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Die Wirtschaft Köln - Ausgabe 03 / 24

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w | Titelstory<br />

Foto: Alex Weis<br />

Auch ein Sozialstaat<br />

braucht Sanktionen, um<br />

funktionsfähig zu sein.<br />

w: Wie zufrieden sind Sie<br />

mit der deutschen Innenpolitik bezüglich<br />

unseres Sozialstaates?<br />

res gewählt. Aber irgendwann verloren Sie<br />

die Motivation im relativ oberflächlichen<br />

Werbegeschäft. Was war der Auslöser?<br />

Emitis Pohl: Ich bin davon überzeugt, dass<br />

viele Menschen in ihrer zweiten Lebenshälfte<br />

mit all den Erfahrungen und Erlebnissen<br />

im Leben einen anderen Weg gehen, manchmal<br />

gibt es einen Auslöser dafür, und bei<br />

mir war es Ende 2017 der Tod meines Vaters,<br />

eines meiner größten Vorbilder im Leben.<br />

Ich begann, mich im Iran um alleinerziehende<br />

Frauen und bedürftige Kinder zu<br />

kümmern, verhinderte sogar die Zwangsverheiratung<br />

eines 14-jährigen Mädchens.<br />

Ich investierte in die Bildung junger Kinder<br />

und sorgte regelmäßig für warme Mahlzeiten.<br />

Auch wenn ich nur einem von zehn<br />

Menschen helfen konnte, fühlte es sich wie<br />

ein Erfolg an.<br />

Dann kam Corona, und mir wurde bewusst,<br />

dass nicht nur Frauen im Iran, sondern auch<br />

hier in Deutschland benachteiligt sind. Sie<br />

jonglieren mit Haushaltsaufgaben, Arbeit<br />

und haben teilweise auch Gewalt erlebt.<br />

Eines Tages wachte ich auf und stellte<br />

fest, dass ich mir keinen einzigen Wunsch<br />

mehr vorstellen konnte, was mich persönlich<br />

alarmierte. Ich hatte meine Erfolgsgeschichte<br />

geschrieben und war scheinbar<br />

wunschlos glücklich. Es war ein schönes<br />

Gefühl, aber ich strebte nicht nach mehr Erfolg<br />

oder Glück. Ich holte mir einen Coach,<br />

Nach 25 Jahren im Marketing fokussiert sich die gebürtige<br />

Iranerin inzwischen auf humanitäre Hilfe<br />

um herauszufinden, wohin die Reise für<br />

mich gehen sollte. Mir wurde schnell klar,<br />

dass ich etwas Sinnstiftendes tun wollte.<br />

Nach 25 Jahren im Bereich Marketing und<br />

Werbung habe ich festgestellt, dass mir die<br />

Oberflächlichkeit dieser Branche zunehmend<br />

zuwider wurde.<br />

Ein Kindheitstraum von mir war es, Frauen<br />

zu helfen, damit sie unabhängig werden,<br />

sich vor Gewalt schützen und bessere<br />

Vorbilder für ihre Kinder sein können. Wie<br />

damals, als ich mein Unternehmen gründete,<br />

standen Menschen an meiner Seite, die<br />

mich ermutigten, meinen Verein zu gründen.<br />

Herr Voigt von der Sparkasse <strong>Köln</strong>-<br />

Bonn war die letzte Instanz, die mir grünes<br />

Licht gab. Denn gerade, wenn man ein neues<br />

Kapitel im Leben aufschlägt, ist es wichtig,<br />

sich den Rat von Menschen einzuholen,<br />

auf deren Urteil man vertraut. Nach diesem<br />

Prinzip arbeiten wir auch bei seiSTARK und<br />

stehen Frauen bei wichtigen Lebensentscheidungen<br />

bei.<br />

Es war wie damals, als ich 33 war: kein<br />

einfacher Schritt. Ich hatte keine Erfahrung<br />

mit Vereinsgründungen, es bedeutete<br />

finanzielle Einbußen für mich und ich<br />

musste mich nach 15 Jahren von meinem<br />

Baby, meiner Agentur, trennen. Aber wenn<br />

ich meinen Traum zu dem Zeitpunkt nicht<br />

umgesetzt hätte, hätte ich es vielleicht nie<br />

getan. Aufgeben war also keine Option.<br />

Emitis Pohl: Als Bürgerin dieses Landes und<br />

Teil des Sozialsystems ist die Innenpolitik<br />

und insbesondere die Gestaltung des Sozialstaates<br />

von großer Bedeutung für mich.<br />

Leider bin ich sehr unzufrieden mit der Politik<br />

und unserem Sozialsystem in Deutschland,<br />

insbesondere seit 2015, als sich die Situation<br />

hier im Land verschlechtert hat. Es<br />

ist inakzeptabel, dass wir es nach so vielen<br />

Jahren immer noch nicht geschafft haben,<br />

ein vernünftiges Integrationsgesetz zu verabschieden<br />

und notfalls mit Sanktionen zu<br />

drohen. Der richtige Zeitpunkt für ein Einwanderungsgesetz<br />

wurde damals verpasst.<br />

Es ist frustrierend zu sehen, dass wir einen<br />

Arbeitskräftemangel haben und gleichzeitig<br />

so viele Arbeitslose von unseren Steuergeldern<br />

leben, ohne spürbare Sanktionen zu<br />

erfahren.<br />

Wir haben das Beispiel Kanadas vor Augen,<br />

wo Integration erfolgreich funktioniert.<br />

Warum können wir uns nicht an solchen<br />

Ländern orientieren, deren Gesetze sich<br />

bewährt haben? Warum machen wir Unterschiede<br />

zwischen Migranten aus verschiedenen<br />

Herkunftsländern?<br />

<strong>Die</strong> Bürokratie erschwert unser Leben in<br />

jeglicher Hinsicht, und dennoch schaffen<br />

wir es nicht, sie abzubauen. Unternehmen<br />

müssen teilweise schließen, weil sie keine<br />

Arbeitskräfte finden. Ein gewisses Maß<br />

an Verpflichtung zur Eigenverantwortung<br />

kann für viele Menschen hilfreich sein, aus<br />

ihrer Bequemlichkeit und Abhängigkeit herauszukommen.<br />

Leider fördert unser Sozialsystem<br />

diese Eigenschaften eher, anstatt sie<br />

zu bekämpfen, und das frustriert mich zutiefst.<br />

Ich bin fest davon überzeugt, dass unser<br />

Sozialsystem auch Sanktionen braucht,<br />

um funktionsfähig zu sein.<br />

Ich wünschte mir, dass die Politik mehr<br />

Expertise von Menschen, Organisationen,<br />

Vereinen und Unternehmen einholt,<br />

die über Fakten sprechen und Erfahrungen<br />

gesammelt haben, anstatt hin und<br />

wieder unsinnige Gesetze wie das Bürgergeld<br />

zu verabschieden, nur um schnell etwas<br />

zu verabschieden. Es ist an der Zeit,<br />

dass unsere Politik sich ernsthaft mit<br />

den Problemen auseinandersetzt und<br />

konkrete Lösungen findet, die das Leben<br />

der Bürgerinnen und Bürger verbessern,<br />

sonst sehe ich schwarz für Deutschland.<br />

8 www.diewirtschaft-koeln.de

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