DER GASTFREUND / DIE ARGONAUTEN - Badisches Staatstheater ...
DER GASTFREUND / DIE ARGONAUTEN - Badisches Staatstheater ...
DER GASTFREUND / DIE ARGONAUTEN - Badisches Staatstheater ...
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Familie, keine Kleidung, keinen Ackerbau,<br />
keine Wein- oder Getreidekultur; selbst<br />
die Begriffe: Lüge, Verrat, Heuchelei,<br />
Geiz, Neid, Verleumdnung, Verzeihung<br />
bedeuten dort nichts.“ Montaigne benutzt<br />
die „Wilden“, um Kritik an seiner eigenen<br />
Gesellschaft zu üben. Dagegen stehen<br />
die Berichte der frühen Eroberer über die<br />
„Ungeheuer“, mehr Mensch als Tier, die<br />
keine „Sitten“ kennen und unterworfen,<br />
gezähmt und missioniert werden müssen.<br />
Sklavenhandel, Kolonisierung und Ausbeutung<br />
der „Neuen Welt“ und des afrikanischen<br />
Kontinents bauten auf dieser<br />
Abwertung der „Fremden“ auf, benötigten<br />
sie als Rechtfertigung. Bis in die 1940er<br />
Jahre hinein wurden in sogenannten<br />
„Völkerschauen“ aus Asien, Afrika und<br />
Amerika importierte „Exoten“ in Europa<br />
zur Schau gestellt und auf menschenunwürdige<br />
Art auch zu wissenschaftlichen<br />
Zwecken untersucht. Grillparzer bezieht<br />
sich in Die Argonauten explizit auf diese<br />
Praxis. Jasons Kampfgefährte Milo erlebt<br />
in Kolchis die Begegnung mit den „bösen<br />
Wilden“, während Jason seiner Faszination<br />
für Medea erliegt und in seinem<br />
eigenen „Herz der Finsternis“ ankommt.<br />
Medea ist seine Pocahontas, eine Wiedergängerin<br />
jenes Indianermädchens, das den<br />
englischen Abenteurer John Smith vor der<br />
Hinrichtung durch ihren Vater errettete.<br />
Die Vorstellungen der „edlen Wilden /<br />
bösen Wilden“ sind rassistische Stereotype<br />
einer vergangenen Zeit. Aber haben<br />
wir sie wirklich überwunden? Was sehen<br />
wir heute, aus Europa auf Afrika schauend?<br />
Was wissen wir wirklich über die Lebensweise<br />
der heutigen „Ureinwohner“?<br />
Und spiegelt sich in der Art, wie aktuell die<br />
Debatte um Integration geführt wird, nicht<br />
ein ganz ähnliches, doppelgesichtiges Stereotyp<br />
wieder? Wollte man es zuspitzen,<br />
34<br />
müsste man zugeben: Ein gut integrierter,<br />
sozusagen „missionierter“ Ausländer ist<br />
ein „edler Wilder“, ein nicht integrierter<br />
oder gar „integrationsunwilliger“ Ausländer<br />
ist ein „böser“ und wird als Gefährdung<br />
unserer Ordnung, unserer Werte,<br />
unseres Systems angesehen. Die Konzepte<br />
Interkultur und Transkultur haben<br />
den Begriff der Integration bis heute nicht<br />
verdrängen und auch seine Durchsetzung<br />
mittels politischer Praxis nicht stoppen<br />
können. In Zeiten der Globalisierung kann<br />
die Ausbeutung und Neokolonisierung der<br />
„Dritten Welt“ heute immer noch als „griechisch“<br />
betrachtet werden, während die<br />
„Kolcher“, die einwandern, das Schicksal<br />
von Medea erwartet.<br />
„Griechen“ und „Kolcher“ nur als Symbole<br />
für den Gegensatz zwischen eigener und<br />
fremder Kultur zu sehen, wäre zu einfach.<br />
Denn letztlich sind sie zwei Seiten einer<br />
Medaille: unserer. Die Angst des Aietes<br />
vor Eindringlingen, gepaart mit der Gier<br />
nach ihren Schätzen, sehen wir in unserer<br />
Gesellschaft ebenso gespiegelt, wie die<br />
Arroganz der Eroberer, die ebenfalls mit<br />
Angst und Vorurteilen einhergeht. Wir<br />
brauchen das Fremde, um uns unserer<br />
eigenen Identität zu versichern, bzw. diese<br />
anhand der „anderen“ erst zu definieren.<br />
Doch das Fremde ist in uns, zum einen als<br />
Phantasma, zum anderen dadurch, dass<br />
auch wir fremd sind – den anderen. Wer<br />
lernt hier eigentlich von wem? Wer hat<br />
sich wem anzupassen? Und können wir<br />
uns eine Gesellschaft vorstellen, in der<br />
sich diese Fragen nicht mehr stellen? Die<br />
Inszenierung des zweiten Teils, Die Argonauten,<br />
thematisiert auf vielen Ebenen<br />
unsere Angst, aber auch unsere Faszination<br />
dem Fremden gegenüber – und dreht<br />
die Fragestellung um: Was wäre, wenn das<br />
Fremde uns entdeckt?<br />
Peter Schneider, Thomas Halle