MEDIAkompakt Ausgabe 32

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16 NOT AFRAID mediakompakt Stuttgart calls back „Hey Süße!“, „Geiler Arsch.“ oder „Tolle Figur haste, Kleine!“. Fast Jede und Jeder durfte sich schon einmal unangenehme Sprüche im Alltag anhören und ist damit Opfer vom sogenannten „Catcalling“ geworden. VON LINDA STEFFEN Bild: @catcallsofstg Laura kramt die Kreide, ihr Handy und Handschuhe aus ihrer Tasche. Ein paar Meter weiter beginnt Caro das Wort „Triggerwarnung“ auf den Boden zu schreiben. Doch wieso die Triggerwarnung? Catcalling: Was im ersten Augenblick harmlos oder sogar niedlich klingt, beschreibt das Hinterherrufen oder -pfeifen im öffentlichen Raum. Es geht um verbale sexuelle Belästigung, die in vielen Fällen auch mit körperlichen Übergriffen einhergeht. In anderen europäischen Ländern wie zum Beispiel Frankreich, Belgien und Portugal gilt diese Art von verbaler Belästigung bereits als Straftat und wird mit Geldstrafen geahndet. In Deutschland ist Cat calling allerdings nicht strafbar. Es wird als Kompliment gewertet. Wie also setzt man sich zu Wehr gegen verbale Übergriffe, bei denen sich Betroffene oft hilflos fühlen? Die Aktivist:innen von Catcallsofstuttgart geben ihnen eine Stimme. Sie machen Geschichten sichtbar und sprechen offen über Themen, die oft zu wenig Aufmerksamkeit bekommen. Die #ChalkBack Bewegung stammt ursprünglich aus New York, ist aber seit Jahren auch in Deutschland und vielen weiteren Ländern angekommen. Über Instagram haben Betroffene die Möglichkeit ihre Erlebnisse per Direct Message zu teilen. Die eingesendeten Geschichten nehmen die Aktivist:innen mit auf die Straße. Mit Kreide schreiben sie diese anonym, möglichst am Ort des Geschehens, auf den Boden. Später werden die Einsendungen dann auch ungekürzt auf Instagram veröffentlicht. „Wir kreiden alle Geschichten an, da wir uns nicht in der Position sehen zu entscheiden, welche Geschichte schlimmer oder wichtiger ist“, erzählt Laura, die mich dazu eingeladen hat die Gruppe an diesem Tag zu begleiten. Mit dabei sind außerdem Caro, die ebenfalls das erste Mal beim #ankreiden dabei ist, und Ferhat. Laura ist eine von drei „Oberkatzen“, die den Vorstand der Initiative bilden. An dem Treffpunkt nahe der Königsstraße erzählt sie über sich und die Bewegung. Lebhaft berichtet sie über vergangene Aktionen, wie zum Beispiel am 8. März: Mit anderen aus der Gruppe hat sie am feministischen Kampftag eine Rede vor dem Rathaus gehalten. Es ist zu spüren, wie sie und ihre Mitstreiter:innen für die Sache brennen und wie viel positive Energie es ihnen gibt, Menschen eine Stimme zu geben, die sonst von vielen nicht gehört werden. „Allerdings ist es auch oft genug für einen selbst sehr belastend“, gibt Laura zu. „Manchmal werden wir gecatcalled oder belästigt während unserer Aktionen oder Menschen kommen auf offener Straße auf uns zu und erzählen von ihren negativen Erfahrungen, nachdem sie die Geschichte auf der Straße gelesen haben“. Während sie erzählt, kramt sie aus ihrem großen Jutebeutel, auf dem das Katzenlogo der Instagramseite gedruckt ist, ein paar Flyer hervor. Neben Karten, die über Catcalling und die #Chalkback Bewegung aufklären, sind auch Informationen von verschiedenen Organisationen, wie zum Beispiel dem weißen Ring, dabei. „Manche Betroffene trauen sich bei uns das erste Mal über ihre Erlebnisse zu sprechen. Vielleicht auch weil sie dann erst begreifen, dass auch sie Betroffene sind. Da ist es wichtig entsprechendes Material dabei zu haben und sie so an Expert:innen weiterzuleiten“, erklärt Laura. Wenig später gibt sie den Startschuss für die Gruppe Richtung Königsstraße zu ziehen. Das #ankreiden beginnt. Da heute alle Geschichten ohne Ortsangabe eingesendet wurden, werden sie an möglichst zentralen Orten in der Innenstadt angekreidet. Die Freude ist groß, weil an diesem regnerisch angesagten Montagnachmittag doch die Sonne scheint. Je näher die Königsstraße mit all ihren Geschäften naht, desto belebter wird es. Auf dem Weg erzählt Ferhat wie er aus der Türkei geflüchtet ist. In Deutschland hat er begonnen sich immer mehr mit sozialen Themen auseinanderzusetzen und engagiert sich nun vermehrt in vielen verschiedenen Bereichen, die ihm wichtig geworden sind. Auch ihm merkt man sofort die Begeisterung für das, was sie hier gemeinsam tun, an. Mitten im Gespräch erreicht die Gruppe den ersten Spot. Laura und Ferhat kreiden den Instagram-Tag, ein prägnantes Zitat aus der Geschichte und Hashtags wie #stopptsexuellebelästigung auf den Boden. Caros „Triggerwarnung“ blitzt vom grauen Asphalt auf. Die Aktion mitten in der Menschenmenge zieht von Anfang an neugierige Blicke auf sich. Passant:innen werfen im Vorbeigehen einen kurzen Blick auf den bunten Gehweg, oder bleiben sogar stehen. Die meisten achten darauf nicht auf die frischen Kreidelinien zu treten. Viele unterhalten sich über das, was vor ihnen passiert oder sind neugierig genug, um mit der Gruppe ins Gespräch zu kommen. An einem weiteren Spot vor dem LKA Stuttgart soll als nächstes eine Geschichte über verbale Belästigung im Job angekreidet werden. Ein interessierter Mann fragt plötzlich, ob die Story etwas mit den Vorwürfen von sexueller Belästigung innerhalb der Landespolizei zu tun habe. Sehr verwirrt verneint Laura seine Frage. #STOPPTSEXUELLEBELÄSTIGUNG Bild: Linda Steffen
02/ 2022 NOT AFRAID 17 Bild: Linda Steffen Diese Nachricht ist wohl an allen bislang vorbei gegangen. Die angekreidete Story stand damit nicht im Zusammenhang. Nach kurzer Recherche erschien der vorher eher zufällig ausgewählte Platz nun aber umso passender. Die Rhein-Neckar Zeitung beispielsweise berichtete zu dem Fall im Januar 2022. Es handelt sich bei den Erzählungen des Mannes um einen hochrangigen Beamten der Landespolizei, der „seine Machtstellung unter Inaussichtstellung von Beförderung und Besetzung ausgenutzt habe“. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart ermittelt zurzeit noch. In bunten Farben leuchte es nun fast wie ein Mahnmal von dem Gehweg auf: Mein Chef rief mir hinterher „Hey, wenn ich dich so sehe, komm doch zurück, du könntest gut bezahlte Überstunden machen!“ Motiviert durch das schöne Wetter und die doch vielen interessierten Menschen, die heute überwiegend begeistert von der Arbeit zu sein schienen, wurden auch die letzten Storys angekreidet ehe sich die Gruppe am Schlossplatz glücklich und verschwitzt voneinander verabschiedet. INFO Als Frau wurden bereits...: • 90%: Aufgrund ihres Aussehens bewertet • Über 50%: Wegen ihres Geschlechtes beleidigt oder erfuhren unerwünschte Annäherungsversuche • 40%: Gecatcalled und haben daraufhin bestimmte Orte gemieden Instagram: @catcallsofstg
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