitens zu klären, welche politisch-ethischen<br />

und militärisch-ethischen Bedingungen erfüllt sein müssen, da<strong>mit</strong><br />

das Parlament einen Militäreinsatz mandatiert, die Regierung ihn anordnet,<br />

die militärische Führung ihn befiehlt, die Truppe ihn ausführt und alle zusammen<br />

<strong>mit</strong> den Bürgern zu einer ethisch verantwortlichen strategischen Kultur<br />

beitragen. Die Wahrung und Förderung des Friedens, operationalisiert durch die<br />

Eingliederung in Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit, bildet den in<br />

Deutschland grundrechtlich anerkannten normativen Rahmen für die genannten<br />

Klärungen. Die VN hatten sich am 26. Juni 1945 <strong>mit</strong> der VN-Charta eine<br />

hierfür friedensethisch anspruchsvolle positiv-rechtliche Norm gegeben. Aber<br />

die Erfahrung zeigt entgegen der Hoffnungen der 1990er Jahre, dass viele Staaten<br />

nicht gewillt sind, sich daran zu halten. Insbesondere die Permanent Five,<br />

allen voran die Vereinigten Staaten <strong>von</strong> Amerika (USA) und die Russische Föderation<br />

als die beiden bis heute dominierenden Mitglieder des VN-Sicherheitsrates,<br />

tragen den Privilegien der ständigen Präsenz und des Vetorechtes nicht<br />

durch eine entsprechende Praxis verantwortlicher Entscheidungen Rechnung. 20<br />

Sie votieren und handeln vielmehr nach den noch das 19. Jh. prägenden Regeln<br />

des Great Game und benutzen die gemeinsamen Institutionen nur, solange es<br />

ihnen passt. Je mehr sie und ihre Klienten sich gegen jede Kritik immunisieren,<br />

desto mehr delegitimiert dies die Charta und höhlt den Anspruch aus, zur Wahrung<br />

des Friedens auf ein System kollektiver Sicherheit zu setzen.<br />

19<br />

Vgl. BVerfG-Urteil vom 12. Juli 1994, Az. 2 BvE 3/92, 5/93, 7/93, 8/93.<br />

20<br />

Zur US-amerikanischen Politik im Nahen Osten vgl.: Kilian / Tobergte / Wunder<br />

(2005, Hrsg.): Nach <strong>dem</strong> Dritten Golfkrieg; Schwabe (2006): Weltmacht und Weltordnung;<br />

Kinzer (2009): Im Dienste des Schah; Bierling (2010): Geschichte des Irakkriegs.<br />

Zu russischen Operationen in der Ukraine vgl. Andruchowytsch (2014, Hrsg.): Euromaidan;<br />

Raabe / Sapper (2015, Hrsg.): Testfall Ukraine. Zur Rolle u.a. Russlands und<br />

der USA im Syrienkrieg vgl. Deutscher Bundestag Wissenschaftliche Dienste (2017): Der<br />

Syrienkrieg.


22<br />

1 Einleitung<br />

Bei vielen anderen Staaten treffen Geist und Buchstaben der gemeinsamen<br />

Sicherheit aber durchaus auf Respekt. Es geht so weit, dass Maßnahmen robuster,<br />

also militärisch gestützter Friedenswahrung und -erzwingung meistens<br />

dann erfolgreich sind, wenn die Permanent Five nicht beteiligt sind. 21 Bei der<br />

kollektiven Selbstverteidigung tragen Staaten wie Bangladesch, Brasilien, Indien,<br />

Pakistan, die Volksrepublik China und viele afrikanische Staaten die<br />

Hauptlast. Die reifen Industriestaaten des Nordens stehen trotz ihrer überlegenen<br />

Ressourcen <strong>dem</strong>gegenüber im Abseits. Aber nicht nur Staaten, sondern<br />

auch nicht-staatliche Akteure können hier entscheidende Impulse und Maßstäbe<br />

setzen. Und es geht ja in erster Linie nicht um Militärinterventionen. Die<br />

haben ohnehin nur eine äußerst begrenzte Wirksamkeit und auch dies nur als<br />

Teil eines umfassenden Ansatzes der Krisenprävention und -reaktion. Auch<br />

Deutschland – bis zur Wende nicht souverän und Importeur <strong>von</strong> Sicherheit –<br />

zeigt trotz gegenteiliger Appelle an die eigene Adresse bis heute gemessen an<br />

seiner Größe und Lage in der Mitte Europas und an seinen Ressourcen erst zögerlich<br />

Bereitschaft, in internationalen Krisen aus souveränem Urteil mehr Verantwortung<br />

zu übernehmen. Der <strong>von</strong> der historischen Erfahrung und der politischen<br />

Vernunft gewiesene Rahmen hierfür kann nur eine gemeinsame europäische<br />

Außenpolitik sein und in deren militärpolitischen Aspekten eine Armee<br />

der Europäer. Die Vorbereitungen zu deren Aufstellung geben Anlass, über eine<br />

friedenspolitische Gesamtstrategie der EU und da<strong>mit</strong> weiter über deren finalité<br />

nachzudenken. 22<br />

Diese sollte sich auszeichnen durch Loyalität gegenüber der<br />

Idee einer internationalen Rechtsordnung, sensibel für die historischen Lasten<br />

21<br />

Hierzu gehören beispielsweise die VN-Militärbeobachtergruppe seit 1951 in Indien<br />

und Pakistan (UNMOGIP), die VN-Stabilisierungsmission in der Demokratischen Republik<br />

Kongo seit 2010 (MONUSCO), die ECOWAS Militärintervention seit 2017 in Gambia<br />

(ECOMIG); vgl. https://peacekeeping.un.org.<br />

22<br />

Hier sind zu nennen die »Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik«<br />

(GSVP, englisch: Common Security and Defence Policy, CSDP) als Teil der »Gemeinsamen<br />

Außen- und Sicherheitspolitik« (GASP; englisch: Common Foreign and Security Policy,<br />

CFSP), die »Ständige Strukturierte Zusammenarbeit« (SSZ, englisch: Permanent Structured<br />

Cooperation, PESCO) sowie die vom Französischen Staatspräsidenten initiierte »Europäische<br />

Interventionsinitiative« mehrerer europäischer Staaten. Man muss kein Experte<br />

in Fragen der Strategie und Sicherheitspolitik sein, um festzustellen, dass Deutschland<br />

sowohl außen- als auch innenpolitisch noch auf der Suche nach seiner Rolle ist. Außenund<br />

verteidigungspolitisch sucht Deutschland seinen Platz im Konzert der europäischen<br />

Staaten, also im Kreis der EU- und der europäischen NATO-Mitglieder und insbesondere<br />

im Verhältnis zu den anderen vier »großen« Frankreich, Großbritannien, Italien und<br />

Spanien sowie zu den vielen »kleinen« <strong>von</strong> den Benelux-Staaten über Griechenland bis<br />

zu den jüngeren Bündnispartnern in Mittelosteuropa. Es ist keine Partei im Deutschen<br />

Bundestag erkennbar, die den Ruf nach »neuer Verantwortung« auch durch die Initiierung<br />

einer entsprechend breiten und intensiven gesellschaftlichen Debatte untermauerte.<br />

Ohne eine interne Verständigung aber ist eine Bestimmung der Position nach außen<br />

nicht zu erwarten; vgl. https://www.swp-berlin.org/themen/dossiers/zukunft-deutscheaussenpolitik<br />

[02.08.2021]. Wer hat den Mut zu weiteren Schritten?


1.1 Anlass und Zweck, Ergebnis und Anlage der Studie 23<br />

der europäischen Expansion seit <strong>dem</strong> 16. Jh. ebenso wie für die exzessive Gewalt<br />

zweier Weltkriege und eines Kalten <strong>Krieg</strong>es, die allesamt <strong>von</strong> Europa ausgingen.<br />

Und sie sollte die Realitäten der Gegenwart ins Auge fassen, insbesondere die<br />

neuen halbkontinentalen Rivalitäten und die gegenwärtigen Charakteristika,<br />

Triebkräfte und Verläufe bewaffneter Konflikte. Diese wiederum werden bestimmt<br />

durch technologische, ökonomische und <strong>dem</strong>ographische Entwicklungen,<br />

eine zunehmende Knappheit <strong>von</strong> Ressourcen, durch ökologische Krisen<br />

und den Klimawandel. Es ist zwar nicht so, dass eine bisher heile Welt plötzlich<br />

aus den Fugen geraten sei. Aber wie schon oft in der Vergangenheit so hängt<br />

auch heute wieder viel an der Wahrnehmung der Krisen. Je größer die Erwartungen<br />

sind, desto größer wird die Krise wahrgenommen, wenn sich die Erwartungen<br />

nicht erfüllen. Ohne große Erwartungen aber gibt es kein Motiv für große<br />

Anstrengungen. Aber nicht selten wird wiederum die große Lösung zum noch<br />

größeren Problem. Diese Einsicht mahnt zur Tugend strategischer und politischer<br />

Geduld und Vergewisserung.<br />

Angesichts des ernüchternden Ergebnisses der vorstehenden Erwägungen<br />

zum Völkerrecht ist der Zweck dieser Studie, die politische Ethik rechtserhaltender<br />

Gewalt insbesondere im Blick auf den Einsatz militärischer Gewalt zu<br />

rekapitulieren und weiterzuentwickeln. Das Recht ist zwar nicht das einzige<br />

Medium einer Ethik im Zeichen des Friedens. So wahr aber Politik nie am Recht<br />

vorbei, sondern nur durch das Recht hindurch zu einem dauerhaften Frieden<br />

führen kann, ist Recht das entscheidende Medium einer politischen Friedensethik.<br />

Zusammen <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Recht bewaffneter Konflikte sind auch andere Rechtsmassen<br />

ethisch auf den Prüfstand zu stellen, so das Recht der Völkerstrafgerichtsbarkeit<br />

und auch viele rechtliche Fragen der zivilen Krisenprävention und<br />

-intervention, der internationalen Katastrophenhilfe, ganz zu schweigen <strong>von</strong> denen<br />

des Welthandels und der Klimapolitik. 23 Alles auf einmal aber geht nicht.<br />

Hier soll es um die Kritik des Einsatzes <strong>von</strong> Gewalt im äußersten Extrem des<br />

bewaffneten Massenkonflikts gehen, die in einer politischen Ethik gewiss nicht<br />

fehlen sollte.<br />

Die Tradition des deutschen Protestantismus, in der diese Studie steht, kann<br />

zur Entwicklung einer politisch-strategischen Kultur in einem vereinten Europa<br />

souveräner Staaten einen wichtigen Beitrag leisten. Denn die evangelische Theologie<br />

schätzt das Recht als Medium inner- und zwischenstaatlicher Konfliktregulierung<br />

und da<strong>mit</strong> sowohl den Rechtsstaat als herrschende gewaltmonopolisierende<br />

Institution als auch die Einrichtung einer Internationalen Rechtsordnung<br />

als Friedensordnung. Beginnend <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Stuttgarter Schuldbekenntnis<br />

<strong>von</strong> 1945, den Kontroversen um Westintegration und Wiederbewaffnung nach<br />

1949, den Heidelberger Thesen <strong>von</strong> 1959, den Zehn Artikeln über Freiheit und<br />

Dienst der Kirche der Konferenz der evangelischen Kirchenleitungen in der DDR<br />

<strong>von</strong> 1963, der Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)<br />

23<br />

Vgl. Werkner / Stobbe (2020, Hrsg.): Friedensethische Prüfsteine ziviler Konfliktbearbeitung.


24<br />

1 Einleitung<br />

<strong>von</strong> 1965 über die EKD-Friedensdenkschrift <strong>von</strong> 1981, den Beschluss des Bundes<br />

der Evangelischen Kirchen in der DDR »Absage an Geist, Logik und Praxis<br />

der Abschreckung« <strong>von</strong> 1982, die Demokratiedenkschrift der EKD <strong>von</strong> 1985 und<br />

den Synodenbeschluss »Bekennen in der Friedensfrage« <strong>von</strong> 1987 des Bundes<br />

der Evangelischen Kirchen in der DDR bis zur Friedensdenkschrift <strong>von</strong> 2007 der<br />

EKD 24 blickt die Evangelische Kirche in Deutschland auf eine lange und durchaus<br />

bewegte Tradition öffentlicher friedenspolitischer Rechenschaft zurück. 25<br />

Der Bezug auf das christliche Ethos ist exemplarisch, denn auch wer ein<br />

anderes Ethos lebt, sollte dieses in <strong>dem</strong> Maße offenlegen, wie er dafür politische<br />

Geltung beansprucht. Wenn also die klassischen Fragen behandelt werden, ob<br />

und wie sich Kirche und Theologie politisch äußern sollen, wie sich der Waffendienst<br />

<strong>mit</strong> <strong>dem</strong> christlichen Glauben vereinbaren lässt und welche Rolle bei diesen<br />

Fragen der Bezug auf die Bibel und auf die Klassiker der politischen Philosophie<br />

spielen soll, dann sollen Atheisten, Buddhisten, Kommunitaristen und<br />

Sozialisten etc. dies gerne als Aufforderung verstehen, zu erläutern, wie und<br />

anhand welcher Quellen sie solche Fragen lösen wollen.<br />

24<br />

Mit der 2007 in die Denkschrift aufgenommenen Formel »Ethik rechtserhaltender<br />

Gewalt« erhebt die protestantische Friedensethik Gewalt zu einem prominenten Leitbegriff<br />

und kann sich dabei auf das deutsche Grundgesetz beziehen. Dort heißt es: »Im<br />

Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, <strong>von</strong> <strong>dem</strong> Willen beseelt,<br />

als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa <strong>dem</strong> Frieden der Welt zu dienen,<br />

hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz<br />

gegeben« (GG Präambel) und ferner: »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird<br />

vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung,<br />

der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt« (GG Art. 20). Der<br />

Begriff der Ethik politischer Gewalt zeigt an, dass die Projektierung rechtserhaltender<br />

Gewalt politisch zu verantworten ist.<br />

25<br />

Vgl. die Stuttgarter Erklärung in: Verordnungs- und Nachrichtenblatt. Amtliches Organ<br />

der Evangelischen Kirche in Deutschland, Nr. 1, Januar 1946, S. 1.; vgl. Besier /<br />

Sauter (1985): Wie Christen ihre Schuld bekennen; die Heidelberger Thesen <strong>von</strong> 1959 in:<br />

<strong>von</strong> <strong>Schubert</strong> (1983, Hrsg.): Heidelberger Friedensmemorandum, 79-92; Konferenz der<br />

evangelischen Kirchenleitungen in der DDR (1963): Zehn Artikel über Freiheit und Dienst<br />

der Kirche; Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland (1965): Die Lage der<br />

Vertriebenen; Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland (1982 3 , Hrsg.):<br />

Frieden wahren, fördern und erneuern; Evangelische Kirche in Deutschland (1985, 1990 4 ,<br />

Hrsg.): Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie; Rat der Evangelischen Kirche<br />

in Deutschland (2007): Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen. Über<br />

Dokumente der evangelischen Kirchen in der DDR informieren Neubert (1989): Geschichte<br />

der Opposition in der DDR; Lepp (2017): Die <strong>dem</strong>okratische Ordnung als Gegenstand<br />

des deutsch-deutschen Kirchendialogs. Zur Westintegration der Bundesrepublik<br />

vgl. Klein (2006): Die Debatte um die Wiederaufrüstung.


1.1 Anlass und Zweck, Ergebnis und Anlage der Studie 25<br />

1.1.2 Ergebnis und Anlage der Begründung<br />

1. Ergebnis: Nicht Macht und Gewalt, nicht Staat oder Staatlichkeit per se, sondern<br />

ihre normative Beurteilung ist der Gegenstand dieser Untersuchung. Das<br />

Ergebnis lautet in drei Kernthesen: (1) Gewalt ist ethisch hochambivalent, hier<br />

Fluch, dort Segen. (2) Deshalb ist Gewalt politisch und rechtlich einzuhegen durch<br />

die Einrichtung republikanischer Staaten und eine Republik der Republiken, der<br />

<strong>Krieg</strong> ist abzuschaffen. (3) Der christliche Glauben soll diese Einhegung aus engagierter<br />

Distanz unterstützen und nicht ablassen, wie in anderen Hinsichten so auch<br />

hier Anerkennung zu zollen, Bildung zu ver<strong>mit</strong>teln und Solidarität zu üben. Im<br />

Einzelnen:<br />

1. Zu normativen Ordnungen: Gewaltkonflikte verstetigen sich und eskalieren<br />

in <strong>dem</strong> Maße, in <strong>dem</strong> die Akteure glauben, im Recht zu sein. Sie werben für<br />

die Verfolgung ihrer Zwecke und Ziele da<strong>mit</strong>, dass sie für diese eine Rechtsgeltung<br />

beanspruchen, die möglichst weithin anerkannt werden soll. Die Darlegung<br />

der Genese und Faktizität eines normativen Anspruches in Gestalt <strong>von</strong><br />

Konventionen und Institutionen kann ganz erheblich dazu beitragen, diesen Anspruch<br />

zu verstehen und zu unterstützen, reicht aber allein nicht dazu, seine<br />

allgemeine Geltung zu begründen. Zur Begründung eines moralischen Geltungsanspruchs<br />

taugen gemäß <strong>dem</strong> aufgeklärten Ideal freier Selbstbestimmung nur<br />

solche Kriterien, die bei je<strong>dem</strong> Einzelnen in seinem persönlichen Gewissen, also<br />

in einem gedankenexperimentellen forum interum und in der Praxis individueller<br />

Lebensführung Anerkennung finden, sprich: sich dort bewähren. Rechtlich<br />

gelten gemäß <strong>dem</strong> republikanischen Ideal einer freien Bürgerschaft <strong>von</strong> Freien<br />

nur die Kriterien, die in <strong>dem</strong> politisch organisierten forum externum einer Gemeinschaft<br />

positiven Rechts Anerkennung finden und sich dort bewähren. Sowohl<br />

ein Gewissen als auch eine Rechtsgemeinschaft können ihrerseits ihren<br />

Geltungsanspruch über diese oder jene partikulare Anerkennung und Bewährung<br />

hinaus nur aus einer vorstaatlich organisierten universalen Norm begründen.<br />

Wollte man wiederum deren Anerkennung staatspolitisch organisieren,<br />

mündete dies im Totalitarismus. In einer Staatengemeinschaft können staatliche<br />

Rechtsnormen keine überstaatlich universale Geltung beanspruchen. Da<strong>mit</strong><br />

bleibt für die Begründung universaler Menschenrechtsnormen nur der Modus der<br />

international durch Selbstverpflichtungspakte und einzelstaatlich qua Verfassungsrecht<br />

zu vollziehenden Anerkennung, Aneignung und Durchsetzung. Und<br />

eine kritische Rechtsmoral und eine Rechtsethik werden immer Sache der Verantwortung<br />

und Rechenschaftslegung <strong>von</strong> Individuen bleiben.<br />

2. Zur Ethik: Die Wissenschaft, die sich normativ <strong>mit</strong> menschlichem Handeln<br />

befasst, wird seit Aristoteles »Ethik« genannt. Sie adressiert Menschen als sich<br />

ihrer selbst bewusste und sich selbst in endlicher Freiheit zum Handeln bestimmende<br />

Personen, deren Moral und Handlungen ihnen verbindlich zugerechnet<br />

und nach diesem derart bestimmten Prinzip menschlicher Würde beurteilt werden<br />

können. Zwei Auffassungen führen in die Irre: Erstens gibt es ethisch keine<br />

Kollision zwischen Prinzipien und Interessen, sie liegen auf unterschiedlichen


26<br />

1 Einleitung<br />

Ebenen. Spannungen gibt es zwischen verschiedenen Interessen sowie zwischen<br />

verschiedenen Prinzipien <strong>mit</strong>samt den daran ausgerichteten Interessen.<br />

Zweitens hat sich nicht bewährt, Gesinnungsethik und Verantwortungsethik<br />

(Max Weber) zu unterscheiden, da es ethische Gesinnung nicht ohne Verantwortung<br />

und ethische Verantwortung nicht ohne Gesinnung gibt. Weiterführend<br />

dagegen: Die Ethik unterzieht Personen <strong>mit</strong> ihrem Gewissen und ihrer Gesinnung<br />

einmal in der Sphäre ihrer privaten Beziehungen der Kritik, ein<br />

andermal im Bereich der Sozial- und Rechtsethik eher in ihren sozialen Rollen,<br />

also in den Gemeinschaften, Institutionen und Räumen kollektiver, gesellschaftlicher<br />

und öffentlicher Verantwortung. Ethik als Lehre nicht des »Gewohnten<br />

und Üblichen«, sondern des »Gebotenen und Gesollten« untersucht das Handeln<br />

aus vielen Blickwinkeln und dennoch kohärent. Sie sollte eine Pflichtenlehre,<br />

eine Güter- und eine Tugendlehre umfassen, die sich gegenseitig ergänzen und<br />

herausfordern und jeweils parallel abgestufte Grade der Verbindlichkeit kennen.<br />

Sie arbeitet stabil handlungsleitende Pflichten heraus, also Gebote, Gesetze,<br />

Grundsätze, Kriterien, Präferenzen, Prinzipien, Regeln sowie deren Genese<br />

sowie den Grad ihrer verbindlichen Geltung. Sie fragt ferner nach der<br />

ethischen Qualität einer Moral hinsichtlich ihrer messbaren Voraussetzungen,<br />

Phasen, Wirkungen, Folgen und Zwecke in der Bilanz der erwirkten oder angestrebten<br />

Güter. Und sie untersucht die inneren Einstellungen der Personen und<br />

die Äußerungen ihres Gewissens, also ihre Gesinnungen, Manieren, Motivationen,<br />

Haltungen, Tugenden und Werte und die darauf bezogenen Bildungsprozesse,<br />

um sie einer ethischen Kritik zu unterziehen. Ethik als eine Disziplin innerhalb<br />

des Formenkreises wissenschaftlicher Erkenntnis im wiederum<br />

umfassenden Forum <strong>von</strong> Religion ist schließlich insofern säkular, als jedes gelebte<br />

Ethos und jeder positive Rechtskreis sowohl als Kandidat wie auch als Juror<br />

der ethischen Untersuchung angenommen wird und seine Kriterien in <strong>dem</strong><br />

gemeinsamen Forum zur Geltung anmelden kann. In eben diesem Sinne stellt<br />

sie sich auch selbst <strong>dem</strong> einen universalen Normierungsanspruch der Menschenwürde.<br />

Dieses ausdifferenzierte Verständnis <strong>von</strong> Säkularität ist vor allem<br />

eine Frucht der späten europäischen Kultur- und Religionsgeschichte, hat seine<br />

Wurzeln jedoch im gesamten drei Kontinente verbindenden Umkreis des östlichen<br />

Mittelmeerbeckens und wird auch aus anderen Kulturen bereichert.<br />

3. Zum Recht: Wenn ein Medium geeignet ist, Menschen in Ausübung ihrer<br />

Macht zum Zusammenleben in Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden zu befähigen<br />

und insbesondere moderne Gesellschaften vor der Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen<br />

zu bewahren, dann ist dies das Recht im Spektrum eines noch zu<br />

bestimmenden Niveaus normativer Bindung. Menschen verhandeln, Menschen<br />

stiften und verfassen Recht durch friedliches Einvernehmen auf der Grundlage<br />

wechselseitiger Anerkennung; gleichursprünglich sprechen und schaffen sie<br />

Recht durch gewaltförmige und gewaltenteilige Herrschaft nach eben diesen<br />

Rechtsgesetzen, sie versprechen sich da<strong>mit</strong> wechselseitig wirksamen Schutz<br />

vor Unrecht. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte <strong>von</strong> 1948 hat<br />

die Rechtsidee die Gestalt vorstaatlichen Rechts erhalten, an <strong>dem</strong> sich Staaten


1.1 Anlass und Zweck, Ergebnis und Anlage der Studie 27<br />

auf <strong>dem</strong> Weg zu einer rechtstaatlichen Verfassung orientieren können, die je<strong>dem</strong><br />

Menschen, wenn nicht ein Staatsbürgerrecht, so zumindest ein Weltbürgerrecht<br />

gewähren. In der Charta der VN <strong>von</strong> 1945 hat dieselbe Rechtsidee die<br />

Gestalt eines Völkerfriedensvertrages bekommen, an <strong>dem</strong> sich Staaten auf <strong>dem</strong><br />

Weg zu Systemen kollektiver oder wenigstes kooperativer Sicherheit bis ins<br />

Konfliktvölkerrecht hinein orientieren können. Auf diesen Wegen gehen Staaten<br />

mal mehr mal weniger zügig voran, mal weichen sie <strong>von</strong> ihnen ab. Philosophie<br />

und Theologie lehren, in Jahrhunderten zu denken, denn Ideen und Ideale<br />

haben keine Macht als die der Überzeugung. Aber die kann durch schlüssige<br />

Argumente zur Geltung gebracht werden. Sollte die auf die Verwüstungen des<br />

76jährigen <strong>Krieg</strong>es <strong>von</strong> 1914 bis 1990 reagierende internationale Rechtsordnung<br />

schon jetzt zu Beginn der dritten Dekade des neuen Jahrtausends tatsächlich<br />

wieder spürbar an Kraft verlieren, so gibt es keinen anderen Weg zu einer<br />

wie auch immer ausgestalteten Friedensordnung, als den der Regeneration und<br />

Kommunikation der Idee des Rechts aus den Quellen kultureller Gedächtnisse,<br />

flankiert durch disruptive Ereignisse, die ein Umdenken befördern können.<br />

Ohne ein starkes Vertrauen in ein gemeinsames und insofern hohes Niveau normativer<br />

Bindung können solche Ereignisse aber auch einen Rückfall in Nationalismus<br />

und Extremismus und die Machtspiele des 19. Jh. auslösen. Und da die<br />

VN mehr »Netzwerk« als »Organisation« sind, bedürfen sie der kräftigen Unterstützung<br />

regionaler Organisationen und Systeme wie etwa der Afrikanischen<br />

Union (AU), der EU, der NATO und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit<br />

in Europa (OSZE), ohne dass diese sich an die Stelle der VN oder der<br />

Einzelstaaten setzen. Si vis pacem, para ius.<br />

4. Zur Politik: »Politik« ist der Inbegriff der Verhältnisse, die alle angehen;<br />

sie ist bestimmt durch einen solchen Vollzug menschlicher Urteilskraft, in <strong>dem</strong><br />

Einzelne sich an die Stelle vieler, wenn nicht aller anderen versetzen. Macht im<br />

politisch emphatischen Sinn gibt es folglich nur in Gestalt <strong>von</strong> Herrschaftsordnungen,<br />

die Menschen ebenso dienen, wie diese ihnen gehorchen. Bei realpolitischer<br />

Betrachtung ist Macht entweder erst auf <strong>dem</strong> Weg, im vollen Sinne politisch<br />

zu werden, oder ihr politischer Charakter schwindet, stagniert oder<br />

schwankt auf hohem, <strong>mit</strong>tlerem oder niedrigem Niveau. Im Extrem kann sie ihre<br />

Bestimmung dramatisch verfehlen oder ihr sogar zuwiderlaufen. Politik, insofern<br />

sie nicht überwältigen und überreden, sondern überzeugen will, gründet<br />

auf einem moralischen Anspruch. Politik, die ihren <strong>von</strong> der Polis abgeleiteten<br />

Namen verdient, strebt nach freier Zustimmung und da<strong>mit</strong> nach Frieden als ihrem<br />

höchsten Gut, aber nicht nach einem Frieden unter der Knechtschaft <strong>von</strong><br />

Despoten; vielmehr ruht ein gerechter Frieden auf <strong>dem</strong> Ausgleich <strong>von</strong> individueller<br />

Freiheit und kollektiver Gerechtigkeit. Idealtypisch gibt Politik allen Bürgern<br />

die gleichen Chancen auf individuelle Freiheiten. Insofern ist die gleiche<br />

Freiheit aller Menschen das leitende Ideal und Kriterium der Politik und ihrer<br />

kritischen Begleiterin, der politischen Ethik.<br />

5. Zum Staat: Politik umfasst mehr als staatliches Handeln, ihr wichtigstes<br />

Medium aber ist der aus historisch kontingenten Prozessen hervorgegangene


28<br />

1 Einleitung<br />

Staat. Er soll für viele große Fragen die Lösung liefern, ist aber nur allzu oft das<br />

alles erdrückende Problem. Die politische Ethik ermutigt alle Menschen, sich<br />

um ihrer gemeinsamen bürgerlichen Freiheit willen an der Konstitution und<br />

Exekution rechtlich geordneter Macht und sowohl monopolisierter als auch geteilter<br />

Gewalt und ihrer Entfaltung in politisch kräftigen Staaten und Systemen<br />

kollektiver Sicherheit ebenso solidarisch wie kritisch zu beteiligen. In erster Linie<br />

handeln Menschen in Organisationen und Verbänden politisch im Sinne der<br />

kollektiven Verfolgung gemeinsamer Interessen in den Sphären der Zivilgesellschaft<br />

und des Marktes. Erst Politik, insofern sie alle angeht und öffentlich vor<br />

aller Augen auszuhandeln ist, weil sie die Sphäre jedes Individuums berührt<br />

und schon deshalb das Problem der Gewalt auf den Plan ruft, bedarf der staatlichen<br />

Befassung und Regelung. Das eigentliche Subjekt der Politik ist jedoch<br />

nicht der Staat, sondern die Bürgerschaft. Die durch Recht assoziierten Bürger<br />

sind die Spender der Legiti<strong>mit</strong>ät ihrer Staaten und Staatsgewalten ebenso wie<br />

der Legiti<strong>mit</strong>ät ihrer Staatensysteme zur Wahrung des Friedens.<br />

6. Zur Gewalt: Institutionstheoretisch ist <strong>von</strong> Gewalt, Gewalten und Mächten<br />

immer dann die Rede, wenn Personen ihre individuellen Potentiale politisch<br />

bündeln, d.h. für alle verbindlich zu organisieren versuchen. Handlungstheoretisch<br />

ist <strong>von</strong> Gewalt, Gewaltmaßnahmen und Gewaltkonflikten immer dann die<br />

Rede, wenn mindestens eine Person willentlich auf mindestens eine weitere Person<br />

in der Regel gegen deren Willen und unter Eingriff in deren Rechte <strong>mit</strong> starken<br />

Kräften einwirkt. Nur in bestimmten Ausnahmen (z.B. Kampfsport) wird<br />

Gewalt auch <strong>mit</strong> Zustimmung aller Beteiligten und unter Wahrung ihrer Rechte<br />

ausgeübt. Im Begriff politischer Gewalt verbindet sich beides: Politische Gewalt<br />

im emphatischen Sinne <strong>von</strong> Politik ist die Ausübung öffentlicher Gewalt durch<br />

legitime Gewalten, also Staatsgewalt, die vom Volk ausgeht (vgl. GG Art 20.2).<br />

Alle andere »politische« Gewalt ist privatisierte Gewalt unter Vortäuschung des<br />

Politischen und deshalb nicht leicht zu erkennen. Einer rein willkürlichen, eigennützigen<br />

und insofern kriminellen Gewalt kann ein verständiger Bürger ohnehin<br />

niemals zustimmen. Gewaltmaßnahmen in ihrer maximal schmerzhaften<br />

Wirkung sind die ultima ratio utrinque. Da<strong>mit</strong> es zum äußersten nicht kommt,<br />

zum <strong>Krieg</strong> nämlich als der Abwesenheit jeglicher Normen, muss willkürliche<br />

Gewalt <strong>dem</strong> Recht und seiner Gewalt unterworfen werden. Das auf den Prinzipien<br />

der Freiheit und Gleichheit ruhende und politisch erkämpfte Recht erlaubt<br />

keine Privilegien, sondern gewährt Willkürfreiheit stets allen in gleicher Weise.<br />

Jede Gewährung <strong>von</strong> Privilegien auf Grund des Geschlechtes oder anderer leiblicher<br />

Merkmale, der Abstammung, einer vermeintlichen Rassenzugehörigkeit,<br />

der Sprache, der Heimat und Herkunft, des Glaubens oder einer religiösen oder<br />

politischen Anschauung ist vielmehr ein Akt willkürlicher, ergo illegitimer Gewalt.<br />

Eben darum schafft das Recht <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Rechtsstaat eine lückenlose, unhintergehbare,<br />

unausweichliche, letzte Verbindlichkeit sozialer Befehle, Regeln<br />

und Ordnungen, die sogar noch gegen den drohenden <strong>Krieg</strong> normierend handlungsfähig<br />

bleibt. Eine solche Verbindlichkeit wird durch einen politisch kräftigen<br />

Staat garantiert, der die Menschenwürde als Prinzip des Rechts anerkennt,


1.1 Anlass und Zweck, Ergebnis und Anlage der Studie 29<br />

und diesem Prinzip treu jegliche Rechtsgewalt hoheitlich, d.h. umfassend und<br />

nachhaltig monopolisiert, gewaltenteilig autorisiert und organisiert und verhältnismäßig,<br />

d.h. räumlich und zeitlich, psychisch und physisch, ideell und materiell<br />

differenziert einsetzt. Da Gewalt notorisch Gewalt gebiert, stehen staatliche<br />

Gewalten vor der paradoxen Aufgabe, ihre Eskalationshoheit zu wahren und zugleich<br />

deeskalierend zu wirken. Einen Bürger seiner Gewalt schlechthin zu berauben,<br />

die auch institutionell ver<strong>mit</strong>telt immer seine eigene bleibt, nähme ihm<br />

das Recht und die Freiheit. Angesichts unvermeidlicher Interessengegensätze<br />

zwischen Individuen leitet das regulative Ideal des gerechten Friedens die Legitimation<br />

des Einsatzes <strong>von</strong> rechtsstaatlicher Gewalt in der gesamten Sphäre des<br />

Rechts vom Privatrecht über das öffentliche Recht bis zum Völkerrecht. Im Rahmen<br />

internationaler Menschen- und Völkerrechtsordnungen sind die Staaten jedoch<br />

um der Garantenstellung für ihre Bürger gehalten, sich unabhängig <strong>von</strong><br />

ihrer Größe und Geschichte in ihrer Souveränität wechselseitig zu respektieren.<br />

Ein Weltstaat ist weder realistisch noch wünschenswert, eine globale Staatengemeinschaft<br />

und regionale Systeme kollektiver Sicherheit sind es aber durchaus.<br />

Menschen können sich ihrer äußeren Freiheit immer nur ver<strong>mit</strong>telt durch<br />

ihr Recht und ihren Staat und ihre Gewalten sicher sein. Der <strong>Krieg</strong> als Mittel<br />

zwischenstaatlicher Konfliktregulierung ist per definitionem kein Rechtsweg<br />

und deshalb geächtet. Die Staaten sind verpflichtet, ihre Bürger vor kriegerischer<br />

Gewalt durch geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahmen der<br />

Selbstverteidigung sowie durch Maßnahmen in Systemen kollektiver Sicherheit<br />

und unter Wahrung des Rechts bewaffneter Konflikte zu schützen. So gesehen<br />

sind ihre Bürger die eigentlichen Träger der dazu nötigen strategischen Kultur.<br />

7. Zum politischen Urteil: Die Bürger sollen den Formenkreis politischer Gewalt<br />

nie verlassen, denn an seine Stelle träte sofort die krude Gewalt des Naturzustands.<br />

Aber sie können die Spielräume politischer Macht, Gewalt und Herrschaft<br />

reflexiv erweitern und nutzen. Alle Bürger sollen staatspolitische Macht<br />

und hoheitliche Gewalt in Anerkennung und stellvertretender Mitverantwortung<br />

für alle da<strong>mit</strong> verbundenen Ambivalenzen und Kompromisse unterstützen<br />

und an ihre Bestimmung erinnern. Gegen die Perversion politischer Macht sollen<br />

sie <strong>mit</strong> geeigneten und zu ihrer eigenen Bestimmung passenden Mitteln Widerstand<br />

leisten. In Abwandlung eines Kant-Zitats: Weil Staaten ihre Kräfte nur<br />

allzu leicht auf eitle und gewaltsame Erweiterungen richten und so die politische<br />

Bildung ihrer Bürger hemmen, anstatt sie zu fördern, wenden die Bürger<br />

ihre kostbare Zeit und Aufmerksamkeit umso mehr auf ihre politische Bildung<br />

und die Durchsetzung und Pflege ihrer Rechte. Sie verlassen den Naturzustand,<br />

schützen die Schwachen, bilden Rechtsgemeinschaften in durchaus kultureller<br />

Verschiedenheit, verteidigen gewaltenteilige Herrschaft gegen die Despotie,<br />

übernehmen öffentliche Verantwortung, ermöglichen und gehen den Zug durch<br />

die Instanzen und setzen in internationalen Beziehungen auf Diplomatie und<br />

Kongress, durchaus hinterlegt durch militärische und polizeiliche Präsenz und<br />

Gewalt. Sie widerstehen Mandaten zu Militäroperationen, die nicht ausreichend


30<br />

1 Einleitung<br />

legitimiert sind. Sie üben ihr Urteilsvermögen und ihr Verhandlungsgeschick in<br />

realistischer Einschätzung des jeweiligen Niveaus normativer Bindung.<br />

8. Zur Strategie: Die Organisation <strong>von</strong> Gewaltordnungen und -handlungen<br />

trägt den Namen Strategie. Eine Strategie ist kein Plan, sondern ein iterativer<br />

Prozess der Planung <strong>von</strong> Maßnahmen unter Verwendung <strong>von</strong> Mitteln zur Erreichung<br />

<strong>von</strong> Zielen nach Maßgabe politischer Zwecke in gesellschaftlichen Kontexten<br />

gegen den Widerstand eines gewaltbereiten und hinreichend ebenbürtigen<br />

Gegners bei großer Unsicherheit und hohem Risiko. Um in keiner Phase<br />

eines Konfliktes die Handlungsfähigkeit zu verlieren, sich einseitig festzulegen<br />

und da<strong>mit</strong> u.a. auch den Raum ethischer Urteilsbildung einzuengen, stehen einer<br />

Strategie staatlichen Handelns idealtypisch alle operativen Instrumente zur<br />

Verfügung <strong>von</strong> der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Administration,<br />

Steuerung und Zusammenarbeit über die Diplomatie einschließlich der coercive<br />

diplomacy bis zu polizeilichen und militärischen Fähigkeiten. Bei der Abstimmung<br />

<strong>von</strong> Zwecken, Zielen und Mitteln wird die ganze Trias aus politischem<br />

Willen, gesellschaftlichem Kontext und operativen Fähigkeiten in Betracht genommen<br />

Überkommene Militärkulturen sind zu transformieren und zu integrieren.<br />

Der Gedanke der Strategie steht in Spannungen zu den Idealen kommunikativen<br />

Handelns. Auch beim Einsatz <strong>von</strong> bewaffneter Gewalt jedoch ist eine<br />

umfassende Strategie des flexible response theoretisch offen für das gesamte<br />

Spektrum vom Radikalpazifismus über den liberalen Institutionalismus und<br />

Konstruktivismus bis zum harten politischen Realismus, <strong>von</strong> der zivilen Konfliktprävention<br />

über die Verschränkung innerer und äußerer Sicherheit bis zur<br />

Nukleardoktrin. In letzter Instanz ist niemand neutral, jeder ist Partei, folglich<br />

schmiedet der Konflikt die Parteien in einer kommunikativen Reziprozität zusammen,<br />

und zwar in der Spirale der Eskalation durch die Verkettung gegenseitiger<br />

Verdächtigungen, in der Spirale der Deeskalation durch das durchaus gewagte<br />

Spiel gegenseitigen Vertrauens. Eine friedliche Lösung ist in <strong>dem</strong> Maße<br />

realistisch, wie es den Parteien gelingt, sich nicht gegenseitig, sondern den Konflikt<br />

als den eigentlichen »Feind« zu erkennen, den sie freilich nie »besiegen«,<br />

sondern bestenfalls <strong>von</strong> der Ebene des Naturzustandes auf den des bürgerlichen<br />

Zustands heben werden. Misstrauen kann ein notwendiges Übel sein, allein Vertrauen<br />

ist gut, es bedarf der Stärkung durch Kontrolle und Sanktion.<br />

9. Zur Kirche: Auch christliche Kirchen sollen ihre spezifisch kirchenpolitische<br />

Macht und interne Amtsgewalt nicht verschleiern, sondern öffentlich machen<br />

und rechtlich einhegen; zu staatspolitischer Macht sollen sie jedoch ganz<br />

entschieden nicht gelangen wollen und auch der Versuchung widerstehen,<br />

staatspolitische Macht zu legitimieren oder anarchistisch zu delegitimieren.<br />

Denn die eigentliche Bestimmung der Kirche ist die weltweite Sammlung der<br />

Gemeinschaft des Geistes und der Liebe als Hinweiszeichen auf das Reich Gottes.<br />

Durch tätige Liebe nach innen und nach außen, durch stellvertretendes Leiden,<br />

auch aber durch die Verfassungen ihrer Kirchen wirken Christen auf die<br />

Gesellschaft, in der sie leben. Ihr ethisches Urteil in Fragen des Privaten und<br />

der Politik gewinnen christliche Kirchen aus <strong>dem</strong> dialogischen Wechselverhält-


1.1 Anlass und Zweck, Ergebnis und Anlage der Studie 31<br />

nis zwischen ihrem historisch gewachsenen Ethos, entfaltet in einer ethischen<br />

Theologie, und <strong>dem</strong> Ethos anderer gesellschaftlicher Akteure in einer <strong>von</strong> allen<br />

gemeinsam getragenen, ebenfalls dynamischen säkularen Öffentlichkeit. In dieser<br />

zweiten Bewegung, in Ausarbeitung einer theologischen Ethik, appelliert die<br />

Kirche an die politische Vernunft, baut auf die Selbstdurchsetzungkraft des<br />

Rechtes und leidet solidarisch <strong>mit</strong> an seinen Mängeln und seinem Versagen im<br />

inner- wie auch im zwischenstaatlichen Bereich. Ihr politisches Engagement<br />

und ihr gewaltreduzierter Kampf, insbesondere ihre kritische Solidarität <strong>mit</strong><br />

Staaten als auf die Idee des Rechts verpflichteten Gewaltmonopolisten, wird eine<br />

Kirche unvermeidlich kompro<strong>mit</strong>tieren. Eine politisch mündige Kirche entzieht<br />

sich der diesbezüglichen Kritik nicht, auch und gerade nicht angesichts der zunehmend<br />

globalen Dimensionen menschlicher Machtausübung und Gewaltprojektion.<br />

Vielmehr lernt sie aus solcher Kritik. Ganz gleich, ob aus einer Minderheits-<br />

oder einer Mehrheitsposition heraus, Kirchen sind durch ihre Bestimmung<br />

als Botschafter des um Versöhnung bittenden Christus (2 Kor 5, 20) immer<br />

gefordert, ihre Stimme nach innen und nach außen für eine aufgeklärte<br />

Säkularität zu erheben, die der Kritik Raum gibt. Als wichtige Hüterinnen kultureller<br />

Gedächtnisse über Jahrhunderte hinweg sind Kirchen fähig und berufen,<br />

»dritte Orte« nicht nur für Fragen des politischen Alltags, sondern für die<br />

Gestaltung einer Politik des Menschrechts in größeren geographischen Räumen<br />

und historischen Dimensionen bereitzustellen. Sie engagieren sich exemplarisch<br />

in ihnen naheliegenden Handlungsfeldern. Aus der Erfahrung christlicher<br />

Freiheit sollen Christen die bürgerliche Freiheit in republikanisch-konstitutionellen<br />

Demokratien allen anderen Herrschafts- und Regierungsformen vorziehen.<br />

Wenn denn als Beispiel ein Projekt politischer Ethik <strong>von</strong> welthistorischem<br />

Rang genannt werden soll, dann ist dies zurzeit die Verfassung der europäischen<br />

Demokratie, denn hier entscheidet sich, ob das Modell einer halbkontinentalen<br />

Einigung nicht durch <strong>Krieg</strong>e und autoritäre Regime, sondern durch geduldige<br />

Republikanisierung gelingt oder scheitert. Ohne solche Einigungen<br />

fehlten die politischen Subjekte zur Bewältigung der derzeitigen globalen Herausforderungen.<br />

Impulse aus christlichen Kirchen hierfür sind willkommen.<br />

2. Anlage: Zur Entfaltung und Begründung dieser Thesenreihe verwendet diese<br />

Studie in einem interdisziplinären Horizont die Methode der systematisierenden<br />

Verbindung <strong>von</strong> diskursiven Analysen ausgewählter Quellen, Kommentare<br />

und Literaturberichte. Mit diesem Vorgehen sollen Maßstäbe erschlossen werden<br />

für die ethische Beurteilung der Ausübung staatlicher Gewalt.<br />

Das Hauptgewicht liegt auf der Kritik der Gewalt, also auf der sechsten<br />

These, die in den fünf ersten Thesen vorbereitet und in den drei letzten praktisch<br />

ausgelegt wird. Im protestantisch-theologischen Diskurs zu Gewalt, Staat<br />

und Recht stellt sie sich in die Tradition, die <strong>mit</strong> den Leitbegriffen des Gerechten<br />

Friedens und der Ethik rechtserhaltender Gewalt argumentiert, sie vertieft zum<br />

einen deren philosophische und theologische Entwicklung und Begründung und<br />

erörtert zum anderen deren Folgerungen für die beharrliche Arbeit an der Über-


32<br />

1 Einleitung<br />

windung bewaffneter Massengewalt. Das Thema der kirchenrechtlichen und kirchenpolitischen<br />

Macht, die in der neunten These einen eigenen Platz erhalten<br />

hat, soll in der folgenden Ausarbeitung nur hier und da kurz gestreift werden.<br />

Ausführlich begründet werden die Thesen in fünf Kapiteln.<br />

Die weiteren einleitenden Abschnitte führen in die Begriffe Politik und<br />

Ethik ein. Um beide einander gegenüberzustellen, wird zuvor ein funktionaler<br />

Begriff <strong>von</strong> Kultur als Praxis und noch pointierter <strong>von</strong> Religion skizziert als ein<br />

Rahmen, der Politik und Ethik umgreift. Erst nämlich, wenn eine kulturübergreifend<br />

formal zustimmungsfähige Grundlage für die ethische Urteilsbildung<br />

bestimmt ist, kann eine materiale Füllung wie die im fünften Kapitel vorgestellte<br />

Beurteilung politischer Gewalt durch eine Ethische Theologie kritisch gegen ihren<br />

säkularen Hintergrund hervorgehoben werden.<br />

Das zweite Kapitel umreißt anhand <strong>von</strong> drei Stichworten – Modernität, Universität<br />

und Globalität – die historischen Hintergründe der Herausforderungen,<br />

die eine politische Ethik als prononcierte Ethik politischer Gewalt gegenwärtig<br />

zu bewältigen hat. Dabei geht es auch um einzelne Sachfragen, mehr aber um<br />

die Thematisierung politischer Theoriebildung im Horizont historischer Soziologie,<br />

um »Zivilisation«, »Wachstum der Staatsgewalt« und »Modernisierung«<br />

also um Inbegriffe <strong>von</strong> Prozessen kultureller Evolution, die maßgebliche Programme<br />

anzeigen, auf die sich normative Diskurse beziehen.<br />

Das dritte Kapitel eröffnet anhand neutestamentlicher Texte, die einen starken<br />

Bezug auf Politik aufweisen – <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Schwerpunkt auf Röm 13, 1-7 – den<br />

Blick auf den Entstehungs- und Entdeckungszusammenhang des im fünften Kapitel<br />

entfalteten christlich-theologischen Ansatzes. Aus den exegetischen Befunden<br />

werden sodann systematische Aussagen entwickelt und zusammengestellt,<br />

die geeignet sind, zur Begründung eines christlichen Ethos im Feld des Politischen<br />

beizutragen. Diese Aussagen erzeugen in der Summe einen knappen, aber<br />

durchaus markant eingegrenzten Erwartungshorizont für die anschließende Suche<br />

nach weiteren Beiträgen in den Archiven der politischen Ideengeschichte,<br />

um alles zusammen in die theologische Kommentierung einer Ethik politischer<br />

Gewalt münden zu lassen.<br />

Das vierte Kapitel geht zunächst <strong>von</strong> der These aus, dass die politische Philosophie<br />

der Neuzeit in der Rechtsmetaphysik Immanuel Kants kulminiert, und<br />

zwar vor allem in Verbindung <strong>mit</strong> seiner Kritik der Urteilskraft. Was spricht für<br />

diese These? Es ist die Rezeptionen <strong>von</strong> Quellen des antiken mediterranen<br />

Raums, vornehmlich der im vierten Kapitel vorgestellten biblischen Tradition<br />

und der Werke Platons und Aristoteles, die in Scholastik, Renaissance, Reformation<br />

und Aufklärung an die Schwelle dessen führt, was beginnend im 17. Jh.<br />

als politische Philosophie der Neuzeit gefasst werden kann. Jene Schwelle wiederum<br />

lässt sich markieren <strong>mit</strong> Hobbes, Rousseau und Kant. Von Kant ausgehend<br />

erschließen sich politische Denker wie Fichte, Hegel, Marx, Weber, Arendt,<br />

Rawls, Walzer und Habermas. Wer an der These der Kulmination zweifelt, wird<br />

immerhin einräumen müssen, dass Kant doch als sehr häufig aufgesuchter


1.1 Anlass und Zweck, Ergebnis und Anlage der Studie 33<br />

Treffpunkt gelten kann für Erörterungen in Fragen neuzeitlicher politischer Philosophie.<br />

Alles weitere muss die weitere Ausfertigung der These zeigen.<br />

Und die beginnt wie folgt: Der Religionsphilosoph Kant kann – nicht aus der<br />

theologischen Sicht des 18. und des 19. Jhts., wohl aber im heutigen Rückblick<br />

– als der bedeutendste Theologe des 18. Jhts. gelesen werden. Deshalb ist der<br />

»Streit der Fakultäten« neu zu konfigurieren und dergestalt nach systematischen<br />

Einsichten zu forschen, dass die Disziplinen sich weniger gegeneinander<br />

abschotten, sondern sich vielmehr konstruktiv-kritisch herausfordern. Denn <strong>mit</strong><br />

seiner epochalen subjektphilosophischen Wende hat Kant im 18. Jh. Wege gebahnt,<br />

auf denen der protestantische Theologe Schleiermacher im 19. Jh. die<br />

geschichtlichen Konstitutionen des menschlichen Selbstbewusstseins so gefasst<br />

hat, dass sie unter <strong>dem</strong> Leitbegriff der »Religion« als Frucht einer jeweils gewachsenen<br />

Glaubensgewissheit und da<strong>mit</strong> auch als Grundlage eines Ethos verständlich<br />

werden. Die Untersuchung und Auslegung dieses Ethos ist die Aufgabe<br />

einer Ethischen Theologie, in welche schließlich der Entwurf einer theologischen<br />

Ethik des Rechts samt einer angewandten Ethik politischer Gewalt eingezeichnet<br />

werden kann.<br />

Das fünfte Kapitel führt die ausgewählten Linien zusammen zu einer Ethik<br />

des Politischen zwischen Feindesliebe und rechtserhaltender Gewalt <strong>mit</strong> <strong>dem</strong><br />

Fokus auf das Recht und den an das Recht gebundenen Staat. Dazu nimmt es<br />

Argumentationsmuster unter der Programmformel der Ethischen Theologie auf,<br />

ergänzt und korrigiert sie um neue Gesichtspunkte, transformiert sie in eine<br />

theologische Ethik und legt alles zusammen an den maximal problematischen<br />

Fall des Einsatzes bewaffneter Massengewalt an. Um das Fazit hier hypothetisch<br />

einzuführen: Dem bundestheologisch-christologisch begründeten christlichen Bekenntnis<br />

zu der <strong>von</strong> Kant klassisch ausgelegten Rechtsidee entspricht die kritische<br />

Solidarität <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> positiven Recht und einem politisch kräftigen Rechtsstaat, in<br />

der Grundtendenz sogar <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> <strong>dem</strong>okratischen Staat und seiner Einordnung in<br />

internationale Systeme kollektiver Sicherheit. Durch die kritische Distanz zur Politik<br />

gewinnt der Glaube den Raum, die mythischen Energien des Politischen<br />

nicht einfach zu leugnen, geschweige denn zu tilgen, sondern umzuleiten und<br />

einer alternativenreichen Reorganisation zuzuführen. Der Beitrag des christlichen<br />

Glaubens zur politischen Kultur besteht, so gesehen, tatsächlich in der<br />

»Pflege des Verbindenden, das politischen Streit sowie politische Entscheidungen<br />

ermöglicht und zugleich begrenzt.« 26 Aber um das leisten zu können, muss<br />

zuvor ein qualifizierter Begriff des Politischen einschließlich des Begriffs politischer<br />

Gewalt erarbeitet werden.<br />

In allen Kapiteln soll die seit Hegel übliche historische Distanz zu den Stoffen<br />

gewahrt bleiben. Dann aber leitet weder museales noch spekulatives Interesse<br />

deren Auslegung, sondern die Erwartung, <strong>von</strong> ihnen, <strong>mit</strong> ihnen und zusammen<br />

<strong>mit</strong> vielen, die ebenfalls <strong>von</strong> und <strong>mit</strong> diesen Stoffen arbeiten, politisch<br />

aufgeklärt denken zu lernen. Diese Studie geht nicht da<strong>von</strong> aus, einem alles<br />

26<br />

Albrecht / Anselm (2017): Öffentlicher Protestantismus, 61.


34<br />

1 Einleitung<br />

beherrschenden Geist auf der Spur zu sein, sie wird Bedürfnisse enttäuschen<br />

nach Essentialismen, ultimativen Dualismen, moralischen Letztbegründungen<br />

und Metaphysik als Tröstung oder Pose. 27 Die Ambitionen – die gründliche Einleitung,<br />

der historische Ansatz sowie die Interdisziplinarität – liefern gewiss<br />

viele Angriffspunkte. Aber nötigen nicht der Problemdruck der Globalisierung<br />

und die Fragmentierung überkommener Gewissheiten jeden wachen Zeitgenossen<br />

dazu, den Versuch zu machen, sich in einem erweiterten Horizont politischethisch<br />

zu orientieren? 28 Jeder Leser ist eingeladen, die blinden Flecken dieser<br />

Studie aufzuspüren. 29<br />

27<br />

Es kann nicht meine Absicht sein, das gesamte Potenzial auch nur meiner wenigen<br />

Quellen auszuschöpfen. Wenn ich in je<strong>dem</strong> Abschnitt einen jeweils kursorischen Überblick<br />

über das weitere Feld gebe, so deshalb, um den Blick auf Weichenstellungen zu<br />

richten, die Theologen und andere Denker vornehmen, wenn sie die dargelegten Stoffe<br />

in schöpferischer und kritischer Revision aufnehmen, ordnen und auslegen oder verwerfen<br />

und durch andere ersetzen. Ich mache auch nicht den Versuch, auf 1.200 Seiten die<br />

Grundlagen einer universalen Politischen Ethik für das 21. Jh. zu liefern; vgl. Hösle<br />

(1997): Moral und Politik. Umgekehrt denke ich aber auch nicht, alle Fragen der Politischen<br />

Ethik wären bereits hinreichend geklärt. Wir müssen zwar das Rad politischer<br />

Vernunft nicht neu erfinden, aber doch deutlich mehr tun, als nur zu lernen, wie man<br />

da<strong>mit</strong> gut fährt; vgl. Dabrock (2018): Konkrete Ethik in fundamentaltheologischer Perspektive,<br />

22-25. Angesichts dramatisch steigender globaler Risiken stellt sich doch die<br />

Frage, wie denn die klaffende Lücke zwischen Normenproduktion auf der einen Seite<br />

und tagtäglichem Bruch der Normen im innerstaatlichen, vor allem aber auch im zwischenstaatlichen<br />

Bereich geschlossen werden kann; vgl. Fazal (2018): Wars of Law. Die<br />

Politologin argumentiert, ausgerechnet die zunehmende Verrechtlichung bewaffneter<br />

Konflikte führe zur strategischen Umgehung der gesetzten Normen; vgl. dazu auch die<br />

Beiträge Jäger / Brock (2020, Hrsg.): Frieden durch Recht – Anfragen an das liberale<br />

Modell. Sie folgert daraus nicht, die Normen abzuschaffen, sie will vielmehr verstehen,<br />

wo und warum Recht eingehalten wird und worin die Anreize zu seiner Umgehung bestehen.<br />

Die Rechtsethik kann ihr dabei entgegenkommen, in<strong>dem</strong> sie die Möglichkeiten<br />

und Grenzen <strong>von</strong> Recht und rechtserhaltender Gewalt grundsätzlich aufzeigt.<br />

28<br />

Gute historische Vorlagen liefert Jürgen Osterhammel: Osterhammel (2009): Die Verwandlung<br />

der Welt; Osterhammel / Petersson (2012 5 ): Geschichte der Globalisierung; Osterhammel<br />

(2017): Die Flughöhe der Adler.<br />

29<br />

Viele Themen werden in dieser Studie eine gewisse Strecke vorangetrieben, dann<br />

wieder verlassen, später erneut angesprochen und weiter untersucht. Dieses zirkuläre<br />

Vorgehen erscheint bei allem Bemühen um Stringenz in der Argumentation angesichts<br />

des Umfangs und der interdisziplinären Komplexität des Untersuchungsgegenstandes<br />

als vertretbar. Der rote Faden soll gleichwohl durch eine sorgfältige Leserführung an den<br />

Überleitungen der Abschnitte und Kapitel ständig sichtbar bleiben. In den Fußnoten erscheinen<br />

die Belegorte der Zitate sowie Hinweise auf Aspekte, die in den jeweils bearbeiteten<br />

Themen über kurz oder lang noch an Bedeutung gewinnen können, sowie nach<br />

eigener Überprüfung ausgewählte aktuelle Literatur zur Vertiefung. Gegen die Neigung,<br />

Thesen ungeprüft und ohne Belege zu übernehmen, werden Quellentexte besser zu viel<br />

als zu wenig zitiert.


1.2 Kultur- und religionstheoretischer Rahmen 35<br />

1.2 Kultur- und religionstheoretischer Rahmen<br />

Es folgen nun vier Abschnitte, in denen Begriffsfelder zu Religion, Ethik, Politik<br />

und Ethischer Theologie ausgebreitet werden. Die ersten drei stellen einen Rahmen<br />

für das vierte Feld. Sie benennen kulturtheoretische Annahmen und Voraussetzungen<br />

für die Entfaltung einer theologisch kommentierten Ethik politischer<br />

Gewalt. Sowohl der Begriff des Ethischen als auch der des Politischen zielt<br />

auf ein großes Ganzes, das zunächst als Kultur thematisiert wird: Kultur als Inbegriff<br />

des umfassenden produktiven und konfliktträchtigen menschlichen Anspruchs,<br />

etwas aus seinen Verhältnissen und aus sich selbst zu machen. 30 Innerhalb<br />

des Inbegriffs menschlicher Produktivität umfasst der in dieser Studie<br />

verwendete Begriff Religion das gesamte Forum symbolischer Kommunikation<br />

und Ordnung, in welchem Sprache, Kunst, Recht und Politik und Wissenschaft<br />

einschließlich der Ethik und der Theologie eingezeichnet werden können. Religion<br />

gibt all diesen symbolischen Formen Raum oder nimmt sie ihnen. Religion<br />

und Politik haben in der Religions- und in der Politikwissenschaft ihre je eigenen<br />

Räume disziplinärer Befassung. Philosophie und Ethische Theologie des Politischen<br />

als wissenschaftliche Disziplinen schlagen den normativen Bogen <strong>von</strong><br />

der Kultur- und Religions- zur Politikwissenschaft.<br />

Mit der Ausbreitung eines begrifflichen Instrumentariums zu den Begriffsfeldern<br />

Religion, Ethik und Politik sollen maßgebliche Kontroversen so vorgestellt<br />

werden, dass nachvollziehbar wird, in welcher Weise eine christliche Theologie<br />

im Forum <strong>von</strong> Religion zu Politik Stellung bezieht. Letztlich entgeht man<br />

auch da<strong>mit</strong> nicht einer gewissen Zirkularität. Denn man kann zwar kultur- und<br />

religionsgeschichtlich leicht zeigen, dass die Begriffe Ethik und Politik schon da<br />

waren, als es das Christentum noch gar nicht gab, vom Begriff der Religion im<br />

modernen Gebrauch aber kann man das nicht sagen, er dürfte stark vom Modell<br />

eines modernen Christentums geprägt sein. Es bedarf also zur konstruktiven<br />

Bewährung in der Konfliktzone »Religion« eines behutsamen Wechsels zwischen<br />

Konzilianz und Konfrontation. Anstatt ethische Leitbegriffe und Konzepte<br />

kurzerhand als theologisch zu requirieren, soll in dieser Studie – aus Respekt<br />

vor Andersdenkenden und eingedenk der zivilgesellschaftlichen Funktion <strong>von</strong><br />

Religion – ausgelotet werden, inwieweit solche Begriffe erst einmal kulturinvariant<br />

bestimmt werden können, um dann theologisch-ethische Akzentuierungen<br />

hervorzuheben.<br />

30<br />

Vgl. die hilfreiche Abgrenzung dieses Begriffs <strong>von</strong> Kultur <strong>von</strong> <strong>dem</strong> eines Synonyms<br />

zu Luxus und <strong>von</strong> einem weiteren Begriff <strong>von</strong> Kultur im Sinne eines Exemplars – Kultur<br />

A, Kultur B etc. – der Gattung »Kulturen« bei Recki (2004): Kultur als Praxis, 19-26.


36<br />

1 Einleitung<br />

1.2.1 »Religion«: Forum symbolischer Kommunikation<br />

Religion und Politik stehen in einem erheblichen Spannungsverhältnis: Auf der<br />

einen Seite stehen ganze »konstantinische« Zeitalter sogar untereinander heftig<br />

konkurrierender Konzepte völliger Verschmelzung, auf der anderen Seite steht<br />

die »säkulare« Forderung, beides strikt auseinanderzuhalten. Angesichts der<br />

Leidenschaft, <strong>mit</strong> der diese Kontroverse die Geister bewegt, ist zu fragen, inwiefern<br />

Religion und Politik überhaupt <strong>mit</strong>einander ins Gehege kommen können.<br />

»Religion«, »Ethik« und »Politik« oder auch »Menschheit« oder »Weltgesellschaft«<br />

stehen für Versuche, <strong>mit</strong>tels ambitionierter Begriffe ein großes Ganzes<br />

»global« oder »universal« in den Blick zu nehmen. Und jedes Mal geht es dabei<br />

um eine erhebliche Akkumulation <strong>von</strong> Macht und die Entmachtung jeweiliger<br />

Alternativen. Das Thema Religion und Politik ist also exemplarisch im Rahmen<br />

einer Theorie der Macht anzugehen. Meine These lautet: Das Ergebnis einer<br />

macht- und ideologiekritischen Untersuchung des Religionsbegriffs ist auch bestimmend<br />

für die Behauptung oder Bestreitung der Legiti<strong>mit</strong>ät des Politischen und da<strong>mit</strong><br />

für die Möglichkeit und Anlage eine Ethik politischer Gewalt. Soll Politik Religion<br />

zur Legitimierung beanspruchen oder nicht? Und soll Religion sich dazu<br />

anbieten, und bedarf sie ihrerseits der Legitimation u.a. durch Politik? Um die<br />

Richtung schon einmal anzudeuten: Menschen berauben sich in hohem Maße<br />

ihrer geistigen und auch materiellen und politischen Freiheit, wenn sie die<br />

Funktion <strong>von</strong> Religion als <strong>dem</strong> generativen Forum autonomer Formen verkennen<br />

und sie anderen Zwecken – und sei es auch den hehren Zielen einer Moral<br />

oder einer Politik – unterwerfen. 31<br />

Die Annäherung an einen funktionalen Religionsbegriff soll in drei Schritten<br />

erfolgen: Im ersten Schritt soll Religion in Anlehnung an den Philosophen<br />

Ernst Cassirer als Forum und Kontext der je eigenständigen und grundlegenden<br />

symbolischen Formen Mythos, Sprache und Erkenntnis, erweitert um Kunst,<br />

Technik, Moral und Recht, ausgewiesen werden. Religion soll zweitens in den<br />

Zusammenhang der konflikttheoretischen Überlegungen zu Zivilisation und<br />

symbolischer Kommunikation des Soziologen Norbert Elias gestellt werden, um<br />

die Frage aufzunehmen, ob und wie Religion Prozesse der Kultur- und Zivilisationsbildung<br />

und ihre Deutungen beeinflusst, ihn mal fördert und mal bedroht<br />

und dies bis in unsere Gegenwart. Schließlich soll unter den Stichworten »Weltverantwortung<br />

und Weltauslegung« die Möglichkeit erörtert werden, Religion<br />

und Religionskritik als Raum einer kritischen Auseinandersetzung <strong>mit</strong> unterschiedlichen<br />

Weisen der Wirklichkeitsdeutung zu nutzen. Wie nun und <strong>mit</strong><br />

31<br />

Da ich nach <strong>dem</strong> Vorwort und den Eingangsthesen hier zum ersten Mal in dieser<br />

Studie den Begriff der Freiheit verwende und meine »Ethik politischer Gewalt« als Entfaltung<br />

des Begriffs politischer Freiheit angelegt ist, verweise ich schon hier auf die Erläuterung<br />

des dafür grundlegenden kantischen Freiheitsbegriffs im Kapitel 4.2. Kant und<br />

seinen »religiösen« Entdeckungszusammenhang, den ich im dritten und vierten Kapitel<br />

anhand exemplarischer Quellen ausleuchte und im fünften Kapitel systematisch in einen<br />

Begründungszusammenhang transformiere.


1.2 Kultur- und religionstheoretischer Rahmen 37<br />

welchen Ergebnissen die christliche Bestimmung <strong>von</strong> Religion in ihrer Theologie<br />

die Auswahl und Auslegung ihrer Quellen in dieses Konzert der Disziplinen<br />

einbringen kann, das stellt sich die vorliegende Studie zur Aufgabe. Insbesondere<br />

ist am Ende dieser Einleitung zu klären, in welcher Weise eine Ethische<br />

Theologie Religion als Forum für die kritische Kommentierung des Politischen<br />

nutzen soll. Ausgeführt wird diese Kommentierung dann im fünften Kapitel.<br />

1. Religion als Forum symbolischer Formen: Was also ist Religion? Religion ist<br />

<strong>von</strong> gestern? Religion ist vitaler denn je? Religion ist gefährlich? Auf seine Religion<br />

kann man sich verlassen? Ohne Religion ist kein Staat zu machen? Wie<br />

auch immer wir diese Fragen beantworten, sie lassen sich vermutlich adäquater<br />

diskutieren, wenn wir zunächst klären, wo<strong>von</strong> wir überhaupt reden. Eine These:<br />

Religion ist Weltsprache. Auf den ersten Blick könnte man sogar meinen, wer<br />

in dieser Sprache zu Hause ist, fände sich besser in der Welt zurecht. So einfach<br />

aber ist es nicht. Sprache eignet sich ebenso dazu, Informationen zu ver<strong>mit</strong>teln<br />

wie sie zu verbergen. Ähnlich ist es <strong>mit</strong> Religion, sie kann mächtige Bilder privilegieren,<br />

die die Welt entweder erhellen oder verdunkeln. 32<br />

Deshalb ist es<br />

wichtig, sie kritisch in den Blick zu nehmen.<br />

Eine erste Definition im Anschluss an den <strong>von</strong> 1919 bis 1933 in Hamburg<br />

lehrenden Ernst Cassirer: Religion ist Forum, Ensemble, Kontext und Komposition<br />

aus Mythos, Sprache, Kunst und Erkenntnis als je eigenständigen symbolischen<br />

Formen. Religion literarisiert und inszeniert insbesondere die mythischen<br />

Stoffe, aus denen Menschen weitere symbolische Formen generieren und<br />

<strong>mit</strong>tels dieser wiederum symbolische Ordnungen errichten, in denen sie sich<br />

orientieren. Religion stellt hierfür <strong>dem</strong> mythischen Bewusstsein eine Vielfalt<br />

ästhetischer Ausdrucks- und Darstellungsformen, legal-rationaler Kodifizierungen<br />

und institutioneller Rahmungen zur Verfügung. Und das mythische Bewusstsein<br />

im Sinne sinnlich-bildlicher Veranschaulichung ist nichts, was Menschen<br />

jemals abstreifen und hinter sich zurücklassen könnten. Nicht nur kulturelle<br />

Gewohnheiten und politische Überzeugungen, selbst die Sprache mathematischer<br />

und naturwissenschaftlicher Erkenntnis bedarf zur Interpretation<br />

und Ver<strong>mit</strong>tlung ihrer abstrakten Formeln sinnlicher Ausdrucks- und Darstellungsformen<br />

wie Punkt und Linie, Masse und Energie, Feld, Raum und Zeit. Wer<br />

sich auf die Komplexität und Wechselwirkung dieser verschiedenen Aspekte<br />

einlässt, betritt ein räumlich und geschichtlich weites Forum, <strong>dem</strong> man durchaus<br />

treffend und erhellend einen eigenen Namen geben kann, den der Religion.<br />

32<br />

Aberglauben, Absurdität und Opportunismus zählen zu den verbreiteten menschlichen<br />

Schwächen, Inbrunst und kindliche Naivität haben hier und da ihr Recht, und sie<br />

können sich <strong>mit</strong> allem möglichen verbinden, gewiss auch <strong>mit</strong> Religion, aber ebenso <strong>mit</strong><br />

Wissenschaft, Kunst und Philosophie, <strong>mit</strong> Politik und Geld. Niemand sollte sich über<br />

derlei Schwächen und Eigenheiten erhaben fühlen; irgendeine Esoterik pflegt vermutlich<br />

jeder; vgl. Hood (2009): SuperSense: Why We Believe in the Unbelievable; Hendrix /<br />

Shannon (2012): Magic and the Supernatural.


38<br />

1 Einleitung<br />

Während Immanuel Kant danach fragt, was eigentlich genau geschieht,<br />

wenn wir Erfahrungen machen, während die moderne Sprachphilosophie untersucht,<br />

wie wir uns <strong>mit</strong>tels unserer Sprache eine geistige Welt erschaffen, forscht<br />

Cassirer nach der Bedingung der Möglichkeit <strong>von</strong> Bedeutung. 33 Wie kommt es,<br />

dass einem Menschen etwas nicht nur als Reiz instinkthaft auffällt, sondern<br />

dass etwas ihm etwas bedeutet? Da ist beispielsweise ein Strich auf einer Fläche.<br />

Bedeutet der irgendetwas? Ist er ein »Text«, den es zu lesen lohnte? Irgendeine<br />

Ursache muss er haben. Es könnte sich um einen beiläufigen Kratzer handeln<br />

oder auch um eine Linie, die zwei Punkte verbinden soll oder um ein rituelles<br />

Zeichen oder ein künstlerisches Ornament oder auch um den Beginn einer Aufzählung.<br />

Wie kann es sein, dass der für sich genommen gleiche – nicht derselbe<br />

(!) – Strich je nach Kontext und Komposition einmal gar nichts und einmal dieses<br />

und ein andermal jenes darstellt und bedeutet?<br />

Cassirer schlägt vor, Wahrnehmen, Vorstellen, Sprechen, Erfahren und Erkennen<br />

als Sonderfälle <strong>von</strong> Bedeutungsgebung zu betrachten. Oder besser umgekehrt:<br />

wenn wir verstehen, wie Bedeuten funktioniert, dann verstehen wir<br />

auch besser, wie Kommunikation grundsätzlich und in sehr unterschiedlichen<br />

Formen funktioniert. Was Cassirer vorschwebt, ist »eine Art Grammatik der<br />

symbolischen Funktion als solcher, durch welche deren besondere Ausdrücke<br />

und Idiome, wie wir sie in der Sprache und in der Kunst, im Mythos und in der<br />

Religion vor uns sehen, umfaßt und generell <strong>mit</strong>bestimmt würden«. 34 Bedeutung<br />

ist Befrachtung eines Gegebenen <strong>mit</strong> Sinn. Cassirer spricht <strong>von</strong> »symbolischer<br />

Prägnanz«. 35 Etwas trägt etwas anderes aus, ist schwanger, trächtig, fruchtbar,<br />

ergiebig, gehaltvoll (lat. praegnans), also voller Bedeutung, ergo Text, ergo Symbol.<br />

»Unter ›symbolischer Prägnanz‹ soll also die Art verstanden werden, in der<br />

ein Wahrnehmungserlebnis, als ›sinnliches Erlebnis‹, zugleich einen bestimmten<br />

nicht-anschaulichen ›Sinn‹ in sich faßt und ihn zur un<strong>mit</strong>telbaren konkreten<br />

Darstellung bringt.« 36<br />

Und Bedeutung findet man nicht einfach vor, sie fällt auch nicht vom Himmel,<br />

es sind vielmehr Menschen, die sinnliche Wahrnehmungen im Zuge einer<br />

geistigen Leistung im Mythos, in der Sprache, in der Erkenntnis, in der Kunst,<br />

im Recht 37 und in der Technik jeweils anders auffassen, anders verstehen und<br />

anders deuten und anders ausdrücken und prägen und in diesen Deutungen und<br />

Bedeutungsgebungen die genannten »symbolischen Formen« allererst erprobend,<br />

entdeckend, verweisend, begründend, verwendend erschaffen. Die hier<br />

aufgezählten Sphären teilt Cassirer deshalb in verschiedene »symbolische Formen«<br />

ein, da sie, obwohl sie keineswegs strikt <strong>von</strong>einander getrennt, sondern<br />

stets überlappend erscheinen und sich oftmals sogar gegenseitig durchdringen,<br />

33<br />

34<br />

35<br />

36<br />

37<br />

Vgl. zum Folgenden ausführlich Graeser (1994): Ernst Cassirer, 28-50.<br />

Cassirer (1923-1929, 1994 10 ): PSF I, 19.<br />

Vgl. Cassirer (1923-1929, 1994 10 ): PSF III, 235-237.<br />

Cassirer (1923-1929, 1994 10 ): PSF III, 235.<br />

Vgl. Moxter (2012): Recht als symbolische Form?.


1.2 Kultur- und religionstheoretischer Rahmen 39<br />

sich dabei jedoch niemals subsummieren oder ersetzen können. Er versteht unter<br />

einer symbolischen Form »jene Energie des Geistes, durch welche ein geistiger<br />

Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem<br />

Zeichen innerlich zugeeignet wird. In diesem Sinne tritt uns die Sprache,<br />

tritt uns die mythisch-religiöse Welt und die Kunst als je eine besondere symbolische<br />

Form entgegen«. 38<br />

Cassirer betont, dass neben Mythos und Sprache auch Erkenntnis, Kunst,<br />

Technik, Moral und Recht, Geschichte und einmal sogar Wirtschaft als jeweils<br />

autonome und gleichrangige Formen symbolischer Kommunikation gelten können.<br />

Mythos, Sprache und Kunst sind – gegen Hegel – keineswegs nur als unausgereifte<br />

Vorstufen der Erkenntnis zu sehen. »Wenn Cassirer in dieser Weise<br />

das Wort ›Symbol‹ auf alles Sinnliche anwendet, das als bedeutungsvolles Zeichen<br />

funktioniert, und andererseits behauptet, alles Sinnliche sei sinnhaft, so<br />

ist alles Sinnliche per definitionem Symbol bzw. symbolisch«. 39 Dieser zuweilen<br />

inflationär anmutende Einsatz des Symbolbegriffs dient <strong>dem</strong> Zweck, den emanzipatorischen<br />

und produktiven Charakter jeglicher menschlicher Kommunikation<br />

als das allen Formen Gemeinsame herauszustellen, um nämlich am spezifischen<br />

Material der Regionen geistiger Gestaltung »durch rückschließende und<br />

rekonstruierende Betrachtung den Zugang zum Bereich der Subjektivität zu gewinnen«.<br />

40 Nie geht es darum, gegebene Wirklichkeit abzubilden, sondern einen<br />

sowohl differenzierten als auch konsistenten Gestaltungsraum namens Wirklichkeit<br />

allererst hervorzubringen.<br />

Um die spezifische Leistungsfähigkeit jeder symbolischen Form herausstellen<br />

zu können, unterscheidet Cassirer in Prozessen der Bedeutungsgebung drei<br />

Bewusstseins- oder geistige Grundfunktionen. Die Ausdrucksfunktion notiert<br />

bereits mehr als nur einen Komplex sensorisch einfließender Daten, sondern<br />

nimmt bereits produktiv, aber noch intuitiv, selbstverständlich und ohne aufwändige<br />

Begründung einen Kratzer als Spur, einen Strich als Zahl, einen Blick<br />

als Appell, einen Stein als Schwelle, ein Gewebe als Muster, einen Handschlag<br />

als Begrüßung, ein Wasserzeremoniell als Herbeirufung des ersehnten Regens.<br />

Diese Un<strong>mit</strong>telbarkeit des intuitiven Verhaltens zeigt sich besonders im Mythos.<br />

Im mythischen Denken ist der Trauernde seinen Toten an den Gräbern<br />

nahe, deshalb sucht er nicht etwas <strong>von</strong> ihnen, sondern sie selbst dort regelmäßig<br />

auf, spricht zu ihnen und feiert <strong>mit</strong> ihnen. Primatenmütter tragen ihre verstorbenen<br />

Jungen noch eine ganze Weile <strong>mit</strong> sich, bis sie für sie »bedeutungslos«<br />

werden und sie irgendwo liegenlassen. Im Tragen drückt sich die Bindung aus,<br />

im Weglegen deren Abklingen.<br />

38<br />

Cassirer (1922, 1994 8 ): Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften,<br />

175. Die Formulierung ist etwas missverständlich, da nicht erst das Zeichen<br />

da ist, und ihm später eine Bedeutung gegeben wird, vielmehr fällt beides zusammen,<br />

im Zuge einer Bedeutungsgebung entsteht das Zeichen als Bedeutungsträger.<br />

39<br />

Graeser (1994): Ernst Cassirer, 37.<br />

40<br />

Cassirer (1923-1929, 1994 10 ): PSF III, 78.


40<br />

1 Einleitung<br />

Die Darstellungsfunktion zeigt sich in der zu Sätzen ausgebauten Sprache,<br />

die auf un<strong>mit</strong>telbaren und ausdrucksvollen stimmlichen Äußerungen wie Ah,<br />

Oh und Au und auch auf einfachen syntaktischen Verbindungen wie etwa denen<br />

<strong>von</strong> Tiersprachen aufbaut, dann aber deutlich über diese hinausgeht. Bereits ein<br />

spontaner Laut in der Bekundung einer plötzlichen Lust- oder Schmerzempfindung<br />

wird auf der Ebene der Darstellung zu Sprache sowohl als Werk als auch<br />

als schöpferischer Prozess, in <strong>dem</strong> viele weitere Ausdrücke in einen komplexen<br />

syntaktischen Zusammenfluss eingereiht werden, der wiederum eine logische<br />

und zeitlich-räumliche Richtung des Denkens einschlägt. Die gedankliche Richtung<br />

treibt die Sprache, die wiederum die Gedanken trägt und festigt. Es entstehen<br />

ganze Reihen <strong>von</strong> Sätzen, die nun Vorstellungen und semantische Felder<br />

bilden, also akustische, optische, haptisch-gestische Kompositionen, und diese<br />

wiederum zu syntaktischen, liturgischen und architektonischen Argumentarien<br />

bündeln <strong>mit</strong> starken oder schwachen Absichten, <strong>mit</strong> geringem oder massivem<br />

Appellcharakter, <strong>mit</strong> eher stabiler oder eher wechselnder Bedeutungsrichtung.<br />

Mit der Erweiterung un<strong>mit</strong>telbarer Reiz-Reaktionsketten zu Handlungsräumen<br />

und zu alternativenreichen Räumen ausdrucksvoller Bilder und Motive und <strong>mit</strong><br />

der Absetzung der Bilder vom Abgebildeten, eines Außen also <strong>von</strong> einem Innen,<br />

werden Symbole als gestaltbare Formen erfahren und so auch eingesetzt.<br />

Über die Variabilität der Darstellungen erreicht die Kommunikation die<br />

Schwelle der Bedeutungsfunktion und nimmt den konkreten Ausdruck in seinen<br />

Darstellungen <strong>mit</strong> in Richtung auf allgemeine Abstraktionen und Beziehungen.<br />

Hier endlich können Vorstellungen <strong>mit</strong> Vorstellungen in Austausch treten<br />

und Appelle gegen Appelle <strong>mit</strong>einander ringen. Grablegen werden <strong>mit</strong> Namen<br />

versehen und zu gigantischen Monumenten ausgebaut, um Herrschaft zu legitimieren.<br />

Münzen <strong>mit</strong> den physiognomischen Prägungen <strong>von</strong> Herrschern erlauben<br />

es, virtuelle, nämlich in funktionale Äquivalente transferierte Güter aufzubewahren,<br />

auszutauschen und in weiträumig kontrollierte Wirtschaftskreisläufe<br />

einzuspeisen. Mythische Bilder und heilige Texte in heiligen Sprachen<br />

werden zu dogmatischen Lehren verdichtet und entwickeln sich zusammen <strong>mit</strong><br />

Monumenten und Hierarchien zu Konfessionen. Geometrische Formgesetze verbinden<br />

sich im Verein <strong>mit</strong> Zahlensystemen zu mathematischen Formeln, die<br />

sich gemeinsam <strong>mit</strong> anderen zu Theorien und diese wiederum zu Wissenschaften<br />

ausbauen.<br />

Im systematischen Aufbau seiner Philosophie 41 misst Cassirer Sprache, Mythos,<br />

Erkenntnis und Kunst eigenständige Funktionen zu, insbesondere im Mythos<br />

sind alle anderen wie in einem Keim angelegt und lösen sich aus ihm und<br />

<strong>von</strong>einander sowohl ontogenetisch als einem »Werk« als auch phylogenetisch<br />

als einer »Kultur« los. Da wir uns in einer Philosophie symbolischer Formen<br />

nicht anders als <strong>mit</strong> den Mitteln eben jener symbolischen Formen über sie verständigen<br />

können, ist nicht nur ein zirkuläres Vorgehen unvermeidlich, es ist<br />

sogar unvermeidlich, gerade das, was Cassirer den Mythos nennt, niemals allein<br />

41<br />

Vgl. Graeser (1994): Ernst Cassirer, 51-114.


1.2 Kultur- und religionstheoretischer Rahmen 41<br />

<strong>mit</strong> den Mitteln des Mythos, sondern ver<strong>mit</strong>telt durch Sprache, Erkenntnis und<br />

Kunst zu thematisieren. Wenn wir den Mythos zur Sprache bringen, haben wir<br />

das mythische Denken zwar nicht verlassen, aber schon überformt. Das Mythische<br />

als ursprünglich vorsprachliche Form kann man, etwa im Gefühl, im hingegeben<br />

improvisierenden Spiel oder im nächtlichen Träumen, nur erleben. 42<br />

Zur Sprache: In der Theorie der Sprachentwicklung arbeitet Cassirer analog<br />

zur Trias der Bewusstseinsfunktionen <strong>mit</strong> den drei Phasen oder Stufen des sinnlich<br />

nachahmenden und des anschaulich-analog darstellenden Ausdrucks und<br />

des begrifflichen Denkens als des eigentlich symbolischen Ausdrucks. Dabei ist<br />

weniger an feste Bereiche, Zustände oder Wege, als an Richtungen zu denken,<br />

die das Bewusstsein mal progredierend mal redundant einschlägt. Qua Mimesis<br />

drückt die Sprache Gefühle aus oder Verweise auf Gegenstände, zur Darstellung<br />

gelangt sie, in<strong>dem</strong> die mimetisch angelegten Ausdrücke im Wechselspiel ihrer<br />

räumlichen, zeitlichen, genetischen Beziehungen zu grammatisch komplexen<br />

Urteilen aus- und umgeprägt werden. Eine dritte Richtung zeigt sich im Aufkommen<br />

allgemeiner Begriffe und Kategorien, nach denen das Denken Beziehungen<br />

und auf sie gerichtete Urteile klassifiziert und qua Logik und Wissenschaft<br />

oder auch Kunst ausarbeitet und dabei ständig auf die Ebenen des<br />

Ausdrucks und der Darstellung zurückgreift. Denn sonst hätte weder die begriffliche<br />

Abstraktion noch die künstlerische Interpretation etwas, was es zu betrachten,<br />

zu diskutieren, zu genießen und zu beurteilen gäbe.<br />

Zu Mythos und Religion: Cassirer fragt, was der Mythos als eigenständige<br />

symbolische Form zu leisten vermag, was andere Formen nicht vermögen. Ganz<br />

offensichtlich scheitern Mythen an der Aufgabe, gesicherte Erkenntnisse zu liefern.<br />

Aber den allerersten Raum und Horizont zu öffnen und zu weiten, in <strong>dem</strong><br />

in der Folge neben intuitivem Gefühl, schöpferischer Sprache, freiem Spiel, berührender<br />

Kunst, virtuoser Technik, verlässlicher Moral und gerechten Gesetzen<br />

auch gesicherte Erkenntnisse gewonnen werden können, das leistet nur<br />

eine Form, und dies auf der elementaren Ebene der Ausdrucksfunktion. Sie verdient<br />

um dieser für alle anderen grundlegenden Funktion willen, einen eigenen<br />

Namen zu tragen. Cassirer schlägt vor, diese Form Mythos zu nennen und sie<br />

hinsichtlich ihrer besonderen Leistungsfähigkeit zu untersuchen. Soweit wir<br />

wissen, sind Menschen nicht die einzigen Wesen, die wahrnehmen und sich<br />

dessen erinnern und die sich Vergangenes und Künftiges wenigstens vage vorstellen<br />

können, <strong>mit</strong> Sicherheit aber die einzigen, die Artefakte – qua Imagination,<br />

Verbalisierung, Intonation, Inskription und Modellierung in Graphik, Glyptik<br />

und Skulptur – zu <strong>dem</strong> einzigen Zweck erzeugen, um sie zu betrachten und<br />

sie zu welchen darüber hinausgehenden Zwecken auch immer, etwa zur inneren<br />

Beruhigung, Klärung, Verarbeitung und zum Selbstgespräch, als vertraute Begleiter<br />

bei sich zu haben. Mit ihren mythischen Erzählungen gewinnen Menschen<br />

einen gemeinsam bewohnten inneren Raum, eine geistige Sphäre der<br />

42<br />

Erst an der Grenze zwischen Traum- und Wachbewusstsein wird sich der Träumer<br />

seines Träumens bewusst; vgl. <strong>von</strong> <strong>Schubert</strong> (1994): Traum, Metapher und Mythos.


42<br />

1 Einleitung<br />

Bedeutsamkeit und eine symbolische Ordnung als Voraussetzung ihrer Kohäsion<br />

gegen die Übermacht der Natur und die Konkurrenz rivalisierender Gruppen.<br />

Kann man <strong>von</strong> den Mächten und Gewalten nicht nur erzählen, sondern sie<br />

überdies in einer Dramaturgie virtuos zusammenführen, so werden sie einschätzbar,<br />

bekommen Gesicht und verlieren ihren namenlosen und unberechenbaren<br />

Schrecken. Der Prozess der Symbolbildung verbleibt da<strong>mit</strong> aber nicht<br />

mehr auf der Ebene des mimetischen Ausdrucks, sondern hat längst die Ebene<br />

der Darstellung erreicht. Was als Mythos begann, ist Sprache geworden und<br />

steht an der Schwelle zu Kunst, Technik, Moral, Erkenntnis, Recht und Wirtschaft.<br />

Der Preis für die Darstellung im mythischen Epos und Drama ist allerdings<br />

hoch. Denn nun drohen die Götter- und Heldengeschichten und die ihnen entsprechenden<br />

Regeln und Riten zu einer neuen und eigenen Macht zu werden,<br />

die den gewonnenen Freiraum bedroht. Der Absolutismus der Wirklichkeit 43<br />

wird dann eingetauscht gegen einen nicht minder kulturbedrohenden und gewalttätigen<br />

Absolutismus der Symbole. Für das Orientierungsbedürfnis ist dies<br />

insofern riskant, als sich alle Erwartungen auf die eine Götterfamilie, den einen<br />

Gott, die eine Partei und die eine Lehre und Methode richten. Werden die Erwartungen<br />

enttäuscht, wird im System, um das System oder gegen das System gekämpft:<br />

je massiver die Entwurzelung desto aggressiver die Wiederverwurzelung.<br />

Jetzt erst kommt Religion in den Blick. 44<br />

Denn sie stabilisiert nun den<br />

43<br />

Vgl. Blumenberg (1996, 1990 5 ): Arbeit am Mythos, 9ff.<br />

44<br />

Die folgenden Überlegungen nehmen ihren Ausgang vom Abschnitt »Die Dialektik<br />

des mythischen Bewusstseins« in: Cassirer (1923-1929, 1994 10 ): PSF II, 279-311 sowie<br />

<strong>von</strong> Cassirer (1944): Essay on Man; deutsch: (2007): Versuch über den Menschen, 150ff..<br />

In PSF II skizziert Cassirer die Umwandlung <strong>von</strong> Mythos in Religion und belegt dies am<br />

Alten Testament, am Parsismus, an den Upanishaden, am Christentum und an der europäischen<br />

Mystik, um dann auf die religionsphilosophische Auffassung einzugehen. Er<br />

beginnt bei Platon und geht <strong>von</strong> dort auf die Spiegel- und Reflexionsmetapher zielend<br />

weiter zu einem Vergleich <strong>von</strong> Religion und Sprache. Beide vereinigten sich »im Medium<br />

des geistigen ›Sinnes‹« [Cassirer (1923-1929, 1994 10 ): PSF II, 303] als Einheit nicht im<br />

Ursprung, sondern in der Funktion. Dies belegt der Autor <strong>mit</strong> Auslegungen zu Dante,<br />

Leibnitz und Schleiermacher. Im Essay on Man schreibt Cassirer der Religion ferner ein<br />

neues Gefühl für Individualität zu, den monotheistischen Religionen überdies einen Sinn<br />

für Moral und Naturgesetzlichkeiten. Sein Resümee lautet: »Der Mythos sieht im Bilde<br />

immer zugleich ein Stück substantieller Wirklichkeit, einen Teil der Dingwelt selbst, der<br />

<strong>mit</strong> gleichen oder höheren Kräften wie diese ausgestattet ist. Die religiöse Auffassung<br />

strebt <strong>von</strong> dieser ersten magischen Ansicht zu immer reinerer Vergeistigung fort. Und<br />

doch sieht auch sie sich immer wieder an einen Punkt geführt, an <strong>dem</strong> die Frage nach<br />

ihrem Sinn- und Wahrheitsgehalt in die Frage nach der Wirklichkeit ihrer Gegenstände<br />

umschlägt, an <strong>dem</strong> sich, hart und schroff, das Problem der ›Existenz‹ vor ihr aufrichtet.<br />

Das ästhetische Bewusstsein erst lässt dieses Problem wahrhaft hinter sich. [...] Das Bild<br />

wirkt jetzt nicht mehr als ein Selbständig-Dingliches auf den Geist zurück, sondern es<br />

ist für ihn zum reinen Ausdruck der eigenen schöpferischen Kraft geworden.« [Cassirer<br />

(1923-1929, 1994 10 ): PSF II, 311]. Wenn Cassirer hier eine Linie stetig zunehmenden<br />

Freiheitsgewinns vom Mythos über die Religion zur Kunst zeichnet, so weicht er an-


1.2 Kultur- und religionstheoretischer Rahmen 43<br />

Mythos <strong>mit</strong> Hilfe des Logos, etwa durch rationale Theologien und Philosophien<br />

und die Abgrenzung des Sakralen vom Profanen. Zum anderen ist es die Religion,<br />

die die verunsicherte oder scheiternde Erkenntnis durch Kontingenzdarstellung<br />

und -verwaltung auffängt und sie entweder wieder zu sich selbst kommen<br />

lässt oder als vermeintliche Bedrohung unterdrückt. Auch dieser Arbeit am<br />

Mythos oder <strong>dem</strong> Kampf um den Mythos sollten wir einen eigenen Namen geben.<br />

Cassirer schlägt vor, ihn auf einer ersten mythenkritischen Stufe der Darstellung<br />

Religion zu nennen. Eine weitere Stufe ist die der künstlerischen Repräsentation<br />

<strong>von</strong> Religion und die der Theologie im Verein <strong>mit</strong> den Religionswissenschaften<br />

und der Religionsphilosophie. Der Sinn der Religion beruht auf<br />

der Erkenntnis, dass die Bilder Bilder sind. 45<br />

»Die Religion vollzieht den Schnitt, der <strong>dem</strong> Mythos als solchem fremd ist: in<strong>dem</strong><br />

sie sich der sinnlichen Bilder und Zeichen bedient, weiß sie sie zugleich als solche,<br />

– als Ausdrucks<strong>mit</strong>tel, die, wenn sie einen bestimmten Sinn offenbaren, notwendig<br />

zugleich hinter ihm zurückbleiben, die auf diesen Sinn ›hinweisen‹, ohne ihn jemals<br />

vollständig zu erfassen und auszuschöpfen.« 46<br />

Diese Erkenntnis dämmert in <strong>dem</strong> Maße, wie der Mythos wiederholt wird, wenn<br />

also der erste Ausdruck erinnert und verbreitet wird, während sich doch die<br />

Verhältnisse längst verändert haben. Denn dann muss sich der Ausdruck in Darstellung<br />

wandeln und neu zur Darstellung kommen. Je öfter dies geschieht,<br />

desto mehr greifen die Alternativen der Darstellung, desto weniger selbstverständlich<br />

wird ihre Auswahl. Da<strong>mit</strong> öffnen sich mehrere Wege. Werden Menschen<br />

nicht mehr <strong>von</strong> der Übermacht ihrer mythischen Erzählungen wie <strong>von</strong><br />

dernorts deutlich da<strong>von</strong> ab: »Was wir in der harten Schule unseres modernen politischen<br />

Lebens gelernt haben, ist die Tatsache, daß die menschliche Kultur keineswegs das festverankerte<br />

Ding ist, für die [sic!] wir sie einst hielten. [...] Wir müssen immer auf heftige<br />

Erschütterungen vorbereitet sein, die unsere kulturelle Welt und unsere soziale Ordnung<br />

bis in ihre Grundlagen erschüttern können« [Cassirer (1946, 1997-2007): The Myth of<br />

the State, (1949): Der Mythus des Staates, 389]. So scharf also lassen sich Kunst und<br />

Mythos doch nicht trennen. Weder lassen sich die Psalmen und das vierte Evangelium,<br />

Grünewalds Isenheimer Altar und Beethovens Missa Solemnis einseitig auf Religion oder<br />

auf Kunst verrechnen, noch ist die Kunst, schon gar nicht die Staatskunst, davor gefeit,<br />

<strong>dem</strong> Schicksal der Verdinglichung und Deindividualisierung zu entgehen. Wenn in allen<br />

symbolischen Formen die Freiheit nie einfach garantiert ist, sondern stets auf <strong>dem</strong> Spiel<br />

steht, dann ist zu fragen, welcher spezifische Freiheitsgewinn durch den Mythos, welcher<br />

durch Sprache, welcher durch Religion, durch Kunst und durch Erkenntnis und in<br />

allem dann auch politisch erzielt oder eben auch vertan werden kann. Die terminologische<br />

Entscheidung Cassirers im Blick auf Religion ist deutlich und leider bis heute im<br />

Blick auf das Christentum nur allzu begründet und nachvollziehbar, vgl. die treffende<br />

Analyse <strong>von</strong> Steiner (2011): Christliche Kunst: eine Sackgasse?.<br />

45<br />

Vgl. Cassirer (1923-1929, 1994 10 ): PSF II, 285f.<br />

46<br />

Cassirer (1923-1929, 1994 10 ): PSF II, 286.


44<br />

1 Einleitung<br />

einer absoluten Macht in den Bann geschlagen 47 , so können sie <strong>mit</strong> und an ihnen<br />

die Kunst der Enttäuschungsverarbeitung einüben. 48<br />

Menschen können aber<br />

ebenso auf den Gedanken kommen, sich <strong>mit</strong> Bildern zu bedrohen und einzuschüchtern<br />

und sie manipulativ zum Zweck des Machterhalts einzusetzen. Dazwischen<br />

stehen jene, die in Sorge um die Bilder unnachgiebig darauf bestehen,<br />

dass sie genauso, wie sie ihnen vertraut sind, und nicht anders dargestellt und<br />

in ihrer Bedeutung gesichert werden. Religion ist die durch Konflikte angetriebene<br />

reflexive Darstellung <strong>von</strong> Darstellungen, die eine symbolische Selbstaufklärung<br />

des mythischen Denkens eröffnet, und zwar selbst und gerade dann,<br />

wenn sie sie verhindern will. Denn sie ist es, die den Mythos veröffentlicht und<br />

so das alternativenreiche Spiel, die entlarvende Sprache, die schöpferische<br />

Kunst, das herrschende Recht und die kritische Wissenschaft noch am Mythischen<br />

vom Mythischen löst. In der Religion, also noch nah am Mythos, entscheidet<br />

sich, ob sich die anderen Formen in die Fesseln des Mythos schlagen lassen<br />

oder ob sie sich den Weg zu eigenständigen symbolischen Formen erkämpfen.<br />

An diesem Scheidewege stellt sich deshalb die Frage, ob wir <strong>mit</strong> Cassirer<br />

denken sollen, dass Religion eine Metamorphose des Mythos ist und als eine<br />

symbolische Form neben anderen in den Kreis der symbolischen Formen einzureihen<br />

ist oder ob sie nicht vielmehr zusammen <strong>mit</strong> Sprache eine vegetative<br />

Zone bildet, in der sich symbolische Formen aus <strong>dem</strong> Mythos heraus ausdifferenzieren.<br />

Um der Freiheit des menschlichen Geistes willen ist letzteres anzunehmen.<br />

Wenn das religiöse Bewusstsein etwas über den Mythos und da<strong>mit</strong><br />

auch über sich selbst »weiß«, wenn es den Mythos als Ausdrucks<strong>mit</strong>tel und sich<br />

selbst als dessen Darstellung erkannt hat, dann können freilich die Hüter des<br />

Mythos die Bekundungen des religiösen Bewusstseins jederzeit als Sakrileg geißeln,<br />

und die Geschichte der historischen Religionen ist voll <strong>von</strong> solchen Beispielen.<br />

Aber dann bleibt diese Kultur in diesem Fall eben im Bann des Mythischen<br />

und verweigert sich nicht nur der Religion, sondern korrumpiert auch<br />

allen anderen symbolischen Formen einschließlich der Erkenntnis. Dass dies<br />

aber nicht zwingend so geschehen muss, genau das ist doch die Botschaft der<br />

Philosophie der symbolischen Formen als Philosophie der Freiheit. Die Religion<br />

muss den Mythos nicht löschen, um sich aus seinem Bann zu befreien. Ganz im<br />

Gegenteil nimmt sie die Fülle mythischer Ausdruckskraft in ihre Bewegung auf<br />

und gestaltet sie fort in Richtung auf sprachliche Literarisierung, auf Kunst, auf<br />

47<br />

Vgl. Rudolph (1996), Religion als Kulturkritik; Schwemmer (2002): Mythos und Religion<br />

bei Ernst Cassirer; Moxter (2005): Ernst Cassirer: Religion als symbolische Form;<br />

zum kreativen Potential des Mythos vgl. auch die Beiträge in: Rudolph (1994, Hrsg.):<br />

Mythos zwischen Philosophie und Theologie, sowie die weiteren Beiträge zu Cassirer in:<br />

Deuser / Moxter (2002, Hrsg.): Rationalität der Religion und Kritik der Kultur.<br />

48<br />

Das bewährt sich besonders angesichts <strong>von</strong> im emphatischen Begriff <strong>von</strong> Politik <strong>mit</strong>gesetzten<br />

hohen Erwartungen. Sie sind nur aufrechtzuerhalten, wenn Menschen <strong>mit</strong>einander<br />

Bündnisse schließen, die es ihnen möglich machen, einander angesichts <strong>von</strong> notorischen<br />

Enttäuschungen zu verzeihen und einander Versprechen zu geben; vgl. Arendt<br />

(1989): Zur Zeit, 119-159.


1.2 Kultur- und religionstheoretischer Rahmen 45<br />

Moral, Recht und auf Erkenntnis. Wie fügen sich denn die vom Mythos ausgehenden<br />

Bilder, Geschichten, Erfahrungen, Erkenntnisse und Urteile beispielsweise<br />

zu »Geschichte« im Singular zusammen? Wie geraten je für sich genommen<br />

kontingente Begebenheiten in das gemeinsame Sinngefüge etwa einer<br />

Biografie, einer Wissenschaft, einer Politik? Das geschieht in Prozessen symbolischer<br />

Kommunikation, die sich zu symbolischen Ordnungen verdichten. 49 Und<br />

die gesamte Entwicklung kann nur stabil bleiben und befreien, wenn sie kontinuierlich<br />

aufgeklärt wird. Religion kann ihre Überlegenheit aber auch dazu einsetzen,<br />

die Gläubigen zu blenden und im Mythos zu bannen.<br />

Um es noch einmal zusammenzufassen und die zwecks Typologisierung gewählten<br />

Kollektivsingulare aufzulösen: Die symbolischen Ordnungen der historischen<br />

Religionen entwickeln sich aus Mythen und dies im Zuge kultureller<br />

Evolution in zahllosen Variationen und unabhängig <strong>von</strong>einander. Wie ein Organismus<br />

seine Organe, so bilden ihre Träger die im Mythischen angelegten und<br />

dort noch eng verwobenen Potentiale aus, sondern die symbolischen Formen<br />

<strong>von</strong>einander und lassen sie <strong>mit</strong>einander kommunizieren. Die Formen differenzieren<br />

sich zum einen gegeneinander aus, zum anderen kann sich jede Form<br />

auch noch einmal in sich ausdifferenzieren, so etwa Sprache in die Fülle der<br />

natürlichen Sprachen und die Kunst in Kunstgattungen und die Literaturen in<br />

Literaturgattungen und Erkenntnis in eine Vielzahl autonomer Einzelwissenschaften.<br />

Forum und Kontext dieser Entwicklung sind die Sphären <strong>von</strong> Sprache<br />

49<br />

Der Begriff »symbolische Ordnung« findet explizit Verwendung bei strukturalistischen<br />

Autoren wie Claude Lévi-Strauss, Jacques Lacan, Ferdinand de Saussure und Clifford<br />

Geertz, er wird durch »Diskurs« ersetzt <strong>von</strong> Michel Foucault, vermieden <strong>von</strong> Pierre<br />

Bourdieu, er übernimmt Hypotheken des »objektiven Geistes« bei Hegel, schließt an den<br />

Begriff der symbolischen Kommunikation bei Norbert Elias und der symbolischen Form<br />

bei Ernst Cassirer an; bei Karl Marx und Max Weber verhilft die Aufklärung der Ökonomie<br />

der symbolischen Produktion zur Entwicklung einer Soziologie der Herrschaft; vgl.<br />

Imbusch (2017): Die friedensethische Bedeutung der Kategorie Herrschaft. Ich verwende<br />

den Begriff »symbolische Ordnung« im Anschluss an Norbert Elias im Sinne generationenübergreifender,<br />

kommunikativer Konzertierung symbolischer Formen (Cassirer) <strong>mit</strong> der<br />

Funktion, angesichts erheblicher Differenzen und Konflikte zwischen Gruppen <strong>von</strong> Menschen<br />

kollektive, bleibende Haltungen, Verhaltensweisen und Institutionen zu erzeugen, zu<br />

verbreiten und zu legitimieren. Ähnlich verfuhr <strong>von</strong> 1997 bis 2008 der SFB 537 »Institutionalität<br />

und Geschichtlichkeit« <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Ziel, Prozesse der institutionellen Gründung,<br />

Stabilisierung und Wandlung sozialer Ordnungen <strong>von</strong> der Antike bis zur Gegenwart zu<br />

analysieren; vgl. http://gepris.dfg.de/gepris/projekt/5481378 [05.11.2020]. Eine Nähe<br />

besteht auch zum Begriff der »normativen Ordnung«; vgl. Forst / Günther (2011, Hrsg.):<br />

Die Herausbildung normativer Ordnungen; Forst (2015): Normativität und Macht. In dieser<br />

Studie wird die biblische Tradition als eine Versammlung symbolischer Ordnungen<br />

herangezogen, der Begriff Religion also am Beispiel des biblischen Monotheismus erprobt.<br />

In den Funktionsbegriff der Religion trägt sie ihren Anspruch der Offenbarung ein:<br />

Die Umwandlung der Wahrnehmung der vergänglichen Welt in die einer Welt als Geburtsstätte<br />

einer neuen Welt wird <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Zeugnis <strong>von</strong> der Auferstehung des Gekreuzigten<br />

<strong>von</strong> den Toten so beschrieben, dass sie die Freiheit des Geschöpfs aus der freien<br />

Liebe Gottes begründet und da<strong>mit</strong> <strong>von</strong> jeglicher Eigensicherung entlastet.


46<br />

1 Einleitung<br />

und Religion als Ver<strong>mit</strong>tlungs- und Regenerationszonen zwischen den Mythen<br />

und den ihnen entspringenden Formen. In <strong>dem</strong> Grad, in <strong>dem</strong> die Entwicklung<br />

fortschreitet und die Formen sich ausdifferenzieren, differenzieren sich auch<br />

die Religionen aus, denn die Formen, also sowohl die Sprachen als auch die Wissenschaften<br />

und die Künste wirken jetzt auf das Feld »ihrer« Religion und reorganisieren<br />

es. In den Kraftfeldern der Religionen entwickeln sich in mehr oder<br />

weniger schweren Konflikten Archive und Architekturen, Kulte und Konfessionen,<br />

Ikonen, Skulpturen, Literaturen und Liturgien, Hierarchien, Professionen<br />

und Organisationen, Technologien und Wissenschaften. Dabei bleiben Religionen<br />

als belief systems auch auf den weiteren Entwicklungsstufen weiterhin die<br />

Bindeglieder zwischen den »mythisch« kanonischen Ursprüngen und den ausdifferenzierten<br />

Formen und zwar mal eher konservativ hemmend, mal progressiv<br />

treibend, mal perfide verblendend. 50 Denn die Entwicklung geht nicht auto-<br />

50<br />

Um Religionen empirisch erfassen zu können, schlägt Volker Stümke vor, <strong>von</strong> einer<br />

Realdefinition <strong>von</strong> Religion auszugehen: Religion als Kontingenzbewältigung, ergänzt<br />

durch »die konkrete Intension <strong>von</strong> Religion durch die positiven Religionen« [Stümke<br />

(2019): Religion und Gewalt, 54f.]. In Erweiterung des Ansatzes <strong>von</strong> Charles Y. Glock<br />

seien sechs Dimensionen zu berücksichtigen und in jeder Dimension jeweils gesondert<br />

auf der Mikro-, Meso- und Makroebene messbare Identitätsmarker und Handlungsimpulse<br />

zu erheben: »die Ideologie (Glaubensbekenntnis), die Erfahrung (innerliche Frömmigkeit),<br />

das Wissen (Außenperspektive), die (gemeinschaftliche und persönliche) Praxis,<br />

die Ethik (Handlungsimperative) und die sozialen Konsequenzen (Sichtbarkeit der<br />

Religion im öffentlichen Alltag)« [a.a.O., 56; vgl. Werkner (2016, Hrsg): Religion in der<br />

Friedens- und Konfliktforschung]. Aber kann das wirklich gehen? Der Verdacht ist mehr<br />

als berechtigt, dass die Empirie ihren Gegenstandsbereich eben nicht entlang jener offenen<br />

Realdefinition, sondern nach Maßgabe der Nominaldefinitionen der »positiven Religionen«<br />

– Buddhismus, Christentum, Islam etc. – festlegt. Vor lauter Begeisterung über<br />

die Operationalisierbarkeit merkt dann niemand, dass die Heuristik der Realdefinition<br />

längst unter den Tisch gefallen ist. Wie soll jemand Kontingenzbewältigung so operationalisieren,<br />

dass sie empirisch messbar ist? Was ist denn so schwer an Kontingenz, dass<br />

sie verarbeitet werden muss? Es ist die Abweichung vom Erwarteten, die die Stimmung<br />

derart heben oder senken kann, dass in beiden Fällen gilt: »Die Ruhe ist hin.« Erst wenn<br />

sich die Ruhe im Sinne eines kontinuierlich, dynamisch, resilient und nachhaltig fließenden<br />

Prozesses einstellt, ist die Abweichung »bewältigt«. Solche Prozesse können sehr<br />

differenziert beschrieben werden, etwa im Rahmen eines streng definierten Psychotherapieverfahrens,<br />

bei <strong>dem</strong> Erfolge und Misserfolge auf mögliche verallgemeinerbare Faktoren<br />

hin erforscht werden. Aber: Religion bewältigt Kontingenz, Psychotherapie bewältigt<br />

Kontingenz, ergo ist Psychotherapie Religion? Nur weil zwei Phänomene sich in<br />

einer Eigenschaft gleichen, sind sie noch nicht identisch. Religion als Synonym für Kontingenzbewältigung<br />

ist <strong>von</strong> solch hohem Abstraktionsgrad, dass alle symbolischen Formen<br />

in sehr unterschiedlicher Form auf diese Funktion hin befragt werden können. »Positive«<br />

Religionen können ebenso wie »positive« Sprache, Wissenschaft und Kunst an<br />

Kontingenz scheitern und sie eben nicht bewältigen. Wer also pauschal nach der Gewaltaffinität<br />

<strong>von</strong> Religion fragt, kann ebenso gut nach der <strong>von</strong> Sprache, Wissenschaft und<br />

Kunst fragen, ein offensichtlich untaugliches Unterfangen. Sinnvoll dagegen ist es, bestimmte<br />

in einer symbolischen Form verbreitete Praktiken und Strukturen auf ihre Gewaltaffinität<br />

hin zu befragen.


1.2 Kultur- und religionstheoretischer Rahmen 47<br />

matisch in Richtung der Differenzierung. Es kann zu Progressionen kommen,<br />

die die Integrationskräfte überfordern und Gesellschaften spalten und zu Regressionen,<br />

die die Komplexität reduzieren und den Reichtum symbolischer Formen<br />

auch verspielen, massiv einschränken und eine Zivilisation in den Untergang<br />

führen können. Das ist dann der <strong>Krieg</strong> in seiner vermutlich leidenschaftlichsten<br />

und brutalsten Form, nämlich der Religions- und Weltanschauungskrieg.<br />

Zur Erkenntnis: Auch Erkenntnis durchläuft die drei Stationen. Der Schritt<br />

vom Ausdruck zur Darstellung verläuft jedoch ungleich dramatischer als im Fall<br />

der Sprachentwicklung. Denn werden im Gebrauch der Sprache bereits in den<br />

Phänomenen selbst Differenzen sichtbar wie die zwischen einem konstanten<br />

Hintergrund und einem variablen Vordergrund, zwischen Substanz und Akzidenz,<br />

so kann der Strom der Ereignisse jetzt weiter und weiter zergliedert werden,<br />

sodass sich die Frage nach den Prinzipien der Gliederung und Gestaltung<br />

stellt. Eine gegenüber Mythos und Sprache autonome und irreduzible Erkenntnis<br />

zeichnet sich dadurch aus, dass in der Theorie des »reinen Begriffs« die Herrschaft<br />

des Substanzbegriffs abgelöst wird durch die Logik des Funktionsbegriffs<br />

<strong>mit</strong> der Folge, dass sich ein Begriff nicht mehr aus der Substanz sondern aus<br />

der Funktion des Begriffenen begründen lässt: »Jeder neue Begriff, der im wissenschaftlichen<br />

Denken aufgestellt wird, ist <strong>von</strong> vornherein auf das Ganze dieses<br />

Denkens, auf das Ganze der möglichen Begriffsbildung bezogen. Was er bedeutet<br />

und ist, — das hängt <strong>von</strong> seiner Geltung in diesem Ganzen ab. Alle<br />

»Wahrheit«, die ihm zugesprochen werden kann, ist an diese ständige und<br />

durchgehende Bewährung gegenüber der Gesamtheit der Denkinhalte und<br />

Denksetzungen gebunden. Aus dieser Forderung an den Begriff ergibt sich für<br />

die Begriffszeichen die Forderung, daß sie ein in sich geschlossenes System bilden<br />

müssen. Es genügt nicht, daß den einzelnen Denkinhalten beliebige einzelne<br />

Zeichen zugeordnet werden; sondern sie müssen in einer festen Ordnung<br />

stehen, derart, daß der gesamte Inbegriff der Zeichen sich nach einer Regel gliedert.<br />

Wie ein Denkinhalt durch den anderen bedingt erscheint, wie er in ihm<br />

›sich gründet‹, so muß auch ein Zeichen im anderen gegründet, d.h. nach einem<br />

bestimmten Gesetz des Aufbaus aus ihm ableitbar sein«. 51<br />

Zur Kunst: Wenn die Übernahme des Funktionsbegriffs für die Theorie der<br />

Erkenntnis und ihrer Begriffe fruchtbar gemacht werden kann, dann gewiss<br />

auch für das Verständnis anderer eigenständiger symbolischer Formen, also<br />

auch der Kunst. 52<br />

Die Leistung der Kunst liegt – so interpretiert Graeser die<br />

51<br />

Cassirer (1923-1929, 1994 10 ): PSF III, 393f.<br />

52<br />

Um die epochale Bedeutung dieser Folgerung zu unterstreichen: »Kant rechnet faktisch<br />

nur <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> diskursiven Denken in Begriffen einerseits und <strong>mit</strong> der reinen Anschauung<br />

andererseits. Die Dichotomie <strong>von</strong> Sinnlichkeit und begrifflichem Denken muss<br />

daher <strong>dem</strong> erweiterten Begriffspaar <strong>von</strong> Sinnlichkeit und Sinn Platz machen. Der Begriff<br />

ist nur eine Ausfüllung des Begriffs »Sinn« unter anderen möglichen. Die auf die Wissenschaften<br />

fixierte Philosophie als Erkenntniskritik wird zur Kulturphilosophie erweitert,<br />

die vom Problem des Sinns und der Bedeutung ausgeht. Sprachliche Bedeutungen oder


48<br />

1 Einleitung<br />

verstreuten Aussagen Cassirers – in ihrer Ausdrucks- und Bedeutungsfunktion<br />

spezifisch verbindenden Formkraft. Der Künstler widmet sich den Eigenschaften<br />

seines Materials nicht, um über sie gesichertes Wissen zu erlangen oder <strong>mit</strong><br />

ihnen technische oder ökonomische Abkürzungen zu nehmen, sondern ganz im<br />

Gegenteil, um den Raum der Wirklichkeit zu erweitern und funktional zu entgrenzen.<br />

Die Kunst befreit die Formen und Stoffe aus der Knechtschaft <strong>von</strong> Mitteln<br />

für Zwecke, sie feuert die Mittel aber auch nicht an, sich über die Zwecke<br />

zu erheben, sie bleibt in der Balance, spielt <strong>mit</strong> den Mitteln ebenso wie <strong>mit</strong> den<br />

Zwecken und versetzt den Betrachter und Teilhaber in die Rolle eines an einem<br />

Werk um seiner selbst willen beteiligten Mitkünstlers. Wer da nicht <strong>mit</strong>geht,<br />

<strong>dem</strong> entgeht nicht nur ein ästhetisches Erlebnis, sondern der verpasst jenen<br />

tiefen Blick auf Wirklichkeit, der den »Bau einer wahren politischen Freiheit«<br />

als das »vollkommenste aller Kunstwerke« begreift. 53<br />

Zu Moral und Recht: auch diese zählt Cassirer zu den symbolischen Formen,<br />

widmet ihnen aber auch ihnen keine eigene Abhandlung, ebenso wenig wie der<br />

Kunst und der Religion. Der ethische Aspekt aller Symbolisierungsprozesse<br />

zieht sich aber nicht nur durch das gesamte Werk 54 , er liegt seinem Ansatz so<br />

sehr zugrunde, dass man <strong>von</strong> einer Ethischen Philosophie sprechen kann. Cassirer<br />

sieht in allen Symbolisierungen vom archaischen Mythos bis zur modernen<br />

Technik die produktive Selbsttätigkeit des Menschen am Werk, die aber nicht<br />

nur <strong>von</strong> außen, sondern durch sich selbst bedroht ist. Bei aller stilistischen Konzilianz,<br />

die sein Werk auszeichnet und es zuweilen sogar langweilig erscheinen<br />

lässt, sollte der Inhalt jeden Leser da<strong>von</strong> überzeugen, dass hier ein Autor für die<br />

Kultur und gegen eine barbarische Antikultur kämpft, der er selbst nur unter<br />

dramatischen Umständen entrinnen konnte.<br />

Als Fazit der Rekapitulation der Kulturphilosophie Cassirers für diese Studie<br />

lässt sich festhalten: Seine Vernunftkonzeption ist erstens nicht einseitig<br />

auf Erkenntnis ausgerichtet, sondern umfasst alle symbolischen Formen. Das<br />

hat zweitens Folgen für das Konzept <strong>von</strong> Säkularität: auch sie ist nicht auf Erkenntnis<br />

allein fixiert, vielmehr bilden sich historische Ausprägungen kultureller<br />

Modernität aus im Konzert aller symbolischen Formen sowie unter Einbeziehung<br />

ihrer vielfältigen spezifischen Leistungen. Und wäre es drittens nicht<br />

möglich, sondern bloße Spekulation, die Genese jedes einzelnen Menschen und<br />

jeder menschlichen Kultur aus <strong>dem</strong> Symbol der Freiheit zu verstehen und zu<br />

mythischer Sinn können nicht geklärt werden, in<strong>dem</strong> man wissenschaftliche Rationalität<br />

als normativen Maßstab handhabt.« [Paetzold (2014 4 ): Ernst Cassirer zur Einführung,<br />

37f.; vgl. 35-38].<br />

53<br />

Schiller (1795): Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe <strong>von</strong><br />

Briefen, Zweiter Brief, 572.<br />

54<br />

Zu den möglichen Gründen dafür, dass Cassirer keine Ethik hinterlassen hat und zu<br />

den Versuchen, diese aus seinem Werk zu erheben vgl. Graeser (1994): Ernst Cassirer,<br />

108-114; Recki (1997): Kultur ohne Moral?; Schwemmer (1997): Ernst Cassirer, 127-195;<br />

Jagersma (2003): Der Status der Ethik in der Philosophie der symbolischen Formen; Recki<br />

(2004): Kultur als Praxis, 151-188; Bongardt (2012): Wider die Sprachlosigkeit.


1.2 Kultur- und religionstheoretischer Rahmen 49<br />

begreifen, dann käme jeder vernünftige, also auch ethisch begründete Impuls<br />

zu spät, nachträglich ließe sich da nichts mehr retten. Liefe die Genese des Menschen<br />

notwendig auf Freiheit hinaus, müsste da wiederum gar nichts gerettet<br />

werden, und Freiheit wäre nicht Freiheit. Um Freiheit als Möglichkeit dann aber<br />

auch zur Wirklichkeit kommen zu lassen, sie also zur Geltung zu bringen, muss<br />

folglich »<strong>von</strong> Anfang an« in und für die Freiheit und gegen die ständig ebenfalls<br />

mögliche Unfreiheit investiert werden. Und wenn sich viertens schließlich der<br />

Religion die Rolle der verletzlichen Vegetationszone zur Ausbildung oder Blockade<br />

kultureller Vielfalt und Komplexität zuweisen lässt, dann erweisen sich<br />

die historisch-soziologisch positiv fassbaren Religionen und ihre Philosophien<br />

und Theologien als diejenigen Kampfzonen, in denen entschieden wird, ob die<br />

Blockaden gelöst werden und den Manifestationen der Freiheit gegen die Macht<br />

der Verhältnisse Raum gegeben wird oder nicht. Die hier vorgelegte Ethik politischer<br />

Gewalt soll dazu beitragen, die christliche Theologie für den Kampf für<br />

die Kultur und gegen die Barbarei zu gewinnen und zu stärken.<br />

2. Religion im Prozess der Zivilisation: Jede Gesellschaft, so schreibt der seit seiner<br />

Emigration aus Deutschland vornehmlich in England und Holland lebende<br />

Norbert Elias steht vor der Herausforderung, drei in hohem Maße umkämpfte<br />

Elementarfunktionen zu erfüllen: die materielle Versorgung, die Gewaltkontrolle<br />

und die Bereitstellung und Pflege <strong>von</strong> Orientierungs<strong>mit</strong>teln. 55<br />

Jede Gesellschaft<br />

löse auf diese Aufgaben auf je eigentümliche Weise. Zunächst zum Gewaltproblem:<br />

Jeder Mensch muss jederzeit <strong>mit</strong> der Gewalt aller anderen<br />

Menschen rechnen. Das Mittel, die Gewalt aller gegen alle einzuschränken, ist<br />

laut Norbert Elias die Herrschaft. Herrschaft ereigne sich überall dort, wo Menschen<br />

anderen Menschen Befehle erteilen, die diese oft aus Furcht, meistens<br />

aber aus Respekt und Einsicht befolgen. Die voll entwickelte Form <strong>von</strong> Herrschaft<br />

sei der Staat bis hin zum ausgereiften Rechtsstaat. Dort wird man im Idealfall<br />

nicht beherrscht, sondern regiert.<br />

Jede Gesellschaft, so Elias, hat ferner ein Knappheitsproblem, denn jeder<br />

Mensch muss jeden Tag essen und trinken und manches darüber hinaus. Fehlt<br />

es daran, herrscht Armut. Das Mittel, der Armut zu entgehen, nennt er Allokation.<br />

Nahrung, Kleidung, Baustoffe, Heizmaterial und dergleichen müssen am<br />

Ort der auftretenden Bedürfnisse zusammengetragen und stetig zur Verfügung<br />

55<br />

Vgl. Elias (1983): Über den Rückzug der Soziologen auf die Gegenwart. Elias wähle<br />

ich als Denker aus, der einen »Prozess der Zivilisation« im Kontrast zu Geschichtsphilosophien<br />

und -theologien als Gegenstand historischer Soziologie oder soziologisch informierter<br />

Historiographie annimmt. Ohne ihm in allen Punkten zuzustimmen, möchte ich<br />

<strong>mit</strong> ihm die Frage nach Charakter und Reichweite <strong>von</strong> Ansätzen zur Bestimmung und<br />

Deutung <strong>von</strong> »Quellen« aufwerfen; vgl. Angehrn (1991): Geschichtsphilosophie; Rohbeck/<br />

Nagl-Docekal (2003, Hrsg.): Geschichtsphilosophie und Kulturkritik; Depkat (2004,<br />

Hrsg.): Wozu Geschichte(n)?; Baberowski (2005): Der Sinn der Geschichte; Rohbeck<br />

(2008 2 ): Geschichtsphilosophie zur Einführung; Engels (2015, Hrsg.): Von Platon bis<br />

Fukuyama.


50<br />

1 Einleitung<br />

gestellt werden. Oftmals könne jedoch nicht jeder Haushalt alles selbst beschaffen.<br />

Und wenn Haushalte sich auf das spezialisierten, was sie am besten können,<br />

dann fehlten ihnen wichtige andere Dinge. Dann bedürfe es eines dritten Ortes,<br />

an <strong>dem</strong> alles getauscht werden kann. Die entwickelte Form der Allokation oder<br />

der materiellen Reproduktion ist der Markt. Hier schon wird eine erste Wechselbeziehung<br />

sichtbar. Keine Herrschaft kann sich auf Dauer halten, wenn sie<br />

nicht einen Markt erlaubt, auf <strong>dem</strong> die Menschen sich versorgen können. Kein<br />

Markt wiederum kann bestehen ohne eine Herrschaft, die den Handel vor Gewalt<br />

schützt. 56<br />

Jede Gesellschaft hat, so Elias, im Blick auf Herrschaft und Wirtschaft einigen<br />

Erklärungs-, Verhandlungs- und Legitimationsbedarf. Jeder Mensch möchte<br />

begreifen und verstehen, wer was zu sagen hat und wie er seinen Lebensunterhalt<br />

und seine Daseinsvorsorge sichern kann, welche Regeln gelten und an welcher<br />

Ordnung er sich orientieren soll. Jede Gesellschaft sei also außer <strong>von</strong> Armut<br />

und Gewalt auch <strong>von</strong> Irrtümern, Missverständnissen, Lügen, Intrigen, geistiger<br />

Verwilderung, Verrohung oder Erstarrung bedroht. Das Mittel, <strong>dem</strong> zu widerstehen,<br />

nennt Norbert Elias Orientierungs<strong>mit</strong>tel oder symbolische Kommunikation.<br />

Menschen schaffen nicht nur Ordnung, Menschen wirtschaften nicht nur, sondern<br />

sie müssen sich <strong>von</strong> der Sinnhaftigkeit ihrer politischen, ökonomischen<br />

und kulturellen Praktiken auch immer wieder überzeugen. Sie erschaffen sich<br />

dazu eine symbolische Ordnung. 57 Die symbolische Kommunikation schließlich<br />

über symbolische Kommunikation – hier lassen sich Elias und Cassirer verbinden<br />

– in allen Formen: Mythos, Sprache, Kunst, Wissenschaft ermöglicht zwischenmenschliche<br />

Interaktionen in großer Komplexität. 58<br />

56<br />

Elias (1983): Über den Rückzug der Soziologen auf die Gegenwart, 32-34.<br />

57<br />

Als Beispiel für die symbolische Kommunikation im Bereich der Herrschaft mag die<br />

Uniform dienen. Richter, Polizisten und Soldaten müssen ihre Rolle im Rahmen eines<br />

staatlichen Gewaltmonopols nicht durch ständige Paraden oder gar manifeste Gewaltausübung<br />

<strong>dem</strong>onstrieren. Sie sind für jedermann durch ihre symbolische Kleidung sofort<br />

erkennbar und werden respektiert. Und in einer modernen Wirtschaft muss niemand<br />

umständlich Körbe voller Wolle und Kannen voller Milch auf den Markt schleppen. Es<br />

gibt handliche Münzen und Scheine und andere vertrauenswürdige Zertifikate, um komplexeste<br />

Tauschvorgänge zu erleichtern und zu beschleunigen. Die Übertragung in die<br />

symbolische Form des digitalisiert gespeicherten Buchgeldes schafft noch einmal erheblich<br />

höhere Geschwindigkeiten und Reichweiten. Christian Polke weist in einem Aufsatz<br />

zur theologischen Ethik auf die Arbeiten <strong>von</strong> George Mead und Michael Tomasello hin,<br />

in denen Kooperation und Konflikt als anthropologische Grundlagen der Moral ausgewiesen<br />

werden. Der empirisch fundierte evolutionäre Blick auf Moral insbesondere des<br />

Anthropologen und Ethologen Tomasello bildet eine gute Ergänzung zu der angesichts<br />

ihrer Knappheit eher hypothetischen Konzeption <strong>von</strong> Elias; vgl. Polke (2018): Was<br />

könnte das sein: theologische Ethik?, 155-158 <strong>mit</strong> Bezug auf Tomasello (2016): A Natural<br />

History of Human Morality. Inzwischen liegt vor: Tomasello (2019): Becoming Human.<br />

58<br />

Wissenschaften im strengen Sinne beschränken sich auf die Aufstellung und Überprüfung<br />

<strong>von</strong> Wenn-Dann-Beziehungen. Aus unübersichtlichen Verläufen, in denen immer<br />

auch alles hätte anders kommen können (Kontingenz), werden über hochreduzierte


1.2 Kultur- und religionstheoretischer Rahmen 51<br />

Sehr gut werden die mythisch noch un<strong>mit</strong>telbaren und qua Religion bereits<br />

ausdifferenzierten Aspekte jeder Bedeutungsgebung sichtbar, wenn wir uns <strong>mit</strong><br />

<strong>dem</strong> menschlichen Interesse an <strong>dem</strong> Großen und Ganzen befassen, also <strong>dem</strong>,<br />

was gemeinhin Kosmos und Welt, Geist und Leben oder Geschichte genannt<br />

wird. Warum interessieren sich Menschen beispielsweise für Geschichte? Mit<br />

Norbert Elias lässt sich die These entwickeln, eine Gesellschaft sei umso zivilisierter,<br />

je mehr es ihr gelingt, Herrschaft und Allokation in symbolische Kommunikation<br />

zu übersetzen. Gewohnheiten werden in den Rang <strong>von</strong> Gesetzen erhoben.<br />

Der Kampf der Waffen auf <strong>dem</strong> Gefechtsfeld wird übertragen in den<br />

Kampf der Stimmen im Parlament. Die Erfindung des Geldes und des Kredites<br />

eröffnet die Möglichkeit, Versprechen und Wetten auf zukünftige Gewinnerwartungen<br />

zu handeln. Die Arbeitskraft <strong>von</strong> Mensch und Tier wird durch energiegetriebene<br />

motorisierte Maschinen ersetzt, die Vorherrschaft der Rohstoffgewinnung<br />

und -verarbeitung weicht der Dienstleistung und der Verarbeitung <strong>von</strong><br />

Information. Als Prozess verstanden beschreibt der Begriff Zivilisation im Sinne<br />

einer soziokulturellen Evolution also mehr als nur zunehmende Affektkontrolle.<br />

Das auch, aber wichtiger noch erscheint nun die Ausdifferenzierung und Befreiung<br />

menschlicher Praktiken aus <strong>dem</strong> Gefängnis materieller oder auch autoritativ<br />

behaupteter Notwendigkeiten in die Weite und Offenheit vielfach gegliederter<br />

und gefächerter und immer komplexerer Ausdrucks-, Gestaltungs- und<br />

Deutungsebenen. 59<br />

und minutiös kontrollierte Versuchsanordnungen diejenigen Begriffe und Gesetzmäßigkeiten<br />

herausgefiltert, die zu gesicherter und widerspruchsfreier Erkenntnis, Prognose<br />

und Planung berechtigen. Von der wissenschaftlichen Arbeit am Mythischen und Individuellen<br />

in Gestalt <strong>von</strong> Philologien, Historiographien und Philosophien, aber auch <strong>von</strong><br />

Pädagogik, Psychologie, Humanmedizin und Soziologie wird zwar ebenfalls Auskunft<br />

über gewisse Gesetzmäßigkeiten erwartet, sofern sie aber Individuen zu ihrem Gegenstand<br />

haben und selbst durch Individuen praktiziert werden, haben sie Anteil an der<br />

Funktion <strong>von</strong> Religion, Kontingenz in Schicksal zu verwandeln, und spiegeln dies in ihren<br />

über die begrifflich-nomologische Empirie hinausgehenden Hermeneutiken. Was<br />

Menschen widerfährt und ihnen als Erziehung, Familiendrama, Beruf und Karriere,<br />

Krankheitsgeschichte und <strong>Krieg</strong>serlebnis bedeutsam und verbindlich erscheint, erheben<br />

sie selektiv und produktiv zu einem Teil ihrer Geschichte, zu ihrem Schicksal und ihrem<br />

Ethos. Das zieht den Vorschlag einer weiteren Definition <strong>von</strong> Religion nach sich, nämlich<br />

solchen Praktiken das Prädikat »religiös« zu geben, in denen Menschen Begebenheiten,<br />

denen sie einen ihr Selbstverständnis prägenden Sinn beimessen, <strong>mit</strong> starken, umfassenden<br />

und dauerhaften Erinnerungen, Einstellungen und Motivationen umgeben und<br />

diese wiederum zu kollektiven symbolischen Ordnungen zusammenstellen.<br />

59<br />

Spätestens an diesem Punkt sollte deutlich geworden sein, dass Religion als Kollektivsingular<br />

mehr ist als ein Gattungsbegriff für traditionelle Glaubensrichtungen. Eine<br />

nicht geringe Zahl <strong>von</strong> soziologischen Religionstheorien krankt daran, dass sie Mythos<br />

und Religion nicht unterscheiden. Im Blick auf das Christentum beispielsweise wird zu<br />

wenig zwischen Kirchen- und Religionssoziologie unterschieden. Dabei hat schon einen<br />

theologisch gehaltvoller Kirchenbegriff mehr im Blick als diese oder jene regionale Kirchenorganisation<br />

oder »Religionsausübung«. Die Soziologie braucht gewiss messbare


52<br />

1 Einleitung<br />

Und eben einen solchen alternativenreichen Überblick liefert die Historiografie.<br />

Müssen wir aber im Bedeutungsgehalt des Wortes »Geschichte« auch zugleich<br />

einen allgemeinen Fortschritt annehmen? Bedeutet »zivilisiert« im Sinne<br />

<strong>von</strong> Elias etwa immer auch ein höheres »ethisches« Niveau? Ist der zivilisierte<br />

Mensch <strong>dem</strong> unzivilisierten Menschen, ist die »Hochzivilisation« <strong>dem</strong> »Naturvolk«,<br />

ist das »religiöse« <strong>dem</strong> »mythischen« Bewusstsein moralisch überlegen?<br />

Auch wenn die Prädikate »moralisch« und »ethisch« hier noch nicht näher bestimmt<br />

sind, dürften uns unsere Intuitionen hier doch zweifeln oder zumindest<br />

innehalten lassen. Vielleicht kann an dieser Stelle eine erste Verhältnisbestimmung<br />

<strong>von</strong> Geschichte, kultureller Evolution, Religion und Ethik etwa so lauten:<br />

Die Prädikate »zivilisiert« und »kultiviert« suggerieren als Prädikate solcher Kollektivsingulare<br />

als zeitlos und universal gültig behauptete normative Ansprüche<br />

und Erwartungen. Je nach<strong>dem</strong>, wie diese dann erfüllt werden, fällt das Urteil<br />

über die betreffende Religion, Zivilisation oder Kultur aus. Sie gilt dann als hochstehend,<br />

vorbildlich und blühend oder als pri<strong>mit</strong>iv, wild, brutal und barbarisch<br />

oder als etwas dazwischen. Normative Ansprüche an einzelne Erscheinungen<br />

können auch in Relation zum jeweiligen Entwicklungs- und Erkenntnisstand ihres<br />

Zeitalters erhoben werden. Den Maßstab liefern dann zeitgenössische Stimmen,<br />

die jene Erscheinung bereits zu ihrer Zeit kritisch bewerteten, sich entsprechend<br />

engagierten und sich angesichts <strong>von</strong> Missständen <strong>mit</strong> Lob oder Tadel,<br />

<strong>mit</strong> Reformvorschlägen oder anklagend zu Wort meldeten. Auch dann aber bestimmt<br />

ein für überzeitlich gültig erklärter Maßstab das Urteil, nur eben ver<strong>mit</strong>telt<br />

über Zeitzeugen. Schließlich kann der Sinn eines ethischen ebenso wie eines<br />

ästhetischen Urteils über eine ferne oder längst vergangene Gestalt oder Konstellation<br />

der Geschichte dazu dienen, sie künftigen Generationen als positives<br />

oder negatives Vorbild und Reservoir <strong>von</strong> Ideen vorzustellen. 60<br />

Konstrukte, da<strong>mit</strong> sie empirisch arbeiten kann, da<strong>mit</strong> erfasst sie aber noch nicht das<br />

gesamte Feld <strong>von</strong> Religion.<br />

60<br />

Worin denn besteht der Sinn <strong>von</strong> Geschichte als ausdifferenzierte Erzählung <strong>von</strong><br />

Ereignissen zwischen einem Zustand A und einem Zustand B? Soll und kann Geschichte<br />

befreien? Wie weit soll sie reichen, <strong>von</strong> <strong>dem</strong> Anfang einer Universalgeschichte bis zu<br />

ihrem Ende? Was wäre da<strong>mit</strong> gewonnen? Wenn exakte historisch-kritisch-selbstkritische<br />

Forschung sich Quellen und zu diesen immer wieder neue Quellen verschafft, die sie <strong>mit</strong><br />

wissenschaftlichen Methoden sichert, systemisch abwägend einordnet und interpretiert,<br />

so ist sie sich doch längst darüber im Klaren, dass sie ihre Quellen und Themen aus <strong>dem</strong><br />

unüberschaubaren Strom der Ereignisse stets einem bestimmten systematischen Ansatz<br />

und bestimmten Interessen folgend auswählt und auch dann niemals alles, sondern nur<br />

dies und jenes <strong>von</strong> ihnen erzählen kann. Anders würde sie ja nie beginnen können und<br />

niemals fertig werden, sondern müsste irgendwo ohne Angabe <strong>von</strong> Gründen einsetzen<br />

und irgendwo abbrechen. Das den Quellen verpflichtete realistische Moment und das sie<br />

beherrschende formgebende Moment sind vom Historiker ständig gegenseitig auszutarieren;<br />

und jede historische Aussage bleibt Hypothese; vgl. Kracauer (2009): Geschichte,<br />

181-208. Aber zu welchem Zweck? Menschen erforschen Geschichte tendenziell tatsächlich<br />

uferlos bis hin zur Geschichte der Natur, weil sie sie verstehen wollen. Warum wollen<br />

sie sie verstehen? Warum macht sich der Geograph weit über jede praktische Nutzan-


1.2 Kultur- und religionstheoretischer Rahmen 53<br />

Historiographie ist eine andere Art <strong>von</strong> Orientierungs<strong>mit</strong>tel als Ethik, angesichts<br />

der Komplexität ihres Gegenstandes auch ein völlig anderes deskriptives<br />

Wissen als Naturwissenschaft. Aber sie alle sind Orientierungs<strong>mit</strong>tel. Denn was<br />

immer wir in den Status <strong>von</strong> »Befunden«, »Fakten« und »Quellen« erheben, wird<br />

zu einem Teil unserer Gegenwart. So kann etwas Vergangenes nur erkannt und<br />

verstanden werden, in<strong>dem</strong> etwas Gegenwärtiges interpretiert wird, und umgekehrt<br />

wird Gegenwärtiges aus Vergangenem abgeleitet. So sind je<strong>dem</strong> Menschen<br />

»seine« Geschichte und »seine« Erkenntnisgewinne bedeutsam und im<br />

Ernstfall so »heilig«, dass sie unter keinen Umständen <strong>dem</strong> Vergessen ausgeliefert<br />

werden dürfen. Da<strong>mit</strong> stehen wir an der Schwelle zur Geschichtsphilosophie<br />

und -theologie, zur Geschichtspolitik und zur Religionspolitik als zwei wichtigen<br />

Arenen im politischen Kampf. Hier müssen wir besonders hellhörig sein.<br />

Diesen Kampf gewinnt der, der seine Erzählung durchsetzt, der in der Arena<br />

der symbolischen Kommunikation am Ende besteht. Besonders alarmierend für<br />

unsere moralische Intuition ist es, wenn die Barbarei im Feld der symbolischen<br />

Kommunikation selbst um sich greift: etwa wenn Physiker ihre Forschungsergebnisse<br />

nutzen, um Massenvernichtungswaffen zu entwerfen, wenn Richter<br />

rechtsförmiges Unrecht sprechen, wenn Kaufleute riskante Wetten zu seriösen<br />

Gütern umdeklarieren, wenn Historiker ihre Quellen und Journalisten ihre<br />

Nachrichten nicht kritisch prüfen, sondern im Auftrag und auf Bestellung der<br />

Mächtigen fake news erfinden, wenn Kirchen Inquisitionen organisieren. Dann<br />

wird die Hochzivilisation samt ihrer Religion barbarischer als irgendeine ihrer<br />

»Vorstufen«, dann wird Wissen zum Fluch, Wissenschaft wird Propaganda, das<br />

Urteil ein Verbrechen, die Ware ein Betrug, die Nachricht eine Lüge, das Gebet<br />

ein Dogma, und aus Zivilität wird Barbarei. Dann zeigen sich nicht nur hier und<br />

da oberflächliche menschliche Schwächen und einzelne Fehlentwicklungen,<br />

vielmehr breitet sich die Barbarei bereits tief und radikal in der Sphäre der<br />

wendung hinaus ein räumlich und zeitlich umfassendes und detailliertes Bild unseres<br />

Heimatplaneten, warum erforscht der Astronom fernste Winkel des Weltalls, warum rekonstruiert<br />

der Historiker die Geschichte sogar längst versunkener Völker? Ist es die<br />

allgemeine <strong>dem</strong> Menschen <strong>von</strong> Aristoteles attestierte »Freude an Sinneseindrücken«?<br />

Lieben wir das Vergangene völlig selbstlos um des Vergangenen willen? Darf einfach nur<br />

nichts verloren gehen? Möchten wir einfach nur wissen, wie eine Geschichte begann und<br />

wie sie ausgeht? Oder sollen wir uns zu einer bestimmten Gestalt der Geschichte bekennen,<br />

um etwa in einem Jüngsten Gericht jenseits und oberhalb der Geschichte auf der<br />

richtigen Seite zu stehen? Oder sollen wir uns davor besser hüten? Sehen wir uns vielleicht<br />

für die Bewährung in der Wirklichkeit besser gewappnet, wenn wir den Spielraum<br />

des Möglichen weitest möglich überblicken? Meine Antwort: Wir wollen unseren Platz<br />

in Raum und Zeit selbst bestimmen und nehmen nicht einfach hin, was man uns über<br />

uns erzählt. Wir wollen unseren Spielraum zwischen Notwendigkeit und Freiheit ausleuchten<br />

und ihn dann auch nutzen und uns gegenseitig gewähren, in<strong>dem</strong> wir einander<br />

zuhören; vgl. Kracauer (2009): Geschichte, 40-54, 72-91, 150f.; zur zentralen Rolle der<br />

Historiographie in den Geisteswissenschaften vgl. Sauter et al. (1973), 162-170.


54<br />

1 Einleitung<br />

grundlegenden Prinzipien aus. Kostbare Ideale werden unter der Hand in ihr<br />

Gegenteil verkehrt.<br />

Gegen eine Pervertierung <strong>von</strong> Wirtschaft und Herrschaft kann symbolische<br />

Kommunikation helfen. Gegen deren Kontamination gibt es aber kein anderes<br />

Mittel als wiederum nur symbolische Kommunikation, deren gängiger Name<br />

dann »Aufklärung« ist. Die Geschichten einer Zivilisation werden in immer<br />

neuen Renaissancen und Aufklärungen immer wieder neu erzählt. Und wenn<br />

sie <strong>von</strong> der Ebene der elementaren Ausdrucksfunktion auf die der Darstellung<br />

in einem Kanon Heiliger Schriften gehoben werden, dann <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Anspruch<br />

weitreichender und machtvoller programmatischer Bedeutungsgebung. 61 Das<br />

gilt für die Hebräische Bibel, das Neue Testament, den Koran, aber auch für die<br />

Veden und Upanischaden und die Baghavad Gita. Das reicht vom mesopotamischen<br />

Gesetz des Urukagina um 2360 v. Chr. bis zur Allgemeinen Erklärung der<br />

Menschenrechte <strong>von</strong> 1948. Und auch große Dokumente der wissenschaftlichen<br />

Forschung haben programmatische Funktion, <strong>von</strong> Galileos Il Saggiatore <strong>von</strong><br />

1623 über Charles Darwins Origin of Species <strong>von</strong> 1859 bis zu Max Plancks Aufsatz<br />

Zur Theorie des Gesetzes der Energieverteilung im Normalspectrum <strong>von</strong> 1900.<br />

Denn alles steht und fällt da<strong>mit</strong>, dass und wie diese Dokumente rezipiert und<br />

wie ihre Geschichte erzählt wird und wie alles zusammen erneut weitere<br />

Schritte menschlichen Geistes auslöst. Denn wer erzählt, muss stets mehr weglassen,<br />

als er <strong>mit</strong>teilen kann, er muss auswählen. Und wer auswählt, muss erklären,<br />

wonach er auswählt. Auswählen, stilisieren, interpretieren muss jeder<br />

Erzähler, aber nicht alle sind so ehrlich, dass sie das sichtbar machen. Die Träger<br />

<strong>von</strong> Kultur und Religion als Praxis und Prozess führen ihre Geschichte und Gegenwart<br />

im Bewusstsein dessen, dass ihre Bilder Bilder sind, auf kanonisch-paradigmatische<br />

Ursprünge zurück, also stets <strong>mit</strong> Verweis auf Reihen, Quellen, Schulen,<br />

Traditionen und in deren respektvoll interpretierender Aneignung und dies öffentlich,<br />

revisionsoffen und angreifbar.<br />

Es geht um Aufklärung über die Aufklärung, die Peter Wagner als diskursiven<br />

Bruch versteht: »Eine historische Analyse der Moderne zu betreiben, verlangt<br />

also, <strong>mit</strong> einer Unterscheidung zu arbeiten zwischen <strong>dem</strong> Diskurs über<br />

das Projekt der Moderne, der selbst mehrdeutig und wissenssoziologisch zu untersuchen<br />

ebenso wie historischen Transformationen unterworfen ist, und den<br />

Praktiken und Institutionen der »modernen« Gesellschaften. Entgegen jeder idealistischen<br />

– normativen und suprahistorischen – Überhöhung des Begriffs der<br />

Moderne bedeutet dies schlicht, soziologisch und historisch anzuerkennen, daß<br />

vor mehr als zwei Jahrhunderten ein Umbruch in den Diskursen über Menschen<br />

und Gesellschaften erfolgte. Dieser diskursive Bruch etablierte die modernen<br />

Ideen als imaginäre Bedeutungen für Individuen und Gesellschaften und instituierte<br />

dadurch neue Typen sozialer und politischer Themen und Konflikte«. 62<br />

Aus diesem Zitat lässt sich folgern: Jene »modernen Ideen als imaginäre Bedeu-<br />

61<br />

62<br />

Vgl. Becchi et al. (2012, Hrsg.): Texte und Autoritäten.<br />

Wagner (1995): Soziologie der Moderne, 25.


1.2 Kultur- und religionstheoretischer Rahmen 55<br />

tungen« gehören erstens in eine zeitlich eingrenzte Epoche im Zivilisationsprozess,<br />

die wir Aufklärung nennen, zweitens waren und sind sie zunächst Postulate<br />

und Projekte, deren Umsetzung deshalb keineswegs zügig voranschritt und<br />

in den anderen Elementarfunktionen 63 keineswegs auch nachweisbar sein muss,<br />

drittens zeichnet sich ihre Modernität vor allem dadurch aus, dass sie Individuen<br />

<strong>von</strong> Gesellschaften abheben. Laut Wagner »gründete sich die »moderne«<br />

Organisation allokativer und autoritativer Praktiken auf die Idee des autonomen,<br />

zu zielgerichtetem Handeln fähigen Individuums als Grundeinheit sozialer<br />

Organisation«. 64 Und diese Idee hatte nach ihrem emanzipatorischen Aufbruch<br />

im Europa des 18. Jh. mindestens zwei epochale Krisen zu bestehen, nämlich<br />

erstens die unvollständige Ausarbeitung des liberalen Projekts und sein vorläufiges<br />

Scheitern sowie die rigide Neuorganisation des Projekts als Antwort auf<br />

jenes Scheitern und die wiederum darauf krisenhaft antwortende Pluralisierung<br />

und die Entdeckung der Kontingenz: »Während es zweifellos ein großes Spektrum<br />

an Möglichkeiten gibt, in denen Menschen verfügbare Regeln und Ressourcen<br />

zur Selbstverwirklichung nutzen, so finden sich doch historisch unterscheidbare<br />

Formen der Konstruktion sozialer Identitäten. Die Frage nach diesen<br />

Formen kann nicht auf rein individualistischer Grundlage gestellt werden, denn<br />

der Charakter der jeweiligen Grenzen hängt <strong>mit</strong> da<strong>von</strong> ab, wie die jeweils bedeutsamen<br />

Anderen diese sehen. Diese sind zwar nicht durch irgendeine übermenschliche<br />

Kraft festgelegt, ebenso wenig aber sind sie durch den Willen des<br />

Einzelnen zu erschaffen oder zu zerstören. Das Thema der Kontingenz ist in eine<br />

Frage historischer Soziologie umzuwandeln, in einer Frage nach der tatsächlichen,<br />

nicht der prinzipiellen Kontingenz.« 65 Der Begriff der prinzipiellen Kontingenz<br />

beschreibt die Überzeugung, dass Verhältnisse nicht notwendig so wurden,<br />

wie wir sie vorfinden, es hätte auch anders kommen können und kann und wird<br />

jederzeit anders kommen, als wir denken. Man kann sie teilen oder nicht. Dass<br />

etwas nun einmal so gekommen und deshalb so oder so weitergeht, das ist die<br />

tatsächliche Kontingenz: nicht »es hätte auch anders kommen können«, sondern<br />

»jetzt ist es nun einmal so gekommen«. Das kann nicht mehr geändert werden.<br />

Eine tatsächliche Kontingenz als Überzeugung jedoch kann unter einem Mangel<br />

an symbolischer Kommunikation nicht nur verblassen, sondern unter <strong>dem</strong><br />

63<br />

Auch Wagner arbeitet <strong>mit</strong> drei Elementarfunktionen nach Elias, vgl. Wagner (1995):<br />

Soziologie der Moderne, 48-51. Eilert Herms wählt vier, um Religion im Feld symbolischer<br />

Kommunikation hervorzuheben; vgl. Herms, (1995), 234-275; Stock (2011): Einleitung,<br />

16-21, 385-396. Das Soziale offenbart sich als menschliche Gesellschaft, wenn<br />

diese als eine Verallgemeinerung nicht verallgemeinerbarer Individuen und deshalb hinreichend<br />

differenziert verstanden wird, also ausgehend <strong>von</strong> der Analyse des personalen<br />

Selbstbewusstseins als individuellem Freiheitsgefühl einschließlich der darin verankerten<br />

inhaltlich bestimmten relativen und schlechthinnigen Transzendenzgewissheiten.<br />

Weitere Ausführungen dazu in den Abschnitten 1.2.2. Ethik, 1.2.4. Ethische Theologie,<br />

5.2.1. Die Praxis der Kirche.<br />

64<br />

Wagner, a.a.O., 35.<br />

65<br />

Wagner, a.a.O., 36.


56<br />

1 Einleitung<br />

Druck symbolischer Kommunikation sogar gezielt vernichtet werden: damnatio<br />

historiae. Eine Geschichte als ein kontingenter Geschehenszusammenhang ist<br />

dann gelöscht, wenn alle ihre Träger erfolgreich ausgelöscht worden sind. Die<br />

europäische Moderne hat auch dafür ein monströses Projekt geliefert: die Shoa.<br />

Tatsächlicher Kontingenz in der symbolischen Kommunikation Rechnung zu<br />

tragen, heißt nichts anderes, als hier und jetzt diese konkrete und keine andere<br />

Geschichte zu erzählen und dies im harten Konflikt <strong>mit</strong> denen, die das alles ganz<br />

anders sehen und ihre Geschichten dagegenhalten.<br />

Wir treten im Kampf um imaginäre Bedeutungsgebungen also tatsächlich<br />

erneut in die Sphäre <strong>von</strong> Religion, Religionskritik, Religionswissenschaft und<br />

Religionspolitik, ja sogar Religionskrieg ein. Das ist gefährlich. Eine weitere epochenübergreifende<br />

soziologische These neben den eingangs genannten <strong>von</strong><br />

Norbert Elias besteht darin, dass sich gesellschaftlich institutionalisierte Praktiken<br />

in schweren Krisen immer wieder durch Interaktion unter Anwesenden,<br />

also durch Verständigung, regenerieren. 66 Institutionen sind Sätze <strong>von</strong> Regeln<br />

und Ressourcen, auf die sich Menschen in ihrem Denken und Handeln gemeinsam<br />

beziehen. Wenn diese im Prozess der Zivilisation erschüttert werden, werden<br />

die Ressourcen gesichtet und die Regeln auf die Tagesordnung gesetzt. Die<br />

Individuen treten zusammen, und wer selbst nicht anwesend sein kann, wird<br />

durch Andere repräsentiert. Und je tiefer eine Krise reicht, desto weiter müssen<br />

die Betroffenen wieder <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Anfang anfangen und eine »Stunde null« einläuten,<br />

um sich persönlich zu engagieren und noch einmal zumindest gedanklich<br />

<strong>von</strong> vorne zu beginnen. Das zweite Kapitel dieser Studie skizziert deshalb eine<br />

übersichtliche Galerie <strong>von</strong> »Geschichten der Menschheit« und dies unter <strong>dem</strong><br />

Eindruck erheblicher Krisenphänomene als Herausforderungen für die politische<br />

Ethik. Und das dritte Kapitel geht auf »kanonische Quellen« zurück und<br />

erprobt die nun im Folgenden noch zu skizzierenden Grundsätze ihrer Auslegung.<br />

Um dabei gleich einen Bezug zur Ethik herzustellen, empfiehlt es sich,<br />

möglichst konkret beim Individuum und seiner persönlichen Orientierung zu<br />

beginnen.<br />

3. Religion als Weltverantwortung durch Weltauslegung:<br />

»Wenn du in das Land kommst, das dir der HERR, dein Gott, zum Erbe geben wird,<br />

und es einnimmst und darin wohnst, so sollst du nehmen die Erstlinge aller Feldfrüchte,<br />

die du <strong>von</strong> deinem Lande einbringst, das der HERR, dein Gott, dir gibt, und<br />

sollst sie in einen Korb legen und hingehen an die Stätte, die der HERR, dein Gott,<br />

erwählen wird, dass sein Name daselbst wohne, und sollst zu <strong>dem</strong> Priester kommen,<br />

der zu der Zeit sein wird, und zu ihm sagen: Ich bekenne heute <strong>dem</strong> HERRN, deinem<br />

Gott, dass ich gekommen bin in das Land, das der HERR, wie er unsern Vätern geschworen<br />

hat, uns geben wollte. Und der Priester soll den Korb aus deiner Hand<br />

nehmen und ihn vor <strong>dem</strong> Altar des HERRN, deines Gottes, niedersetzen. Dann sollst<br />

66<br />

Vgl. Wagner, a.a.O., 276f.


1.2 Kultur- und religionstheoretischer Rahmen 57<br />

du anheben und sagen vor <strong>dem</strong> HERRN, deinem Gott: Mein Vater war ein Aramäer,<br />

<strong>dem</strong> Umkommen nahe, und zog hinab nach Ägypten und war dort ein Fremdling <strong>mit</strong><br />

wenig Leuten und wurde dort ein großes, starkes und zahlreiches Volk. Aber die<br />

Ägypter behandelten uns schlecht und bedrückten uns und legten uns einen harten<br />

Dienst auf. Da schrien wir zu <strong>dem</strong> HERRN, <strong>dem</strong> Gott unserer Väter. Und der HERR<br />

erhörte unser Schreien und sah unser Elend, unsere Angst und Not und führte uns<br />

aus Ägypten <strong>mit</strong> mächtiger Hand und ausgerecktem Arm und <strong>mit</strong> großem Schrecken,<br />

durch Zeichen und Wunder, und brachte uns an diese Stätte und gab uns dies<br />

Land, darin Milch und Honig fließt. Nun bringe ich die Erstlinge der Früchte des<br />

Landes, das du, HERR, mir gegeben hast. – Und du sollst sie niederlegen vor <strong>dem</strong><br />

HERRN, deinem Gott, und anbeten vor <strong>dem</strong> HERRN, deinem Gott, und sollst fröhlich<br />

sein über alles Gut, das der HERR, dein Gott, dir und deinem Hause gegeben hat, du<br />

und der Levit und der Fremdling, der bei dir lebt.« (Dtn 26, 1-11)<br />

Religion zur Legitimation territorialer Expansion? Das gesamte Deuteronomium<br />

(Dtn) ist als das literarische Projekt einer Moses-Rede an das Volk noch jenseits<br />

des Jordan und vor der Landnahme angelegt. In der zitierten Stelle legt Moses<br />

bereits im Vorgriff auf die künftige Landnahme den Erntedankritus fest, der die<br />

Legitimation sowohl des Landbesitzes als auch der jährlichen Ernte aus <strong>dem</strong><br />

Exodus in Erinnerung rufen soll. Die Szene ist kulturübergreifend verallgemeinerbar:<br />

Jeder erwachsene Mensch beansprucht »Raum« und macht sich ein Bild<br />

seiner Geschichte. Aus Einzelerfahrungen, die jeder Mensch in seiner persönlichen<br />

Lebensgeschichte auf vielfältige Weise zum Ausdruck bringt und sie in ein<br />

immer schon vorhandenes und <strong>mit</strong>gedachtes größeres Ganzes einordnet, baut<br />

er sich seine persönliche leiblich-sinnlich-geistige Welt auf. Jeder Mensch geht<br />

diesen Weg, und jeder macht seine Erfahrungen und fügt seine Erfahrungen in<br />

seine Kontexte anders zusammen als andere. So entstehen ausdrucksstarke,<br />

mal private, mal öffentliche Darstellungen einer für Einzelne und Gruppen individuell<br />

bedeutsamen Gesamtheit, die ausgetauscht, abgeglichen und zu alltäglichen,<br />

mehr aber noch außeralltäglichen Arrangements verdichtet und gegen<br />

konkurrierende ausgebaut werden. 67<br />

Je erfolgreicher jemand darin ist, desto<br />

mächtiger werden seine Bilder und treten zu denen anderer in Wettbewerb. 68<br />

Denn kaum etwas ist uns Menschen kostbarer, als etwas zu bedeuten und dies<br />

selbst bestimmen zu können. Denn das sagt uns, wer wir sind und wie und in<br />

welcher Gesellschaft wir leben wollen. Ganze Familienepen und Nationalgeschichten,<br />

Epochen und Kontinente lassen wir dazu vor unserem geistigen Auge<br />

vorbeiziehen, in<strong>dem</strong> wir sie gedanklich durchstreifen, umrunden, deuten und<br />

67<br />

Vgl. Schütz / Luckmann (1982): Strukturen der Lebenswelt, Bd. 2, 39-177; insbesondere<br />

die Unterscheidung kleiner, <strong>mit</strong>tlerer und großer Transzendenzen bei Luckmann<br />

(1991): Die unsichtbare Religion, 164-183.<br />

68<br />

Am Beispiel der Konkurrenz <strong>von</strong> Religion und Wissenschaft: »Der Glaube an die<br />

Wissenschaft spielt die Rolle der herrschenden Religion unserer Zeit« [<strong>von</strong> Weizsäcker<br />

(2006 7 ): Die Tragweite der Wissenschaft, 3].


58<br />

1 Einleitung<br />

uns aneignen oder uns <strong>von</strong> ihnen distanzieren. Und das gelingt nie einem allein<br />

und führt stets in Konflikte. Ist eine Gesamtheit als Grundeinstellung einmal<br />

gefestigt, ist sie <strong>mit</strong> dissonanten Einzelargumenten kaum zu erschüttern. Sollen<br />

Konflikte um Geltungsansprüche und »Leitkulturen« aber nicht einfach auf die<br />

Alternative <strong>von</strong> Sieg und <strong>Nieder</strong>lage, Überwältigung und Unterwerfung hinauslaufen,<br />

dann müssen jene Ansprüche ins Gespräch gebracht werden, zum Beispiel<br />

literarisch wie hier in Dtn 26.<br />

Im weiten Forum <strong>von</strong> Religion können mythische Stoffe einfach durchgesetzt<br />

werden, oder sie werden ausgelegt und aufbereitet und dies so, dass die<br />

Vielfalt symbolischer Formen nicht unterdrückt, sondern aufgenommen wird.<br />

Alles andere bliebe mythisch und fiele hinter Religion zurück. Das gilt für individuell-biographische<br />

rites de passage ebenso wie für kollektiv-gesellschaftlich<br />

tradierte Konventionen etwa der geographischen und kalendarischen Orientierung<br />

und für symbolisch-normative Programmbegriffe wie Nation und Staatsangehörigkeit<br />

sowie Menschenwürde und Menschenrechte. Mit ihrem diskursiv<br />

gewachsenen universalen Anspruch, das Ganze der Menschheit zu erfassen,<br />

können letztere als überpositive, vorpolitische und vor allem vorstaatliche Darstellungen<br />

funktional verstandener Religion verstanden werden, denn sie »erschaffen«<br />

nichts Geringeres als eine Welt: eine »Welt, in der die Menschen Redeund<br />

Glaubensfreiheit und Freiheit <strong>von</strong> Furcht und Not genießen« (Präambel der<br />

Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte <strong>von</strong> 1948). 69<br />

Insbesondere die ersten auf die gesamte Menschheit zielenden Kapitel der<br />

Genesis gehen <strong>mit</strong> ihren Stoffen so vor, dass sie das große Ganze nur Teil für<br />

Teil erzählend entfalten und nicht erklären. Die Urheimat »Eden« ist ein imaginärer<br />

Ort ohne Gewalt und jenseits <strong>von</strong> Gut und Böse. Die Dialoge zwischen <strong>dem</strong><br />

Paar, der Schlange und Gott bilden den Übergang <strong>von</strong> einer paradiesischen<br />

Urheimat zum mühevollen Leben der Gegenwart. Die Brudermordszene verdichtet<br />

das Drama der reflexiven Orientierung zwischen Gut und Böse maximal:<br />

69<br />

Da<strong>mit</strong> ist das vorläufige Ziel der Überlegungen zu Religion erreicht. Sie beanspruchen<br />

nicht, eine »Weltgesellschaft« zu erfassen und Religionen am Maßstab des Christentums<br />

und unter <strong>dem</strong> Sammelbegriff »Weltreligionen« und ihr Ethos unter einem »Weltethos«<br />

und ihre Kultur in einem »Weltgeist« oder einem dialektischen Idealismus oder<br />

Materialismus zu vereinen und die Geschichten und Wissenschaften der Menschheit zu<br />

einem »System« einer Menschheitsgeschichte, Menschheitsreligion, Menschheitsethik<br />

oder Universalwissenschaft zusammenzustellen, sie an höchsten Idealen zu messen,<br />

ihnen einen göttlichen Plan, eine absolute Vernunft oder eine geschichtsphilosophische<br />

Notwendigkeit zu unterstellen und sie so als sinnvoll zu erweisen. Nein, genau das alles<br />

gerade nicht! Die symbolischen Formen als »Energien« eines »menschlichen Geistes« in<br />

ihrer Unterschiedlichkeit und Wechselwirkung erlauben vielmehr den immer wieder kritischen<br />

Blick <strong>von</strong> der einen Form auf die andere als stets »nur« imaginären Blick vom<br />

Teil auf das Ganze und vom Ganzen auf die Teile, wenn nicht sogar <strong>von</strong> einem diskursivtranszendentalen<br />

Außen auf ein Ganzes. Die große Leidenschaft fürs Systematische aus<br />

einer absoluten Perspektive muss da<strong>mit</strong> unerfüllt bleiben. Zur Korrespondenz zwischen<br />

diesem philosophischen und einem theologischen Religionsverständnis vgl. Stock<br />

(2011): Einleitung in die Systematische Theologie, §1 Religion und Lebensführung, 8-24.


1.2 Kultur- und religionstheoretischer Rahmen 59<br />

»Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick. Da sprach der HERR zu<br />

Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? Ist's nicht so:<br />

Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm,<br />

so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche<br />

über sie. Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es<br />

begab sich, als sie auf <strong>dem</strong> Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel<br />

und schlug ihn tot. Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach:<br />

Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? Er aber sprach: Was hast du<br />

getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir <strong>von</strong> der Erde. Und nun:<br />

Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut<br />

<strong>von</strong> deinen Händen empfangen. Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort<br />

seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden. Kain aber<br />

sprach zu <strong>dem</strong> HERRN: Meine Strafe ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte.<br />

Siehe, du treibst mich heute vom Acker, und ich muss mich vor deinem Angesicht<br />

verbergen und muss unstet und flüchtig sein auf Erden. So wird mir's gehen, dass<br />

mich totschlägt, wer mich findet. Aber der HERR sprach zu ihm: Nein, sondern wer<br />

Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden. Und der HERR machte ein Zeichen<br />

an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände. So ging Kain hinweg <strong>von</strong><br />

<strong>dem</strong> Angesicht des HERRN und wohnte im Lande Nod, jenseits <strong>von</strong> Eden, gegen<br />

Osten.« (Gen 4, 5b-7).<br />

Ethisch kann dieser Text wie folgt gedeutet werden: Die moralische Unterscheidung<br />

ist angelegt, sie wird jedoch erst manifest, wenn der göttliche Schöpfungsakt<br />

nicht mehr umstandslos wirkt, sondern auf ein Ja oder Nein stößt, wenn da<br />

Wesen erwachsen werden, den Dingen Namen geben, nach der Frucht greifen,<br />

den Garten verlassen, Nachkommen zeugen, <strong>von</strong> denen die einen als Nomaden,<br />

die anderen sesshaft leben und <strong>mit</strong>einander in Konkurrenz geraten. Die Szene<br />

wird in einem kräftigen Bild meisterhaft vorbereitet: Kain »ergrimmt und senkt<br />

finster seinen Blick«, er hört sogar die Stimme, die eine Hemmung und Schwelle<br />

zwischen Ergrimmen und Erschlagen einträgt, bleibt ihr gegenüber aber sprachlos.<br />

Gleichwohl hat er Worte, um die Tat planvoll anzulegen. Er lockt den Bruder<br />

auf den Acker und erschlägt ihn. Die Stimme Gottes, die zuvor fragte »Adam, wo<br />

bist du?«, meldet sich wieder und fragt nun: »Wo ist dein Bruder?« Der Mörder<br />

tötet vorsätzlich, er stellt sich ahnungslos, weist jede Verantwortung <strong>von</strong> sich,<br />

zeigt keine Reue, sorgt sich wortreich um seine Zukunft. Und wenn es in der<br />

Gesamtkonzeption der biblischen Tradition einen Locus classicus für die Zuweisung<br />

der Menschenwürde gibt, dann ist es bei aller Härte der Strafe diese Stelle<br />

über das Kainsmal als Garanten einer überlegenen und schützenden Sanktionsgewalt<br />

gegen die Willkür tödlicher Gewalt sogar zum Schutz eines überführten<br />

Mörders vor weiterer Willkürgewalt. Beim Motiv der Gottesebenbildlichkeit <strong>von</strong><br />

Gen 1, 26f. (vgl. Ps 8, 6) geht es um die ursprüngliche Bestimmung des Menschen<br />

als Repräsentanten der Gottheit im Kosmos und Herrscher und Bewahrer<br />

aller anderen Geschöpfe. Diese Bestimmung verlagert sich in Gen 3, 22 – »Und<br />

Gott der HERR sprach: Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß,


60<br />

1 Einleitung<br />

was gut und böse ist« – in die gottähnliche Fähigkeit, gut <strong>von</strong> böse unterscheiden<br />

zu können. 70 Die Aufgabe, »ewig« zu herrschen, ermäßigt sich zu der Aufgabe,<br />

»zeitlich« zu urteilen. Die Regel für das Urteil im äußersten Fall lautet:<br />

»Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll um des Menschen willen vergossen<br />

werden; denn Gott hat den Menschen zu seinem Bilde gemacht.« (Gen 9, 6)<br />

Die <strong>dem</strong> Kain zugesagte und dort noch exzessive Regel wird hier – bezeichnenderweise<br />

nach <strong>dem</strong> kosmischen Gewaltexzess der Sintflut – als bereits ermäßigtes<br />

Menschheitsgesetz formell verkündet. Und um sogar noch einen Schritt weiterzugehen:<br />

»Wer einen Menschen schlägt, dass er stirbt, der soll des Todes sterben. Hat er ihm<br />

aber nicht nachgestellt, sondern hat Gott es seiner Hand widerfahren lassen, so will<br />

ich dir einen Ort bestimmen, wohin er fliehen kann. Wenn aber jemand an seinem<br />

Nächsten frevelt und ihn <strong>mit</strong> Hinterlist umbringt, so sollst du ihn <strong>von</strong> meinem Altar<br />

wegreißen, dass man ihn töte« (Ex 21, 12-14).<br />

Tötungshandlungen werden nun unterschieden in nichtvorsätzliches und vorsätzliches<br />

Töten, also in Totschlag und Mord, und Willkürtötungen werden unterschieden<br />

<strong>von</strong> rechtsförmig eingegrenzten Sanktionstötungen, zwei rechtsgeschichtlich<br />

höchst bemerkenswerte Schritte.<br />

Eine solche Auslegung ist methodisch vor <strong>dem</strong> Quellentext und möglichen<br />

Parallelen, darüber hinaus aber vor einem Forum und Kontext symbolischer Formen<br />

– der Sprache, der Kunst, der Erkenntnis, des Rechtes etc. – zu verantworten,<br />

denn der Text selbst bringt mythische Motive zur Sprache, hebt sie sogar<br />

auf die Ebene der Kunst und bleibt in der für Kunst typischen Weise in der<br />

Schwebe zwischen Ausdruck und Bedeutung und gibt sie da<strong>mit</strong> frei zur weiteren<br />

Bearbeitung und Interpretation. Symbolische Orientierung ist auch gar nicht<br />

anders möglich, sie kann die Bewusstseinsfunktion in der Richtung des Ausdrucks<br />

nicht ignorieren, sie braucht einen Fall, und der muss berühren und erschüttern,<br />

dazu muss sie ihn schildern und bebildern. Schon das lenkt den Blick<br />

in die Richtung der Bedeutung, welche die in Kains Todesangst dargestellte<br />

Sorge aufnimmt und den Protest – »Aber der HERR sprach zu ihm: Nein« – in<br />

die verallgemeinernde und abstrahierende Formel des Rechtsgesetzes umwandelt:<br />

»Du sollst nicht töten« (Ex 20, 5 par). 71 Wenn jedoch der gesamte Aufwand<br />

70<br />

Zum Verhältnis <strong>von</strong> Gottesebenbildlichkeit und Menschenwürde vgl. Barth (2003):<br />

Herkunft und Bedeutung des Menschenwürdekonzepts; Arneth (2005): Die Gottesebenbildlichkeit<br />

des Menschen.<br />

71<br />

Vgl. Crüsemann (2005 3 ): Die Tora; Crüsemann (2008): Struktur und Systematik des<br />

Dekalogs; vgl. zur üblichen Auslegung des Dekalogs: Gertz (2009 3 , Hrsg.): Grundinformation<br />

Altes Testament, 230f. sowie die für ein Ethik-Lehrbuch erstaunlich umfangreiche


1.2 Kultur- und religionstheoretischer Rahmen 61<br />

der Abstraktion vom Fall zur Regel nicht in steriler Monumentalität enden soll,<br />

dann gilt es nach <strong>dem</strong> Aufstieg <strong>von</strong> der mimetischen Inszenierung der Bluttat<br />

über die dramatische Darstellung ihrer Ahndung in Anklage, Urteil und Vollzug<br />

bis zur Generalisierung in einer kodifizierten Satzung, also umfänglich orientiert,<br />

wieder in die soziale Welt konkreter Fälle, Prozessordnungen und Urteilsfindungen<br />

hinabzusteigen. Und dann kann man die Todesstrafe und den <strong>Krieg</strong><br />

auch wieder aus der Reihe der Sanktions<strong>mit</strong>tel ausschließen. Das ist gemeint,<br />

wenn ein Weg gesucht wird, der fatalen Alternative <strong>von</strong> Sieg oder <strong>Nieder</strong>lage,<br />

Überwältigung oder Unterwerfung einer normativen Ordnung durch bzw. unter<br />

eine andere zu entgehen. Es geht beispielsweise nicht um den Wettstreit, welche<br />

Kultur nun <strong>mit</strong> welchen historischen Quellen den Siegeskranz als bedeutendste<br />

Impulsgeberin einer modernen Menschenrechtsethik da<strong>von</strong>trägt. Es geht darum,<br />

überhaupt eine Lösung für das Geltungsproblem anzubieten. Bildet die Genesis<br />

einen Mordfall als Anlass zur Errichtung einer normativen Ordnung ab, so<br />

die Antigone des Sophokles einen Streitfall um eine Bestattungsvorschrift im<br />

Konflikt zwischen zwei normativen Ordnungen:<br />

»Und deine Machtvollkommenheit gilt mir so hoch / Nicht, daß, ein Sterblicher, du<br />

hinweg dich setzen darfst / Über der Götter ungeschriebenes, ewiges Recht.« 72<br />

Für den Zuschauer gerät die Tragödie zur Prüfung, zu wem er halten will, <strong>mit</strong><br />

Sophokles selbst zur Tochter, die sich auf die Gesetze der Götter beruft oder zu<br />

ihrem Vater, gegen dessen Gesetz sie Widerstand leistet. Auch Kain wird vor<br />

der Tat <strong>von</strong> der Stimme Gottes aufgerufen, sich zu prüfen. Wie im vierten Kapitel<br />

noch weiter auszuführen, ist die Prüfung des Protagonisten sogar der Cantus firmus<br />

der biblischen Tradition, der am deutlichsten ihren »ethischen« Gehalt und<br />

ihr »allgemeines Prinzip« oder besser, ihre Primärfunktion zur Sprache bringt:<br />

die Wahrung der Gemeinschaft und des Treuebundes zwischen <strong>dem</strong> Schöpfer<br />

und seinem Geschöpf sowie zwischen den Geschöpfen.<br />

Immer bedarf es also der Dramatisierung dessen, was gelten soll. Wie sonst<br />

sollen Stoffe entstehen, die dann der Prüfung und Probe auf die Allgemeingültigkeit<br />

unterzogen und zur Bewährung aufgegeben werden? 73 Man kann dann<br />

weiter fragen: Was beispielweise tragen die klassisch römische Dignitaskonzeption<br />

und die Dignitasliteratur der Renaissance und im 20. Jh. Mohanda Gandhis<br />

Grundhaltung des Satyagraha in den modernen Begriff der human dignity ein?<br />

Welche Traditionen sollten weltweit ebenfalls gesichtet werden? Als Formel für<br />

die Nutzung ideengeschichtlicher Archive zur Deutung politischer Prozesse soll<br />

gelten: Inszenierungen jeglicher Bedeutung in Architekturen, Literaturen, Reden,<br />

Diskussion in: Korff / Vogt (2016, Hrsg.): Gliederungssysteme angewandter Ethik, 73-<br />

307, die den Aufsatz <strong>von</strong> Crüsemann <strong>von</strong> 2008 aber nicht berücksichtigen.<br />

72<br />

Übersetzung nach Turkheim (1887): Sophokles, Bd. 1., 2. Akt.<br />

73<br />

Man kann die Erforschung solcher Korrespondenzen auch »Diskursanalyse« nennen.<br />

Dazu mehr zu Beginn des fünften Kapitels.


62<br />

1 Einleitung<br />

Zeremonien etc. lassen vor <strong>dem</strong> Hintergrund ihrer Genese, also ihrer Entstehung,<br />

Entdeckung und Dokumentierung in einer Genealogie, ihre Funktion erkennen zur<br />

Herausbildung und Durchsetzung normativer Ordnungen als anerkannter Darstellung,<br />

Verwaltung, Interpretation und Bewältigung <strong>von</strong> Kontingenz. Die Quellen,<br />

ihre Auswahl und ihre Aneignung eröffnen folglich den ausdrucksstarken und<br />

bereits konfigurierten Entdeckungszusammenhang einer normativ belegten<br />

Sinngebung. Zur ethischen Begründung normativer Urteile und Ordnungen sind<br />

sie direkt und allein nicht geeignet. »Aus den Schöpfungsmythen der Genesis<br />

folgt keine ökologische Ethik, aus den Aussagen über die Fremden keine Migrationsethik,<br />

aus der Bergpredigt keine Friedensethik«. 74 Religiöse Dramaturgien<br />

und Inszenierung ver<strong>mit</strong>teln Figuren und Konstellationen, Handlungen, Handlungstypen<br />

und -logiken, sie etablieren, präsentieren, kritisieren und verdrängen<br />

gegenläufige Weltdeutungen, um sie herum sammeln sich Parteien ähnlicher<br />

normativer Orientierung und stiften ihre Institutionen. 75 Die Deutung einer<br />

Quelle liegt einerseits in der Verantwortung des Interpreten, die Quelle selbst<br />

aber muss mindestens Indizien für ihren Geltungsanspruch liefern. Es geht darum,<br />

die Entdeckungszusammenhänge <strong>von</strong> Ordnungsansprüchen und der sie<br />

begründenden Ethiken offenzulegen, die sich nicht nur im säkularen Diskurs<br />

versammeln, sondern ohne welche es diesen gar nicht gäbe. 76 Die Begründung<br />

74<br />

Lesch (2018): Ethische Potentiale der Bibel, 243.<br />

75<br />

Vgl. Lesch (2018): Ethische Potentiale der Bibel, 235.<br />

76<br />

Der Vorgehensweise dieser Studie als einer evangelischen Ethik politischer Gewalt<br />

liegt die wissenschaftstheoretische Unterscheidung <strong>von</strong> Entdeckungs-, Begründungsund<br />

Verwendungszusammenhang zugrunde. Eine Entdeckung beginnt <strong>mit</strong> einem Innehalten:<br />

Was ist das? Was geschieht hier eigentlich? Irgendetwas hat insofern gesteigerte<br />

Aufmerksamkeit geweckt, als ein Wissen entstand über eine Mischung aus Wissen und<br />

Nichtwissen. Dieses »etwas« wird aber erst dadurch zu einem »Problem« und einem Erkenntnis-<br />

und Forschungsgegenstand, dass dafür eine genaue Beschreibung, eine plausible<br />

Erklärung, eine passende Lösung gesucht wird, also ein Wissen über ein Nichtwissen.<br />

Dazu wird der Entdeckungszusammenhang ausgeleuchtet, d.h. die Faktoren, die<br />

jenes anfängliche Innehalten verursachten, werden aufgeklärt. Anders wäre nicht zu<br />

rechtfertigen, dass und warum sich überhaupt eine gesteigerte Aufmerksamkeit lohnte.<br />

Mit <strong>dem</strong> Umbau des Wissens über ein Nichtwissen in ein Wissen über ein Wissen wandelt<br />

sich der Erkenntnisprozess kontinuierlich aus einem Entdeckungs- in ein Begründungsverfahren.<br />

Denn nun kann und muss auch jenes Wissen über das Wissen noch<br />

einmal daraufhin geprüft werden, ob es sich wirklich um ein gesichertes oder ein nur<br />

vermeintliches Wissen oder sogar einen bereits andernorts erwiesenen Irrtum oder eine<br />

Irreführung handelt und wie zu<strong>dem</strong> die Erkenntnis aufgenommen wird, dass jede Reduktion<br />

auf ein Wissen auf ebenbürtige Alternativen dieses Wissens stoßen kann. Einige<br />

Wissenschaftstheorien gehen da<strong>von</strong> aus, nur diese Prüfung der Gründe sei entscheidend<br />

für die Geltung einer Theorie als besser oder schlechter bewiesen, als gerechtfertigt, als<br />

wahr oder falsch. Die Entstehung der Theorie sei irrelevant. Diese Sicht aber ist naiv,<br />

denn ohne Bezug auf Entdeckungen wird niemand eine Begründung nachvollziehen können,<br />

geschweige denn ohne Entdeckerfreude neuen Überprüfungen aussetzen wollen.<br />

Selbst wenn jemand garantieren wollte, dass alle Faktoren, die jenes anfängliche Innehalten<br />

und die ersten Entdeckungen auslösten, ebenfalls durch das Begründungsver-


1.2 Kultur- und religionstheoretischer Rahmen 63<br />

einer Norm und normativen Ordnung – auch das soll im vierten Kapitel am Muster<br />

der kantischen Moral- und Rechtsphilosophie, insbesondere der Kritik der Urteilskraft,<br />

und im fünften Kapitel in der Transformation Ethischer Theologie in theologische<br />

Ethik gezeigt werden – kann nur die Bezeugung, Befolgung und Bewährung<br />

fahren erfasst, überprüft und ausgesiebt wurden, so könnte er diese Garantie bestenfalls<br />

bei einem stark eingegrenzten und deshalb vollständig bekannten ehemals Unbekannten<br />

einlösen. Er kann es aber keinesfalls bei der stark pfadabhängigen Erforschung komplexer<br />

und deshalb nie vollständig bekannter Felder. In ihnen kann nicht nur das bekannte<br />

Unbekannte, sondern auch das unbekannte Unbekannte auftauchen. Das Auftauchen ist<br />

zwar kontingent, seine Wahrnehmung aber nicht beliebig, sondern wird ermöglicht<br />

durch eine Kultur der Erwartung. Da also eine Entdeckung im Kontext alternativer und<br />

paralleler Erkenntnisprozesse nur als sozialer Fall einer Suche nach Sinn angemessen<br />

verstanden werden kann, muss zur Kontrolle ihre gesamte Historie offengelegt werden.<br />

Und das gilt nicht nur retrospektiv, sondern auch für die Verfahren, in denen entschieden<br />

wird, was künftig <strong>mit</strong> den Folgerungen aus wohl begründetem Wissen geschehen<br />

soll, wie und wofür es verwendet werden soll. Die Historie ist umso wichtiger, je komplexer<br />

der Untersuchungsgegenstand ist. Will man wie etwa im Fall dieser Studie moralisches<br />

Alltagswissen in einer bestimmten religiösen Tradition etwa im politischen<br />

Kampf in einem Parlament oder vor Gericht oder in den angewandten Geistes-, Humanund<br />

Sozialwissenschaften zu kulturellen, ökonomischen und politischen Urteilen verdichtet<br />

unter die ethischen Kriterien der »Wahrheit«, »Richtigkeit« und »Geltung« stellen,<br />

so ist die Offenlegung der historischen, genetischen und heuristisch-topischen Verbindungen<br />

<strong>von</strong> Entdeckungs-, Begründungs- und Verwendungszusammenhang im Rahmen<br />

einer Evidenz- oder Korrespondenztheorie notwendig. Letztere bestimmt, soweit möglich<br />

unter Anwendung strenger Kohärenz- und Korrelationstheorien, dann aber einerseits<br />

weit darüber hinaus ausgreifend und andererseits sehr viel bescheidener dasjenige als<br />

»wahr«, »richtig« und »gültig«, was »verständlich« ist, aus einem Gesamteindruck heraus<br />

einleuchtet, in seiner Wesenheit ganzheitlich verstanden wird und ein ganzes Bündel<br />

einzelner Urteile in einer existentiellen Entscheidung oder in einem Gesetzgebungsprozess<br />

sowohl motiviert als auch begründet. Mehr sollte keine Ethik, insbesondere keine<br />

Ethik politischer Gewalt bieten wollen, weniger aber auch nicht. Das konzeptionelle Begriffsfeld<br />

um »Normen«, »Normativität«, »normative Ordnungen« und diese legitimierende<br />

»Rechtfertigungsnarrative« und »Normgeltung« haben Rainer Forst, Klaus Günther,<br />

R. Jay Wallace und Peter Stemer im Programm des Frankfurter Projektes zur<br />

Herausbildung normativer Ordnungen wie folgt erläutert: »»Normen« sind [...] praktische<br />

Gründe für Handlungen, die den Anspruch erheben, verbindlich zu sein, und die ihre<br />

Adressaten entsprechend dazu verpflichten, sich diesen Grund als ein Handlungsmotiv<br />

zu eigen zu machen« [Forst / Günther (2011, Hrsg.): Die Herausbildung normativer Ordnungen,<br />

16]. »Unter »normativer Ordnung« verstehen wir den Komplex <strong>von</strong> Normen und<br />

Werten, <strong>mit</strong> denen die Grundstruktur einer Gesellschaft [...] legitimiert wird, namentlich<br />

die Ausübung politischer Autorität und die Verteilung <strong>von</strong> elementaren Lebens- und<br />

Grundgütern.« [a.a.O., 15; vgl. Einleitung und Kapitel I.] »Von normativer Ordnung sprechen<br />

wir nicht zuletzt deshalb, weil es sich dabei stets um ein Geflecht <strong>von</strong> rechtlichen,<br />

ökonomischen, moralischen, ethischen und pragmatischen, kulturellen, religiösen und<br />

weltdeutungsrelevanten Normen (beziehungsweise Werten) sowie sozialen Konventionen,<br />

ausgehandelten Kompromissen und habitualisierten Lebensformen handelt« [a.a.O.,<br />

20]. Zur hierzu passenden wissenschaftssystematischen Einordnung der normativen Implikationen<br />

des Politischen vgl. Göhler (2007): Theorie als Erfahrung, 93-102.


64<br />

1 Einleitung<br />

ihres Prinzips – in actu – im gelingenden Vollzug des Urteilens in jeder neu zu<br />

bestehenden Gegenwart liefern. Jenes noch genau zu bestimmende Prinzip gilt <strong>dem</strong>nach<br />

denjenigen als Grund, die sich <strong>von</strong> ihm ergreifen und überzeugen lassen, die<br />

sich zu ihm bekennen und danach leben, für andere nicht. Wenn wir als Christen<br />

zustimmen, ihm – die Rede ist <strong>von</strong> der Menschenwürde als Prinzip des Rechts –<br />

das Prädikat »unverletzlich« beizulegen, so nicht, weil wir meinen, »Unverletzlichkeit«<br />

garantieren zu können, sondern weil wir erkannt haben, dass auch wir in<br />

unserer Lebensführung zusammen <strong>mit</strong> allen Menschen an dieses Prinzip gebunden<br />

sind und an Gott als seinen Garanten glauben. Im fünften Kapitel sollen weitere<br />

Texte – in der differenzierten Betrachtung <strong>von</strong> Ausdruck, Darstellung und Bedeutung<br />

– ihr dramaturgisch ergreifendes Potential für die Bildung und Verbreitung<br />

<strong>von</strong> ethischem Orientierungswissen <strong>dem</strong>onstrieren. Auf diese Weise trägt<br />

eine partikulare und kommunitär verankerte Ethische Theologie <strong>mit</strong> der anschließenden<br />

Übersetzung in eine säkularitätsfeste theologische Ethik und diese<br />

dann unter Angabe <strong>von</strong> Gründen bei zum Gespräch über ethische Orientierung<br />

im öffentlichen Raum. Zu Beginn des dritten Kapitels und dann noch einmal im<br />

gesamten ersten Teil des fünften Kapitels wird es darum gehen, was hier sinnvoll<br />

<strong>mit</strong> »Übersetzung« gemeint sein kann.<br />

1.2.2 »Ethik«: die Kunst moralisch und rechtlich zu urteilen<br />

Alle vorpolitischen Normbildungsprozesse fallen nach <strong>dem</strong> bisher Dargelegten<br />

in die Sphäre der Religion, der Kampf um Geltung wird qua Religion ausgetragen.<br />

Es ist Religion, die der Vernunft den Weg bahnt oder verstellt, gerade auch<br />

der politischen Vernunft. Die Vernunft wappnet sich ihrerseits gegen Anmaßungen<br />

der Religion u.a. <strong>mit</strong> den Mitteln der Ethik, die sich der Verwahrlosung und<br />

Perversion <strong>von</strong> Moral, Recht und Politik – und Religion argumentativ widersetzt.<br />

Wie die Ethik dabei verfährt, lässt sich am besten am konkreten Fall zeigen, im<br />

Folgenden an <strong>dem</strong> eines Sprechaktes. 77 Jemand spricht und fällt da<strong>mit</strong> explizit<br />

oder implizit einen Spruch. Er kann falsch oder richtig sprechen, verständlich<br />

oder wirr, falsches oder richtiges sagen, er kann die Wahrheit sagen oder lügen,<br />

da<strong>mit</strong> einige beeindrucken, erfreuen und motivieren, andere kalt lassen, wieder<br />

andere ärgern und einschüchtern. In einem konkreten Fall urteilen wir dann<br />

beispielsweise, es sei richtig, die Wahrheit zu sagen, auch wenn es unbequem<br />

77<br />

So ratsam es ist, sich zu Beginn jeder ethischen Falldiskussion über ihre Voraussetzungen<br />

zu verständigen, so sehr läuft man Gefahr, dann niemals <strong>mit</strong> der anwendungsbezogenen<br />

ethischen Debatte zu beginnen, sondern endlos über metaethische Grundfragen<br />

zu diskutieren. Auch mein Versuch, über »Klassiker« zu einer kompromissfreundlichen<br />

Ausgangslage zu kommen, ist vor diesem Schicksal nicht gefeit. In<strong>dem</strong> ich<br />

aber nicht auf Konsens, sondern »nur« auf Kompromissbereitschaft ziele, hoffe ich, den<br />

Weg gemeinsamen Nachdenkens über Ethik wenigstens so weit verbreitern zu können,<br />

dass Fälle, und das heißt konkrete Menschen <strong>mit</strong> konkreten Sorgen, bessere Chancen haben,<br />

<strong>von</strong> Ethik zu profitieren. Sonst sollte man sich Ethik besser sparen.


1.2 Kultur- und religionstheoretischer Rahmen 65<br />

sein sollte. Am Beispiel des Sprechaktes lässt sich nach <strong>dem</strong> ethischen Aspekt<br />

kommunikativen Handelns fragen. Daran anschließend soll die Diskussion gängiger<br />

Ethiktheorien in die Skizze einer integrativen Ethik münden, die wiederum<br />

Formgesetze für eine Ethische Theologie liefern kann.<br />

1. Normativität im kommunikativen Handeln: Sprechen ist ein biosozialer Fall.<br />

Er setzt biophysische Gegebenheiten voraus, die nicht selbstverständlich sind,<br />

sodann walten soziale Gesetze, beispielsweise Rangordnungen. Der Status eines<br />

Sprechers kann den Gehalt des <strong>von</strong> ihm Gesagten erheblich dominieren. Wer<br />

meint, um Sympathie werben zu müssen, macht sich selbst klein und den anderen<br />

groß. Wer glaubt, recht zu haben, macht sich selbst groß und den anderen<br />

klein. Wer meint, im Kampf um die Rang- und Herrschaftsordnung auf Sanktionen<br />

verzichten zu können, wird vermutlich scheitern. Wer nur <strong>mit</strong> Sanktionen<br />

operiert, wird mehr und anderes als Herrschaft kaum beeinflussen. 78<br />

Nehmen wir als Standardfall die eidliche Bezeugung als einen Fall darstellenden<br />

Geltungsanspruchs zur Sicherung der Verlässlichkeit einer Aussage und<br />

ihrer Bedeutung. In vielen Kulturen ist es üblich, eine Aussage in ihrem Wahrheitsgehalt<br />

<strong>mit</strong> einem Eid, einer bedingten Selbstverfluchung also, zu bekräftigen.<br />

In Deutschland beispielsweise besagt § 64 StPO:<br />

»1) Der Eid <strong>mit</strong> religiöser Beteuerung wird in der Weise geleistet, dass der Richter<br />

an den Zeugen die Worte richtet: ›Sie schwören bei Gott <strong>dem</strong> Allmächtigen und Allwissenden,<br />

dass Sie nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen<br />

haben‹ und der Zeuge hierauf die Worte spricht: ›Ich schwöre es, so wahr<br />

mir Gott helfe‹. (2) Der Eid ohne religiöse Beteuerung wird in der Weise geleistet,<br />

dass der Richter an den Zeugen die Worte richtet: ›Sie schwören, dass Sie nach bestem<br />

Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen haben‹ und der<br />

Zeuge hierauf die Worte spricht: ›Ich schwöre es‹. (3) Gibt ein Zeuge an, dass er als<br />

Mitglied einer Religions- oder Bekenntnisgemeinschaft eine Beteuerungsformel dieser<br />

Gemeinschaft verwenden wolle, so kann er diese <strong>dem</strong> Eid anfügen. (4) Der<br />

Schwörende soll bei der Eidesleistung die rechte Hand erheben.«<br />

Und § 154 StGB setzt ein höheres Strafmaß fest und besagt:<br />

»(1) Wer vor Gericht oder vor einer anderen zur Abnahme <strong>von</strong> Eiden zuständigen<br />

Stelle falsch schwört, wird <strong>mit</strong> Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft. (2) In<br />

minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe <strong>von</strong> sechs Monaten bis zu fünf<br />

Jahren.«<br />

78<br />

Zur Komplexität sozialer Kompetenz vgl. Asendorpf / Neyer (2018 6 ): Psychologie der<br />

Persönlichkeit.


<strong>Hartwig</strong> <strong>von</strong> <strong>Schubert</strong>, Dr. theol., Jahrgang 1954, studierte Evangelische<br />

Theologie in Göttingen, Tübingen, Heidelberg und Kiel. Er war <strong>von</strong> 1982<br />

bis 1987 Pastor im Hamburger Bahnhofsviertel St. Georg und arbeitete<br />

anschließend weitere fünf Jahre an der Forschungsstelle der Evangelischen<br />

Studiengemeinschaft in Heidelberg zu Fragen der Bioethik. Von<br />

1992 bis 2002 leitete <strong>von</strong> <strong>Schubert</strong> gesamtstädtische Dienste im Diakonischen<br />

Werk Hamburg, <strong>dem</strong> folgte die Tätigkeit als Studienleiter an<br />

der Evangelischen Aka<strong>dem</strong>ie Nordelbien in Hamburg und Bad Segeberg.<br />

Von 2004 bis 2019 war er bis zu seinem Ruhestand evangelischer Militärdekan<br />

an der Führungsaka<strong>dem</strong>ie der Bundeswehr in Hamburg. In<br />

dieser Funktion begleitete er das 21. Kontingent ISAF in 2009/2010 in<br />

den Norden Afghanistans.<br />

Die Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Hamburg hat die vorliegende Studie<br />

am 19. Mai 2021 als Habilitationsleistung gemäß § 11 Abs. 1 HabilO GW anerkannt.<br />

Ein Dank für großzügige Druckkostenzuschüsse gilt:<br />

der Evangelischen Kirche in Norddeutschland,<br />

der Evangelischen Seelsorge in der Bundeswehr,<br />

der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands.<br />

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in<br />

der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische<br />

Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.<br />

© 2021 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig<br />

Printed in Germany<br />

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.<br />

Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne<br />

Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für<br />

Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung<br />

und Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />

Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />

Cover: Zacharias Bähring, Leipzig<br />

Satz: <strong>Hartwig</strong> <strong>von</strong> <strong>Schubert</strong>, Hamburg<br />

Druck und Binden: Hubert & Co., Göttingen<br />

ISBN Print 978-3-374-07045-9 // eISBN (PDF) 978-3-374-07046-6<br />

www.eva-leipzig.de

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