atw - International Journal for Nuclear Power | 04.2023
Umwelt, Klima, Energiesysteme Betriebsergebnisse 2022
Umwelt, Klima, Energiesysteme
Betriebsergebnisse 2022
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<strong>atw</strong> Vol. 68 (2023) | Ausgabe 4 ı Juni<br />
Neuorientierung und Aufbruch<br />
3<br />
Liebe Leserinnen und Leser,<br />
wie schon oft zu lesen, bildet die Abschaltung der letzten<br />
drei Kernkraftwerke nach über 60 Jahren Stromerzeugung<br />
mit Kernenergie in Deutschland tatsächlich eine<br />
Zäsur für die kerntechnische Branche. Allerdings – und<br />
das gilt es im Inland wie im Ausland immer wieder hervorzuheben<br />
– besteht die deutsche Kernenergiewirtschaft<br />
und die hiesige kerntechnische Forschungslandschaft<br />
nicht nur aus nunmehr abgeschalteten Kernkraftwerken<br />
und angeschlossener Drittmittel<strong>for</strong>schung, sondern sie<br />
bieten nach wie vor ein vielfältiges Kompetenzportfolio<br />
bei Herstellern, Dienstleistern, Komponentenherstellern,<br />
Sachverständigen, in Forschung und Lehre. Diese<br />
Kompetenzen können für die restlichen Aufgaben in<br />
Deutschland, aber eben und langfristig vor allem für<br />
viele Arbeiten im internationalen Geschäft, von Entsorgung<br />
und Rückbau über Zulieferung und Service<br />
bestehender Anlagen, bis hin zu Planung und Ausführung<br />
von LTO-Programmen, Leistungssteigerungen,<br />
Sicherheitsnachrüstungen und Neubauten Anwendung<br />
finden.<br />
Und hier zeigt sich nun, dass das Ende der Kernenergienutzung<br />
in Deutschland zusammen fällt mit einer neuen<br />
Wertschätzung für die Kernkraft in vielen Ländern, aber<br />
gerade in Europa, das im vergangenen Jahr schmerzhaft<br />
wieder lernen musste, dass nicht immer alles „Glatt<br />
geht“. Diese Entwicklung fand einen bemerkenswerten,<br />
fast spektakulären Ausdruck in der Gründung einer Nuklearallianz<br />
pronuklearer Staaten innerhalb der EU, die<br />
eine Mehrheit von 15 der 27 Mitgliedstaaten vereint. Und<br />
dieser im Rahmen der Gepflogenheiten in der EU drastische<br />
Schritt wirkt. In den Verhandlungen über die<br />
Erneuerbare-Energien-Richtlinie hat die Kommission die<br />
Rolle anderer als erneuerbarer Energien für die Erreichung<br />
des Ziels der Klimaneutralität der EU anerkannt<br />
und Schweden hat sein Ziel von 100 Prozent erneuerbaren<br />
Energien aufgehoben und auf 100 Prozent fossilfreie<br />
Stromerzeugung bis 2050 abgeändert, ein Schritt, der<br />
die Errichtung neuer Kernkraftwerke ermöglichen soll.<br />
So entwickelt sich ein neuer Aufbruch der Kernenergie<br />
mit positiven Entwicklungen in zahlreichen Staaten und<br />
auch einer neuen Vielfalt an Optionen. Hier ist das Ziel<br />
der Einführung der Kernenergie in Estland mittels eines<br />
SMR-Technologie, die Projekte polnischer Industrieunternehmen<br />
für eine eigene Standortenergieversorgung<br />
mit Strom und Wärme oder rumänische und polnische<br />
Konversionsprojekte für Kohlekraftwerksstandorte zu<br />
nennen. Eine Aufgabe, die eigentlich auch in Deutschland<br />
ansteht, für die hier aber Kernenergieprojekte<br />
natürlich denkunmöglich sind. Vom neuen Aufbruch bei<br />
unseren Nachbarn aber wird auch die hiesige Branche<br />
profitieren, selbst wenn sie oftmals gar nicht mehr auf<br />
dem Radarschirm von Auftraggebern erscheint, bei<br />
denen bisweilen die Gleichung Kernkraft plus Deutschland<br />
ist gleich Ausstieg gilt. Denn der enorme<br />
Arbeitskräftebedarf der Branche von 450.000 Beschäftigten,<br />
davon 200.000 Fachkräften in der EU in den<br />
kommenden 30 Jahren in Verbindung mit der demographischen<br />
Entwicklung in vielen Staaten und dem<br />
allgegenwärtigen Fachkräftemangel wird dazu führen,<br />
dass man alle Köpfe und Hände für den neuen europäischen<br />
Kernenergieaufschwung brauchen wird.<br />
Der Umschwung in der Wahrnehmung der Kernenergie<br />
als einer sicheren Bank und Garant für Versorgungssicherheit,<br />
Energie(teil)souveränität und Preisstabilität<br />
– neben den in den vergangenen Jahren im Vordergrund<br />
stehenden Vorteilen beim Treibhausgasausstoß und<br />
anderen ökologischen Aspekten – hat auch die deutsche<br />
Bevölkerung, nicht aber die deutsche Politik erfasst. Und<br />
hier nun liegt ein Risikopotential für die Beteiligung der<br />
deutschen Branche an der europäischen Entwicklung.<br />
Die fehlende proaktive Unterstützung durch die Bundesregierung<br />
macht für viele potentielle Auftraggeber<br />
Deutschland eher unattraktiv für größere Aufträge mit<br />
einem großen Finanzierungsvolumen. Und die derzeit<br />
restriktive Genehmigungspraxis bei bestimmten Exporten<br />
von kerntechnischen Gütern bereitet auch bei<br />
kleineren Aufträgen Schwierigkeiten in Form von Investitionsunsicherheit<br />
für die Zukunft. Sollte sich hier ein<br />
politischer Wille – ob aktiv oder auch nur passiv sich<br />
äußernd – manifestieren, der auf den Niedergang der<br />
hiesigen Branche hinausläuft und so die Umsetzung der<br />
Planungen unserer Nachbarn erschweren würde, so<br />
wäre dies in dreifacher Hinsicht für Deutschland<br />
schlecht: Zum einen wäre die wirtschaftliche Selbstschädigung<br />
zu nennen, eine hiesige Industrie mit guten<br />
Perspektiven und hoher Wertschöpfung zu bremsen, die<br />
ironischerweise von den hohen Energiepreisen, die derzeit<br />
so vielen Unternehmen zu schaffen machen, nur<br />
wenig betroffen ist, weil der nuklearspezifische Aufwand<br />
und die damit verbunden Kosten anderweitig<br />
entstehen. Zum Zweiten würde ein aktiver oder passiver<br />
Widerstand gegen den Neubau von Kernkraftwerken bei<br />
unseren Nachbarn auch unsere eigene Versorgungssicherheit<br />
schädigen, die zwingend auch regelbare<br />
Kraftwerkskapazität im europäischen Verbundsystem<br />
benötigt. Und zum dritten würde eine solche unsolidarische<br />
Handlungsweise von den anderen Staaten kaum<br />
goutiert werden und dürfte unserem Land bei sich bietender<br />
Gelegenheit auf die Füße fallen.<br />
Für die Branche wichtig ist es aber, auf sich aufmerksam<br />
zu machen, für Kerntechnik Made in Germany weiter zu<br />
werben, Sichtbarkeit auf den internationalen Kernenergiemärkten<br />
zu erhalten und den prospektiven Kunden zu<br />
zeigen, dass die deutschen Kerntechnikunternehmen<br />
einschließlich der hiesigen Standorte internationaler<br />
Unternehmen bereit sind, einen gemeinsamen Neuaufbruch<br />
für die Kernenergie in Europa und in vielen<br />
anderen Teilen der Welt mitzugestalten.<br />
Nicolas Wendler<br />
– Chefredakteur –<br />
EDITORIAL<br />
Editorial<br />
Neuorientierung und Aufbruch