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39_Ausgabe Juli 2006

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daran gedacht, sich noch ein wenig mit mir<br />

zu unterhalten, hatte gerade nach meinem<br />

Woher und dem Namen gefragt, als ein Auto<br />

hupte, erst lang, dann kurz. Der alte Mann<br />

hatte darauf wohl seit langem gewartet. Er<br />

sah in Richtung Hauptstraße, wo ein Mann<br />

mit gestreckten Armen winkte. Der Alte<br />

winkte ein wenig zurück. Dann knöpfte er<br />

seine zum Fotografieren geöffnete Jacke<br />

wieder zu und reichte mir mit ein paar guten<br />

Wünschen die Hand. Ich lief hinter ihm her,<br />

sah noch den Chauffeur und sein Auto, das<br />

am Rande des Parks wartete: Es war ein feiner<br />

schwarzer Opel P 4 - mit rotem Winkel<br />

am Nummernschild: Kennzeichen an den<br />

wenigen zivilen Personenwagen, die in so<br />

fortgeschrittener Kriegszeit noch Benzin<br />

bekamen und fahren durften. Der Mantel<br />

des Dichters - das war ihm und mir gleichzeitig<br />

aufgefallen - musste noch im Stadtpark<br />

auf einer Bank liegen. Also rannte ich<br />

los. Und als ich atemlos wieder am Auto<br />

war und den Mantel hineingereicht hatte,<br />

fuhr die Limousine schon davon, noch ehe<br />

der greise Dichter mir danken oder wir einander<br />

noch winken konnten. Ich machte<br />

mich auf den Weg zur Zahnklinik. In einer<br />

Passage nahm ich den Film aus der Kamera<br />

und ließ ihn in einem Fotogeschäft mit der<br />

Bitte, ihn zu entwickeln und diejenigen Bilder,<br />

die einen Mann mit wehenden Haaren<br />

23<br />

und einem Buch zeigten - wenn sie gelungen<br />

waren - zu vergrößern. Auf der Heimfahrt erzählte<br />

ich meiner Mutter ausführlich von<br />

dem alten Manne, den ich für Goethe in Görlitz<br />

gehalten hatte und der Gerhart Hauptmann<br />

war. Den kannte sie, die gebürtige<br />

Schlesierin, recht gut, obgleich sie nie mehr<br />

Schulbildung als die in einer einklassigen<br />

schlesischen Dorfschule hatte. Goethe<br />

kannte sie natürlich auch, und sie sagte mir,<br />

dass der schon seit mehr als hundert Jahren<br />

tot sei. Nach vielen, vielen Wochen - ich hatte<br />

schon angenommen, mein ganzes Fotografieren<br />

mit dem komischen neuen Apparat<br />

sei wohl schief gelaufen - bekam ich Post<br />

aus Görlitz: Der Fotograf schickte mir ein<br />

paar kleine Abzüge mit Bildern, die ich<br />

vorher in der Stadt gemacht hatte, und zwei<br />

Vergrößerungen. Und ich sandte ihm in<br />

einem Umschlag die erbetenen fünf Mark.<br />

Für fünf Mark beinahe Goethe und richtig<br />

Gerhart Hauptmann zu erleben und auch<br />

noch schwarz auf weiß zu behalten! Wie<br />

sollte ich das jemals vergessen können!<br />

Richard Wilhelm wurde 1932 in Bautzen<br />

geboren, lebt seit 1952 in Magdeburg und<br />

gehört zu den namhaftesten Glasgestaltern<br />

Ostdeutschlands; er erhielt u. a. den<br />

Kunstpreis der DDR (1970) und den<br />

Goethe-Nationalpreis für Kunst und<br />

Literatur (1983). www.wilhelm-bautzen.de<br />

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