277.TIROL - November 2022
277.TIROL, Ausgabe 8, November 2022
277.TIROL, Ausgabe 8, November 2022
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„<br />
„Wenn du die Namen der Dinge vergisst, dann<br />
geht das Wesen dieser Dinge verloren.<br />
Die Sprache ist ein Schatz. Wir sprechen, also<br />
sind wir.“<br />
60 tirol.kulturell<br />
tirol.kulturell<br />
Annäherung an<br />
Ezra Pound<br />
VON REINHOLD OBLAK<br />
Wer den lästigen touristischen Trubel in Dorf Tirol bei Meran hinter sich lässt,<br />
nicht zum viel besuchten und noch öfter fotografierten Schloss Tirol hinüber,<br />
sondern zur deutlich ruhigeren Brunnenburg hinuntersteigt, findet sich in einer<br />
völlig anderen Welt. Hier leben Mary und Siegfried de Rachewiltz, die 97-<br />
jährige Tochter und der 75-jährige Enkel des amerikanischen Dichters Ezra<br />
Pound (1885-1972).<br />
Siegfried de Rachewiltz, der Enkel Ezra Pounds,<br />
auf Schloss Tirol. Die Brunnenburg ist nur ein<br />
paar Steinwürfe entfernt. Pound hatte in Südtirol<br />
mit schweren Depressionen zu kämpfen.<br />
(© Frank Wing)<br />
Siegfried de Rachewiltz,<br />
Enkel des amerikanischen Dichters Ezra Pound<br />
61<br />
„Magst ein Glas Wein, einen Vernatsch,<br />
aus eigener Produktion. Ja, es ist ziemlich<br />
dunkel hier, ich mach gleich die Vorhänge<br />
etwas auf, aber ich hab Probleme<br />
mit meinen Augen.“ Wir sitzen im zweiten<br />
Stock der Brunnenburg, den beeindruckenden<br />
privaten Räumlichkeiten, umgeben<br />
von hunderten Büchern, Dokumenten,<br />
Schriftstücken. Ein völlig überladener<br />
Raum mit einer ganz besonderen Atmosphäre,<br />
ganz still, ruhig, als würde die Zeit<br />
stillstehen. Siegfried de Rachewiltz ist hier<br />
zu Hause, seine Eltern sind vor 75 Jahren<br />
auf die damalige Ruine gestoßen, haben<br />
sie erworben, über viele Jahre hinw eg<br />
bewohnbar gemacht. „Zuerst waren wir in<br />
einem Gasthof gleich in der Nähe untergebracht,<br />
eingezogen sind wir dann 1950,<br />
in ein einziges Zimmer. Sehr spartanisch,<br />
heute eigentlich nicht mehr vorstellbar. In<br />
meiner Kindheit hab ich hier mehr Tiere<br />
als Menschen getroffen.“<br />
Mittlerweile ist die Brunnenburg ein<br />
Ort der Begegnung, Konzerte und<br />
Le sun gen finden hier statt. Im unteren<br />
Teil, besonders in den Kellergewölben,<br />
ist ein beeindruckendes landwirtschaftliches<br />
Museum untergebracht, zwei<br />
Räume im Erdgeschoß sind dem Andenken<br />
an Ezra Pound gewidmet, auch<br />
öffentlich zugänglich. „Schau, ich möchte<br />
dir etwas zeigen“, sagt Siegfried plötzlich.<br />
Er steht auf, geht zu einer Vitrine, greift<br />
hinein, legt mir etwas Kleines, Schweres<br />
auf den Tisch. „Als Pound schon hier auf<br />
der Brunnenburg lebte, kam ein Brief von<br />
Hemingway, dem ein Scheck beigelegt<br />
war. Hemingway wollte seinen Freund<br />
finanziell unterstützen. Pound hat damals<br />
gesagt, dieser Scheck darf nur im Paradies<br />
eingelöst werden, er hat ihn dann<br />
zwischen zwei Glasplatten gepresst und<br />
als Briefbeschwerer verwendet.“<br />
Pound und Hemingway<br />
Wenn Siegfried de Rachewiltz über seinen<br />
Großvater spricht, nennt er ihn ausschließlich<br />
Pound. „Als Kind kannte ich Pound<br />
nicht persönlich, nur von Briefen. Als er<br />
dann im Juli 1958 auf die Brunnenburg<br />
kam, davor war er zwölf Jahre im Irrenhaus<br />
in Amerika interniert, hat er unseren<br />
ganzen Rhythmus über den Haufen<br />
geworfen, alles revolutioniert. Am Anfang<br />
war er ein Wirbelwind, gleichzeitig hat er<br />
immer darauf gewartet, dass uns Hemingway<br />
besuchen kommt. Doch dann ist ihm<br />
die Welt auf den Kopf gefallen, er hat aufgehört<br />
zu reden, nur mehr geschwiegen.<br />
Sein Freund Eliot war ja schon lange tot,<br />
dann hat sich 1961 auch noch Hemingway<br />
das Leben genommen.“<br />
Hemingway, der Literaturnobelpreisträger,<br />
und Pound, zehnmal für den Literaturnobelpreis<br />
nominiert, verband trotz ihrer<br />
ziemlich konträren Lebensentwürfe eine<br />
fürwahr interessante<br />
Freundschaft.<br />
Pound, der<br />
vor und während des<br />
Zweiten Weltkrieges unter<br />
anderem in London, Paris, Venedig<br />
oder in Rapollo, südöstlich von Genua,<br />
lebte, sympathisierte von Anfang an mit<br />
Mussolini. So stellte er sich im faschistischen<br />
Italien auch ganz bewusst in den<br />
Dienst anti-amerikanischer und antisemitischer<br />
Propaganda. 1945 von den<br />
Amerikanern in Italien festgenommen,<br />
wurde er – um wegen Landesverrats der<br />
Todesstrafe zu entgehen – für geisteskrank<br />
erklärt und in Washington in eine<br />
entsprechende Heilanstalt eingesperrt.<br />
Insbesondere Hemingway verdankte es<br />
Pound schließlich, dass er 1958 freigelassen<br />
und zu seiner Tochter Mary und<br />
seinem Enkel Siegfried nach Südtirol, in<br />
die Brunnenburg, übersiedeln durfte.<br />
Hier auf der Brunnenburg erkrankt Ezra<br />
Pound dann Anfang der sechziger Jahre<br />
schwer, verliert jeden Lebenswillen, wird<br />
über Monate in der Privatklinik Martinsbrunn<br />
bei Meran behandelt. Vier Jahre<br />
bleibt er insgesamt auf der Brunnenburg.<br />
Dann, im Herbst 1962, zieht er weiter, gegen<br />
Süden, abermals nach Venedig, nach Rapollo.<br />
„Pound hatte tiefe Depressionen, seine<br />
Schaffensader war erloschen. Er hat<br />
sein Leben als gescheitert angesehen, war<br />
der schärfste<br />
Richter gegen<br />
sich selbst, hat sich<br />
sprichwörtlich ins eigene<br />
Inferno begeben. Er wollte<br />
keine Nahrung mehr zu sich nehmen,<br />
wollte sterben. Letztendlich war es meine<br />
Großmutter Olga, die ihn gezwungen<br />
hat, noch zehn Jahre weiterzuleben. Als<br />
lebendes, als personifiziertes Artefakt,<br />
sozusagen.“<br />
Dreiecksbeziehung<br />
Neben der Literatur waren es vor allem<br />
Frauen, die Pounds Leben bestimmten.<br />
So war er seit 1914 offiziell mit<br />
Dorothy Shakespear verheiratet, gleichzeitig<br />
pflegte er seit Anfang der 20er-<br />
Jahre eine intensive, eine lebenslange,<br />
eine immer wichtiger werdende Beziehung<br />
zur Konzertgeigerin Olga Rudge.<br />
Mit ihr hatte er die gemeinsame Tochter<br />
Mary. Rudge war es auch, die Pound<br />
letztendlich zum Weiterleben trieb. Über<br />
Jahre hinweg lebten Pound, Shakespear<br />
und Rudge immer wieder ganz offiziell<br />
unter einem gemeinsamen Dach. Tochter<br />
Mary, geboren im Sommer 1925, wurde<br />
zu einer Pflegefamilie ins Tauferer<br />
Ahrntal gegeben, wuchs dort an einem<br />
Bauernhof auf. Die heute 97-jährige Mary<br />
de Rachewiltz war es auch, die Pounds<br />
berühmtestes Werk, die Cantos, ins Italienische<br />
übersetzte.<br />
„Meine Mutter ist nach wie vor sehr fit,<br />
auch geistig. Sie ist noch immer gut vernetzt,<br />
unterhält viele Freundschaften,<br />
vor allem über das Internet. Sie ist zwar<br />
schwerhörig, liest aber noch immer sehr<br />
viel. Dabei entdeckt sie Texte neu, die sie<br />
seinerzeit selbst geschrieben hat“, erklärt<br />
Siegfried de Rachewiltz. Um in den zweiten<br />
Stock der Brunnenburg zu gelangen,<br />
muss man über eine steile Wendeltreppe<br />
hinaufsteigen. Da kommen schon einige<br />
Stufen zusammen. Mary, Pounds Tochter,<br />
schafft auch das noch.<br />
Mary sitzt am Balkon, ein Zimmer von<br />
uns entfernt. Sie genießt die warme Sonne,<br />
die Aussicht runter nach Meran, ins<br />
Burggrafenamt. Natürlich schreibt sie mir<br />
auch ein paar Worte in ihr Buch, die Diskretionen,<br />
mit roter Tinte. „Rot war die<br />
Lieblingsfarbe Pounds, er hat immer mit<br />
Rot geschrieben.“<br />
Die Sprache ist ein Schatz<br />
„Wenn du die Namen der Dinge vergisst,<br />
dann geht das Wesen dieser Dinge verloren.<br />
Die Sprache ist ein Schatz. Wir sprechen,<br />
also sind wir.“ Siegfried de Rachewiltz<br />
erinnert sich nicht nur an Pound, der<br />
Ethnologe und Kulturhistoriker hat auf der<br />
Brunnenburg auch ein beeindruckendes<br />
Museum aufgebaut. Unzählige alte landwirtschaftliche<br />
Geräte sind hier ausgestellt,<br />
aus den unterschiedlichsten Talschaften<br />
Südtirols. Eine Art Arche Noah<br />
für all diese alten, nicht mehr gebrauchten<br />
Arbeitsgeräte. „Die alten Stadel wurden<br />
abgerissen, dafür entstanden Pensionen,<br />
Hotels. Der Tourismus brachte viele Menschen<br />
in die Gegend, dafür wurden Betten<br />
gebraucht. All die alten Häuser meiner<br />
Kindheit gibt es schon lange nicht mehr,<br />
hier im Dorf Tirol.“<br />
Doch nochmals zurück zu Ezra Pound. Seit<br />
einiger Zeit schon bearbeitet Siegfried<br />
die Korrespondenz von Pound mit seiner<br />
Tochter Mary. Ein mühsames, gleichsam<br />
spannendes, interessantes Unterfangen.<br />
Eine Familiengeschichte der ganz besonderen<br />
Art. Vier Generationen der Rachewiltz<br />
leben mittlerweile auf der Brunnenburg:<br />
Mary, Siegfried, seine beiden Söhne,<br />
deren Kinder. Pound ist natürlich ebenfalls<br />
anwesend – in Form seiner Bücher, seiner<br />
Briefwechsel, der bemerkenswerten<br />
Skulptur im Eingangsbereich, der beiden<br />
Pound-Räume mit vielen persönlichen<br />
Gegenständen. Außerdem befindet sich<br />
hier das „Ezra Pound Literaturzentrum“,<br />
immer wieder von Menschen aus der ganzen<br />
Welt besucht. Sollten auch Sie mal auf<br />
der Brunnenburg vorbeischauen wollen,<br />
vorab die Adresse: Dorf Tirol, Ezra-Pound-<br />
Straße 3.