39_Ausgabe Juli 2006
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
daran gedacht, sich noch ein wenig mit mir<br />
zu unterhalten, hatte gerade nach meinem<br />
Woher und dem Namen gefragt, als ein Auto<br />
hupte, erst lang, dann kurz. Der alte Mann<br />
hatte darauf wohl seit langem gewartet. Er<br />
sah in Richtung Hauptstraße, wo ein Mann<br />
mit gestreckten Armen winkte. Der Alte<br />
winkte ein wenig zurück. Dann knöpfte er<br />
seine zum Fotografieren geöffnete Jacke<br />
wieder zu und reichte mir mit ein paar guten<br />
Wünschen die Hand. Ich lief hinter ihm her,<br />
sah noch den Chauffeur und sein Auto, das<br />
am Rande des Parks wartete: Es war ein feiner<br />
schwarzer Opel P 4 - mit rotem Winkel<br />
am Nummernschild: Kennzeichen an den<br />
wenigen zivilen Personenwagen, die in so<br />
fortgeschrittener Kriegszeit noch Benzin<br />
bekamen und fahren durften. Der Mantel<br />
des Dichters - das war ihm und mir gleichzeitig<br />
aufgefallen - musste noch im Stadtpark<br />
auf einer Bank liegen. Also rannte ich<br />
los. Und als ich atemlos wieder am Auto<br />
war und den Mantel hineingereicht hatte,<br />
fuhr die Limousine schon davon, noch ehe<br />
der greise Dichter mir danken oder wir einander<br />
noch winken konnten. Ich machte<br />
mich auf den Weg zur Zahnklinik. In einer<br />
Passage nahm ich den Film aus der Kamera<br />
und ließ ihn in einem Fotogeschäft mit der<br />
Bitte, ihn zu entwickeln und diejenigen Bilder,<br />
die einen Mann mit wehenden Haaren<br />
23<br />
und einem Buch zeigten - wenn sie gelungen<br />
waren - zu vergrößern. Auf der Heimfahrt erzählte<br />
ich meiner Mutter ausführlich von<br />
dem alten Manne, den ich für Goethe in Görlitz<br />
gehalten hatte und der Gerhart Hauptmann<br />
war. Den kannte sie, die gebürtige<br />
Schlesierin, recht gut, obgleich sie nie mehr<br />
Schulbildung als die in einer einklassigen<br />
schlesischen Dorfschule hatte. Goethe<br />
kannte sie natürlich auch, und sie sagte mir,<br />
dass der schon seit mehr als hundert Jahren<br />
tot sei. Nach vielen, vielen Wochen - ich hatte<br />
schon angenommen, mein ganzes Fotografieren<br />
mit dem komischen neuen Apparat<br />
sei wohl schief gelaufen - bekam ich Post<br />
aus Görlitz: Der Fotograf schickte mir ein<br />
paar kleine Abzüge mit Bildern, die ich<br />
vorher in der Stadt gemacht hatte, und zwei<br />
Vergrößerungen. Und ich sandte ihm in<br />
einem Umschlag die erbetenen fünf Mark.<br />
Für fünf Mark beinahe Goethe und richtig<br />
Gerhart Hauptmann zu erleben und auch<br />
noch schwarz auf weiß zu behalten! Wie<br />
sollte ich das jemals vergessen können!<br />
Richard Wilhelm wurde 1932 in Bautzen<br />
geboren, lebt seit 1952 in Magdeburg und<br />
gehört zu den namhaftesten Glasgestaltern<br />
Ostdeutschlands; er erhielt u. a. den<br />
Kunstpreis der DDR (1970) und den<br />
Goethe-Nationalpreis für Kunst und<br />
Literatur (1983). www.wilhelm-bautzen.de<br />
-Anzeige-