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Aktuelle Ausgabe - Feed Magazin

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Wie wird man<br />

speaker bei<br />

der re:publica?<br />

„Das war eine reichlich lustige Sache. Ich wollte<br />

schon 2010 zur Republica gehen, aber sie war nicht<br />

barrierefrei. Im Herbst 2010 bat ich dann die Orga<br />

der Republica darum, sich für 2011 um Barrierefreiheit<br />

zu bemühen. Die Orga reagierte auf meine<br />

E-Mails und die Vorschläge darauf, und fragte, wie<br />

man das bestmöglichst gestalten könnte. Leider<br />

hat es dann für 2011 noch nicht geklappt.<br />

Im März 2011 hab ich dann kackdreist angefragt,<br />

ob ich Freikarten für die Republica kriegen<br />

könnte, weil sie ja nicht barrierefrei ist. Da kam<br />

dann die Mail zurück, dass man mich sowieso noch<br />

als Speakerin einladen wollte, da ich im Netz für<br />

meinen Ableseservice und für die Interpretation<br />

der Westerwelle-Rede bekannt bin. Da hat´s mich<br />

schon ziemlich vom Hocker gehauen. Ich mein –<br />

da bewerben sich doch alle möglichen Leute als<br />

Speaker für die Republica und MICH laden sie ein.<br />

Ich hatte bei den Call-for-Papers überlegt, ob<br />

ich selbst eine Bewerbung als Speakerin einreiche,<br />

aber den Plan doch wieder verworfen, weil ich es<br />

mir nicht zugetraut habe, vor sovielen Menschen<br />

zu reden. Als es dann doch dazu kam, war es gar<br />

nicht so schlimm, wofür ich Philip Banse sehr<br />

dankbar bin, denn mit seiner unaufgeregten Art<br />

die Fragen zu stellen, war es ein Selbstläufer.“<br />

Was ist eigentlich<br />

ein cochleaimplantat?<br />

Bei ihrem Re:publica-Auftritt wurde Julia<br />

von einer Gebärdensprachdolmetscherin unterstützt.<br />

Im Grunde benötigt Julia aber keinen Dolmetscher<br />

um sich mit hörenden Menschen zu verständigen.<br />

J.P.: „Die Gebärdensprache ist nicht meine Muttersprache;<br />

das ist die Lautsprache. Ich bin zwar<br />

gehörlos, habe aber eigentlich keine echte Gehörlosen-Identität.<br />

Ich fühle mich in der Welt der Hö-<br />

renden zu Hause. Ich bezeichne meinen Hörstatus<br />

immer so: Ohne Cochlear-Implantat gehörlos, mit<br />

Cochlear-Implantat schwerhörig. Also von der kulturellen<br />

Identität her als hörend. Das CI erleichtert<br />

mir die Kommunikation in einer größeren Gruppe,<br />

obwohl es mir nur selten ein freies Hörvermögen<br />

ohne Lippenlesen ermöglicht. Im Kino oder in<br />

der Disco habe ich es gerne an, Aber ich bin nicht<br />

darauf angewiesen.“<br />

Ein Cochlea-Implantat (kurz CI) ist grob gesprochen<br />

eine relativ komplexe Apparatur, die<br />

Betroffenen implantiert werden, um ihnen im<br />

günstigsten Fall den Gehörsinn zu induzieren (wer<br />

Genaueres wissen möchte mal den entsprechenden<br />

Wikipedia-Artikel lesen). Da die Gerätschaft in Teilen<br />

implantiert wird ist Julia also strenggenommen<br />

ein Cyborg, wie sie in ihrem Blogeintrag „Hoppla<br />

ich bin ja ein Cyborg“ augenzwinkernd feststellt.<br />

In den Medien vielfach einseitig als Wundermittel<br />

angepriesen, wird es von Betroffenen zwiespältig<br />

gesehen. Einerseits können im Einzelfall<br />

außerordentliche Erfolge konstatiert werden - Fälle,<br />

in denen Betroffene durch das CI ein fast normales<br />

Gehör erlangten - andererseits gibt es auch Fälle, in<br />

denen das CI nichts gebracht hat und darüber hinaus<br />

mit einer Schmerz-Leidensgeschichte verbunden<br />

war, da die medizinischen Risiken der Operation<br />

oft unterschätzt bzw unterschlagen werden.<br />

Betroffene, bei denen die Implantation nicht zum<br />

gewünschten Erfolg geführt hat, werden mit ihren<br />

Problemen oft allein gelassen, weil in den Medien<br />

und von verantwortlichen Politikern eine geradezu<br />

euphorische Propaganda für das CI betrieben wird<br />

(nicht zuletzt hängt auch eine Industrie hinter der<br />

Cochlea-Implantations-Medizin).<br />

Schließlich impliziert und verfestigt die einseitige<br />

Kampagne für das CI die Sichtweise, dass Gehörlosigkeit<br />

etwas Minderwertiges und ganz Schreckliches<br />

für die Betroffenen sei und man den armen<br />

Menschen helfen müsse; und da es ja diese Lösung<br />

gibt, muss man sich keine Gedanken mehr um Fragen<br />

der gesellschaftlichen Inklusion von Gehörlosen<br />

oder um Fragen der Barrierefreiheit machen.<br />

In ihrem Blogeintrag „Danke, ich habe es doch<br />

schon“ beschreibt sie, wie sie, ihr Freund und ihre<br />

Dolmetscherin von einer gut meinenden aber aufdringlichen<br />

Dame belästigt wird, die ihr wiederholt<br />

nahelegt sich doch ein CI zuzulegen. Julia hatte den<br />

externen Teil der Apparatur abgenommen und in<br />

der Tasche verstaut; das Teil stört beim Knutschen...<br />

die gehörlose<br />

in der<br />

ersten bank<br />

Julia bewegt sich von klein auf ganz selbstverständlich<br />

in der Welt der Hörenden – 80 % ihres<br />

Freundeskreises sind normal Hörende. Das hat sicher<br />

auch mit dem Umstand zu tun, dass sie ihre<br />

Kindheit auf einer „normalen“ Schule verbracht<br />

hat. Mit der Einschulung stand die Frage an: Geht´<br />

s auf eine Regel- oder eine Schwerhörigenschule?<br />

Auf ihrem Blog beschreibt Julia anschaulich die<br />

Umstände ihrer Einschulung. Nachdem Ihr zunächst<br />

der Besuch einer Gehörlosen-Schule nahegelegt<br />

wurde, bekam sie dann doch die Chance,<br />

die ersten drei Schuljahre eine Regelschule zu besuchen.<br />

Julia schreibt:<br />

„Mein Platz war übrigens ganz vorne, direkt<br />

am Pult des Lehrers. In dieser Zeit wurde auch der<br />

Grundstein gelegt für meine Liebe zur Sprache<br />

und dem Schreiben im besonderen, aber auch die<br />

Ablesefähigkeit und Beobachtungsgabe konnte<br />

ich dort trainieren, denn ich passte scharf auf wie<br />

ein Schießhund, welche Bücher gerade angesagt<br />

waren und welche Hefte, denn das Klingeln der<br />

Schulglocke hörte ich ja nicht, sondern erkannte<br />

an den wechselnden Bücher und der Heften, welche<br />

ich gerade heraus holen sollte. (...) Ich bin mir<br />

heute sicher: Wäre ich gleich von Anfang an auf<br />

eine Schwerhörigenschule gegangen, hätte sich<br />

mir wohl die Schönheit der deutschen Sprache in<br />

Wort und Schrift nicht so erschlossen wie dort auf<br />

der hörenden Schule.“<br />

Allgemein hinkt Deutschland, was die schulische<br />

Inklusion von Gehörlosen angeht, im europäischen<br />

Vergleich weit hinterher. Während im Rest<br />

Europas 80 % der Gehörlosen auf eine Regelschule<br />

gehen, ist es in Deutschland genau umgekehrt:<br />

80 % der deutschen Gehörlosen besuchen Sonderschulen.<br />

Das ist nach Julias Meinung die Wurzel<br />

allen Übels:<br />

Barrieren in den Köpfen der Menschen entstehen<br />

dadurch, dass Menschen mit Behinderungen<br />

aus der Gesellschaft aussortiert werden. Würden<br />

die Kinder von Anfang von Kindesbeinen an gemeinsam<br />

aufwachsen und in den Kindergarten<br />

und zur Schule gehen, würden durch das gelebte<br />

Miteinander die Barrieren in den Köpfen ver-<br />

<strong>Feed</strong>-<strong>Magazin</strong> 02-2011 29

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