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277.TIROL - November 2022

277.TIROL, Ausgabe 8, November 2022

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tirol.bunt und vielfältig<br />

tirol.bunt und vielfältig<br />

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„Müssen wir wirklich so<br />

viel über mich reden?<br />

Ein Interview mit Esther Fritsch ist nicht ganz einfach. Sie überlebte als Jüdin den Holocaust<br />

in Polen, ist damit wichtige Zeitzeugin. Knapp 30 Jahre war sie Präsidentin der Israelitischen<br />

Kultusgemeinde für Tirol und Vorarlberg, gab der kleinen jüdischen Gemeinde ihr Selbstbewusstsein<br />

zurück. Sie war leidenschaftliche Ärztin, möchte gleichzeitig nicht so viel über sich<br />

reden. Ein offenes Gespräch, das in zwei Tagen geführt wurde.<br />

VON REINHOLD OBLAK<br />

Sie sind 1938 geboren, haben den Holocaust<br />

in Polen überlebt.<br />

Meine Mutter, eine unglaublich mutige<br />

Frau, hat mich gerettet. Ihr Vater war<br />

Rabbiner, sie selbst hat aber ausgezeichnet<br />

Polnisch gesprochen, ohne jüdischen<br />

Akzent. Außerdem hat sie nicht jüdisch<br />

ausgesehen. Auch ich war blond, hatte<br />

blaue Augen. Vom Äußeren waren wir also<br />

auf der „arischen Seite“. Aber natürlich<br />

waren wir immer auf der Flucht, wurden<br />

ins Ghetto Radom gesteckt, rund 100 Kilometer<br />

südlich von Warschau. Wir standen<br />

dort schon auf der Deportationsliste, wurden<br />

mit viel Glück gerettet. Dann wieder<br />

Flucht, die vielen Verstecke, Verstecke,<br />

Verstecke.<br />

Sie als kleines Kind im Alter von vier,<br />

fünf, sechs Jahren.<br />

Eine Zeit lang hat uns eine arische polnische<br />

Baronin bei sich zu Hause versteckt.<br />

Ihre Schwiegertochter hatte einen<br />

Gestapo-Liebhaber, die hat uns dann verraten.<br />

Man wollte uns sofort erschießen<br />

– mit Bestechung haben meine Mutter<br />

und ich überlebt. Ich war unter dem Bett<br />

versteckt. Diesen Gestapo-Mann, seinen<br />

Ledermantel, seine Lederstiefel vergesse<br />

ich niemals. An so etwas erinnert sich<br />

wohl jede jüdische Überlebende.<br />

Ihr Vater ...<br />

... und seine gesamte Familie waren zu dieser<br />

Zeit schon tot. Sie wurden in Warschau<br />

entdeckt, deportiert, ermordet. Details weiß<br />

ich keine. Auch die Eltern meiner Mutter und<br />

drei ihrer Geschwister wurden ermordet.<br />

Dass ich überlebt habe, verdanke ich meiner<br />

Mutter. Gegen Ende des Krieges waren<br />

wir in Warschau, die Stadt wurde von den<br />

Deutschen bombardiert. Gemeinsam mit<br />

zwei anderen Jüdinnen wurden wir abermals<br />

von einer Polin versteckt. So haben<br />

wir auch die letzten Tage des Krieges, des<br />

Holocaust überlebt.<br />

Nach Kriegsende gingen Sie nach<br />

Deutschland.<br />

Meine Mutter war von Anfang an Zionistin,<br />

sie wollte immer im heutigen Israel leben.<br />

Mein Stiefvater hatte ein Affidavit für Amerika,<br />

wir hätten also dorthin auswandern<br />

können, aber für meine Mutter war das kein<br />

Thema. Sie wollte nur nach Israel. In Polen<br />

wollten wir nicht bleiben, weil die Kommunisten<br />

kamen. Also gingen wir für zwei Jahre<br />

nach Augsburg. Fremdsprachen lernte ich<br />

sehr schnell. In Augsburg hatte ich einen<br />

Privatlehrer für Hebräisch. Ich sprach schwäbischen<br />

Dialekt. Meine Mutter ermahnte<br />

mich mehrmals Deutsch zu sprechen, weil<br />

sie mein Schwäbisch nicht verstand.<br />

‚‚<br />

„Ich habe Esther Fritsch als<br />

eine liebenswürdige, geistvoll<br />

kämpfende Frau erlebt. Es<br />

war nicht zuletzt ihre Vision,<br />

die jüdische Gemeinde in<br />

Innsbruck wieder aufzubauen.<br />

Die Leidenschaft, mit der sie<br />

dieses Ziel verfolgte, erinnert<br />

mich dankbar an einige biblische<br />

Frauenfiguren.“<br />

- Bischof Hermann Glettler<br />

‚‚© Ingrid<br />

Kollmer<br />

„Frau Dr. Esther Frisch war eine<br />

beliebte und hochgeschätzte<br />

Präsidentin der Israelitischen<br />

Kultusgemeinde. Ich erinnere<br />

mich mit Freude an eine Veranstaltung<br />

in Innsbruck, wo es<br />

ihr gelang, kirchliche, jüdische<br />

und politische Kapazitäten in<br />

einer Vorstellung mit jüdischem<br />

Thema zusammenzubringen.<br />

Nonnen, Priester, Rabbiner<br />

und ‚normales‘ Theaterpublikum<br />

freuten sich gemeinsam.<br />

Großer Applaus – und wir auf<br />

der Bühne applaudierten dem<br />

Publikum!“<br />

© Diözese Innsbruck<br />

Esther Fritsch in der Synagoge. Sie überlebte<br />

als Jüdin den Holocaust in Polen,<br />

war fast dreißig Jahre Präsidentin der<br />

jüdischen Gemeinde. Eine starke, faszinierende<br />

Persönlichkeit. (© GemNova)<br />

Ein Gedenkstein in den Räumen der<br />

Kultusgemeinde: Sich zu erinnern<br />

heißt, nicht zu vergessen.<br />

(© GemNova)<br />

- Topsy Küppers,<br />

Autorin, Schauspielerin,<br />

Theaterleiterin

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