Die Wirtschaft Köln - Ausgabe 03 / 24
- Keine Tags gefunden...
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
w | Titelstory<br />
Foto: Alex Weis<br />
Auch ein Sozialstaat<br />
braucht Sanktionen, um<br />
funktionsfähig zu sein.<br />
w: Wie zufrieden sind Sie<br />
mit der deutschen Innenpolitik bezüglich<br />
unseres Sozialstaates?<br />
res gewählt. Aber irgendwann verloren Sie<br />
die Motivation im relativ oberflächlichen<br />
Werbegeschäft. Was war der Auslöser?<br />
Emitis Pohl: Ich bin davon überzeugt, dass<br />
viele Menschen in ihrer zweiten Lebenshälfte<br />
mit all den Erfahrungen und Erlebnissen<br />
im Leben einen anderen Weg gehen, manchmal<br />
gibt es einen Auslöser dafür, und bei<br />
mir war es Ende 2017 der Tod meines Vaters,<br />
eines meiner größten Vorbilder im Leben.<br />
Ich begann, mich im Iran um alleinerziehende<br />
Frauen und bedürftige Kinder zu<br />
kümmern, verhinderte sogar die Zwangsverheiratung<br />
eines 14-jährigen Mädchens.<br />
Ich investierte in die Bildung junger Kinder<br />
und sorgte regelmäßig für warme Mahlzeiten.<br />
Auch wenn ich nur einem von zehn<br />
Menschen helfen konnte, fühlte es sich wie<br />
ein Erfolg an.<br />
Dann kam Corona, und mir wurde bewusst,<br />
dass nicht nur Frauen im Iran, sondern auch<br />
hier in Deutschland benachteiligt sind. Sie<br />
jonglieren mit Haushaltsaufgaben, Arbeit<br />
und haben teilweise auch Gewalt erlebt.<br />
Eines Tages wachte ich auf und stellte<br />
fest, dass ich mir keinen einzigen Wunsch<br />
mehr vorstellen konnte, was mich persönlich<br />
alarmierte. Ich hatte meine Erfolgsgeschichte<br />
geschrieben und war scheinbar<br />
wunschlos glücklich. Es war ein schönes<br />
Gefühl, aber ich strebte nicht nach mehr Erfolg<br />
oder Glück. Ich holte mir einen Coach,<br />
Nach 25 Jahren im Marketing fokussiert sich die gebürtige<br />
Iranerin inzwischen auf humanitäre Hilfe<br />
um herauszufinden, wohin die Reise für<br />
mich gehen sollte. Mir wurde schnell klar,<br />
dass ich etwas Sinnstiftendes tun wollte.<br />
Nach 25 Jahren im Bereich Marketing und<br />
Werbung habe ich festgestellt, dass mir die<br />
Oberflächlichkeit dieser Branche zunehmend<br />
zuwider wurde.<br />
Ein Kindheitstraum von mir war es, Frauen<br />
zu helfen, damit sie unabhängig werden,<br />
sich vor Gewalt schützen und bessere<br />
Vorbilder für ihre Kinder sein können. Wie<br />
damals, als ich mein Unternehmen gründete,<br />
standen Menschen an meiner Seite, die<br />
mich ermutigten, meinen Verein zu gründen.<br />
Herr Voigt von der Sparkasse <strong>Köln</strong>-<br />
Bonn war die letzte Instanz, die mir grünes<br />
Licht gab. Denn gerade, wenn man ein neues<br />
Kapitel im Leben aufschlägt, ist es wichtig,<br />
sich den Rat von Menschen einzuholen,<br />
auf deren Urteil man vertraut. Nach diesem<br />
Prinzip arbeiten wir auch bei seiSTARK und<br />
stehen Frauen bei wichtigen Lebensentscheidungen<br />
bei.<br />
Es war wie damals, als ich 33 war: kein<br />
einfacher Schritt. Ich hatte keine Erfahrung<br />
mit Vereinsgründungen, es bedeutete<br />
finanzielle Einbußen für mich und ich<br />
musste mich nach 15 Jahren von meinem<br />
Baby, meiner Agentur, trennen. Aber wenn<br />
ich meinen Traum zu dem Zeitpunkt nicht<br />
umgesetzt hätte, hätte ich es vielleicht nie<br />
getan. Aufgeben war also keine Option.<br />
Emitis Pohl: Als Bürgerin dieses Landes und<br />
Teil des Sozialsystems ist die Innenpolitik<br />
und insbesondere die Gestaltung des Sozialstaates<br />
von großer Bedeutung für mich.<br />
Leider bin ich sehr unzufrieden mit der Politik<br />
und unserem Sozialsystem in Deutschland,<br />
insbesondere seit 2015, als sich die Situation<br />
hier im Land verschlechtert hat. Es<br />
ist inakzeptabel, dass wir es nach so vielen<br />
Jahren immer noch nicht geschafft haben,<br />
ein vernünftiges Integrationsgesetz zu verabschieden<br />
und notfalls mit Sanktionen zu<br />
drohen. Der richtige Zeitpunkt für ein Einwanderungsgesetz<br />
wurde damals verpasst.<br />
Es ist frustrierend zu sehen, dass wir einen<br />
Arbeitskräftemangel haben und gleichzeitig<br />
so viele Arbeitslose von unseren Steuergeldern<br />
leben, ohne spürbare Sanktionen zu<br />
erfahren.<br />
Wir haben das Beispiel Kanadas vor Augen,<br />
wo Integration erfolgreich funktioniert.<br />
Warum können wir uns nicht an solchen<br />
Ländern orientieren, deren Gesetze sich<br />
bewährt haben? Warum machen wir Unterschiede<br />
zwischen Migranten aus verschiedenen<br />
Herkunftsländern?<br />
<strong>Die</strong> Bürokratie erschwert unser Leben in<br />
jeglicher Hinsicht, und dennoch schaffen<br />
wir es nicht, sie abzubauen. Unternehmen<br />
müssen teilweise schließen, weil sie keine<br />
Arbeitskräfte finden. Ein gewisses Maß<br />
an Verpflichtung zur Eigenverantwortung<br />
kann für viele Menschen hilfreich sein, aus<br />
ihrer Bequemlichkeit und Abhängigkeit herauszukommen.<br />
Leider fördert unser Sozialsystem<br />
diese Eigenschaften eher, anstatt sie<br />
zu bekämpfen, und das frustriert mich zutiefst.<br />
Ich bin fest davon überzeugt, dass unser<br />
Sozialsystem auch Sanktionen braucht,<br />
um funktionsfähig zu sein.<br />
Ich wünschte mir, dass die Politik mehr<br />
Expertise von Menschen, Organisationen,<br />
Vereinen und Unternehmen einholt,<br />
die über Fakten sprechen und Erfahrungen<br />
gesammelt haben, anstatt hin und<br />
wieder unsinnige Gesetze wie das Bürgergeld<br />
zu verabschieden, nur um schnell etwas<br />
zu verabschieden. Es ist an der Zeit,<br />
dass unsere Politik sich ernsthaft mit<br />
den Problemen auseinandersetzt und<br />
konkrete Lösungen findet, die das Leben<br />
der Bürgerinnen und Bürger verbessern,<br />
sonst sehe ich schwarz für Deutschland.<br />
8 www.diewirtschaft-koeln.de