DER GASTFREUND / DIE ARGONAUTEN - Badisches Staatstheater ...
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der Konfliktparteien in verschiedenen<br />
Arrangements dar, teilt sich in drei Stimmen<br />
auf: den Kolcherkönig Aietes, seine<br />
Tochter Medea und den Griechen Phryxus.<br />
Aus diesen Stimmen des Chores treten<br />
schließlich erste Personalisierungen,<br />
Verkörperungen der drei Figuren durch<br />
überlebensgroße Puppen hervor.<br />
Gerahmt wird das kollektive Erzählen der<br />
Geschichte gescheiterter Gastfreundschaft<br />
durch Fundstücke der Recherche<br />
auf dem Karlsruher Friedrichsplatz.<br />
Während der Woche der Gastfreunde<br />
im TRAUTEN HEIM wurden zahlreiche<br />
Videointerviews geführt, die nun zu einem<br />
Kaleidoskop von Antworten auf die Fragestellungen<br />
montiert sind, die das Stück<br />
aufwirft: Was ist Kultur? Wann fühlen wir<br />
uns fremd? Wo fühlen wir uns zuhause?<br />
Was ist eigentlich Gastfreundschaft?<br />
Wie kommt sie zustande? Was steht ihr<br />
im Weg? Das TRAUTE HEIM selbst ist das<br />
Bühnenbild, ein Gemeinschaftshaus, an<br />
dessen Schwelle sich der Chor aufspaltet<br />
– in Gastgeber und Gäste, Freunde und<br />
Feinde. Der Karlsruher Friedrichsplatz wird<br />
auf die Bühne des KLEINEN HAUSES gebracht,<br />
als ein Ausschnitt der Wirklichkeit<br />
der Stadt, und wird mit der Erzählung des<br />
Mythos verschnitten und konfrontiert. Der<br />
Gastfreund ist die Exposition des Themas,<br />
um das es hier geht: Wie beziehen wir uns<br />
heute auf den antiken Mythos? Was hat er<br />
mit unserem Kollektiv zu tun? Wie denken<br />
wir über Gastfreundschaft und Fremdheit<br />
nach?<br />
Frank Wiegard schlägt als Alpträumender<br />
die Brücke in den zweiten Teil, Die Argonauten.<br />
Hier springt die Inszenierung in der<br />
Theatergeschichte nach vorne und Schauspieler<br />
übernehmen die Rollen, die sich<br />
nun verdoppelt haben: König Aietes hat als<br />
zweite, jüngere „Ausgabe“ seiner selbst<br />
seinen Sohn Absyrtus an der Seite, Medea<br />
wird durch ihre Amme Gora begleitet und<br />
der Grieche Jason hat als Kampfgefährten<br />
seinen Freund Milo dabei. Sämtliche<br />
Rollen werden von Männern gespielt – um<br />
zum einen erneut auf die Theatergeschichte<br />
Bezug zu nehmen, die Jahrhunderte<br />
lang nur männliche Darsteller kannte, und<br />
um zum anderen den Konflikt zu schärfen,<br />
der erzählt wird: den zwischen zwei<br />
einander fremden Kulturen. Diese „Kulturen“<br />
sind Konstruktionen, „Griechen“ und<br />
„Kolcher“ meinen bei Grillparzer nicht die<br />
historisch verbürgte Lebensweise antiker<br />
Ethnien, sondern stehen stellvertretend<br />
für unsere Wahrnehmung der eigenen und<br />
der fremden Kultur.<br />
Den Kolchern wird dabei die Rolle der<br />
„Barbaren“ zugewiesen, in den Augen der<br />
Griechen sind sie die „bösen Wilden“ –<br />
ein Bild, das ergänzt durch sein Pendant,<br />
die „edlen Wilden“, aus der Begegnung<br />
der ersten europäischen Seefahrer mit<br />
den amerikanischen Ureinwohnern und<br />
Südseeinsulanern stammt und zu großer<br />
Wirkungsmacht in Geschichtsschreibung,<br />
Philosophie und Kunst gelangte. Die „Wilden“<br />
wurden dämonisiert oder idealisiert,<br />
je nachdem wie der Blick auf die eigene<br />
Zivilisation ausfiel. So preist Michel de<br />
Montaigne in seinem Essay über die<br />
Kannibalen die Wilden als „unverfälscht“<br />
und „unverdorben“ und konstruiert einen<br />
„Urzustand“, in dem noch die „Naturgesetze“<br />
gelten anstatt die vom Menschen<br />
gemachten: „Hier lebt ein Volk, wo es gar<br />
keinen Handel gibt, keine Schrift, kein<br />
Rechnen, keine Vorgesetzten in Stadt und<br />
Staat, keine Dienenden, keine Reichen und<br />
keine Armen, keine Verträge, kein Erbrecht<br />
und keine Erbteilung, keinen Beruf, der zur<br />
Arbeit zwingt, keine Rangordnung in der<br />
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