Gesundsitzen Ausgabe 2010/2011
Das Schweizer Magazin für Ergonomie, Gesundheit und Wohlbefinden. Ausgabe 2010/2011
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07/<strong>2010</strong>/<strong>2011</strong> · gesundsitzen<br />
Der 95.-Perzentil-Mensch als Vorlage<br />
Beim Typus Flugpassagier ist die Bandbreite an Eigenschaften,<br />
Bedürfnissen und Beanspruchung<br />
riesig – beide Geschlechter, alle Bevölkerungsgruppen,<br />
Nationalitäten, Kulturen, Altersstufen müssen<br />
berücksichtigt werden. Daneben befasst sich die<br />
Anthropometrie, also die Körpermesskunde, mit<br />
der Erfassung, Anwendung und Auswertung der<br />
Körpermasse, der biomechanischen Daten und<br />
sämtlicher physiologischen Eigenschaften des<br />
Menschen. Den Körpermassen ordnet sie Perzentile<br />
zu. Ein Perzentil gibt also an, wie viel Prozent einer<br />
Messreihe ein Körpermass unterschritten hat.<br />
Für die Konstruktionsarbeit wichtig ist unter anderem<br />
das 95. Perzentil Mann, das heisst, bei 95% der<br />
vermessenen Männer ist das Körpermass kleiner<br />
als das Angegebene.<br />
Schweizer Textilhersteller und Luftfahrtzulieferer<br />
Lantal Textiles, der mit der Entwicklung<br />
eines pneumatischen Kissenkonzepts<br />
einen grossen Schritt in Richtung<br />
ergonomisches Sitzen im Flugzeug<br />
gemacht hatte. 2004 stellte Lantal Textiles<br />
zusammen mit dem deutschen Flugzeugsitzhersteller<br />
Recaro einen voll<br />
funktionierenden Prototyp vor, der für<br />
grosses Aufsehen sorgte. Der entscheidende<br />
Vorteil im Vergleich zu den herkömmlichen<br />
Schaumstoff-Polsterungen<br />
lag darin, dass die Sitzfüllung durch Variation<br />
des Luftdruckes angepasst werden<br />
kann. Damit wird eine gute Stützung<br />
beim aufrecht Sitzen erreicht, ein entspannendes<br />
Sitzen beim Relaxen oder<br />
Lesen und ein komfortables, weicheres<br />
Bett beim Liegen. Eine spezielle, individuell<br />
einstellbare Kreuzstütze bietet zusätzlichen<br />
Komfort und ermöglicht so<br />
eine ergonomisch optimale Sitzhaltung<br />
sowie eine zusätzliche Massagefunktion.<br />
Die Frage, ob die Luftkissen von Lantal<br />
Textiles sich seit damals bewährt haben,<br />
bestätigen die Einrichter von SWISS: Als<br />
erste Fluglinie liess SWISS 2009 ihre neuen<br />
Langstreckenjets vom Typ Airbus<br />
A330-300 mit den Luftpolstersitzen in<br />
der First und der Business Class ausstatten<br />
und sparte dadurch bei einem Langstreckenflieger<br />
bis zu 200 Kilogramm<br />
Gewicht ein. Die Entwicklungs-Zusammenarbeit<br />
mit Lantal Textiles und ausgewählten<br />
Sitzherstellern ist über die Jahre<br />
immer enger geworden, und dadurch<br />
kann SWISS auch dafür bürgen, dass sie<br />
ihre Passagiere stets auf dem neusten<br />
Stand in Sachen ergonomische Flugzeugsitze<br />
bedient.<br />
Die Interviewpartner von SWISS: Paul Estoppey,<br />
Head of Cabin Interior Development & Infotainment,<br />
und Alexa Luppi, Manager Cabin Interior Development.<br />
Testsitzen-Happenings<br />
mit Vielfliegern<br />
Nebst dem hohen ergonomischen Niveau,<br />
für das die Spezialisten sorgen, holt sich<br />
SWISS aber noch von anderer Seite regelmässig<br />
Informationen, ob sie mit ihren<br />
Sitzkonzepten auf dem richtigen Weg ist:<br />
von den Vielfliegern. Aus ihren Kundendatenbanken<br />
ermitteln sie jene, die mindestens<br />
zehn Langstreckenflüge pro<br />
Jahr in der Business oder First Class machen.<br />
So wurden bei der Entwicklung eines<br />
neuen Sitz-Protoyps schon bis zu<br />
400 solcher Vielflieger zu einem Test-Sitzen<br />
eingeladen. Für die Befragungen werden<br />
die Gäste auf den Flughafen bestellt,<br />
wo sie in entspannter Atmosphäre über<br />
ihre Erfahrungen berichten und – weil sie<br />
es sehr schätzen, so involviert zu werden<br />
– viel preisgeben, das weit über die Fragen<br />
zum Flugzeugsitz hinausgeht. Die<br />
Befragung dreht sich um alles, was das<br />
Sitzen im Flugzeug betrifft: Wie bequem<br />
ist der Flugzeugsitz – in der Start-, der<br />
Lande-, Lounge- und Liegeposition? Beim<br />
Sitzkomfort werden Details wie Form,<br />
Härte, Sitzstrukturen und Luftkissenfunktion<br />
angesprochen. Dabei werden<br />
Rücken- und Armlehne, Fussstütze, Esstisch<br />
unter die Lupe genommen: sind sie<br />
gut verstellbar, einfach zu bedienen?<br />
Aber auch: wie gefallen das Design und<br />
die Farbgebung des Sitzes? Auch der<br />
Kopf- oder Ellenbogenfreiraum ist ein<br />
Thema. Und schliesslich geht es auch um<br />
die Sicht und die Bedienung des In-Flight-<br />
Entertainments: Ausführung, Erreichbarkeit<br />
und die Frage, wie einfach die Handhabung<br />
ist.<br />
Die beiden SWISS-Mitarbeiter von «Cabin<br />
Interior Development & Infotainment»<br />
scheinen die vielen Auflagen oder Einschränkungen<br />
vor allem anzuspornen.<br />
Von Entmutigung oder Frustration ist hier<br />
nichts zu spüren: «Wir betrachten die<br />
vielen Auflagen und Grenzen nur als<br />
scheinbar unüberwindlich und konzentrieren<br />
uns viel mehr auf die Frage ‹Könnte<br />
man einen Flugzeugsitz nicht ganz<br />
anders designen?›, ‹Gibt es etwas, das<br />
wir bis jetzt übersehen haben und das<br />
nur scheinbar zwingend ist?›», erklärt<br />
Paul Estoppey. Diese Denk- und Arbeitsweise<br />
macht ihnen sichtlich Spass. Genauso<br />
wie der Austausch mit anderen<br />
Entwicklern, sei es auf der Hersteller-<br />
Seite, sei es auf Seite der «Konkurrenz»:<br />
So zum Beispiel an der jährlich stattfindenden<br />
Aircraft Interiors Expo in Hamburg.<br />
Lifestyle<br />
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Ergonnomie pur: Die aktuellsten Sitze der SWISS.