Wohnen im Alter - GIT Verlag
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wendung des Begriffs „Minutenpflege“ ist gewissermaßen<br />
ein Symbol für diesen Eindruck.<br />
Und er ist der insgesamt zutreffende Ausdruck<br />
für einen Pflegebegriff, der sich auf wenige alltägliche<br />
Aktivitäten konzentriert – vor allem<br />
auf das Waschen und Essen. Dies muss man<br />
sehr ernst nehmen, wenn man die allgemeine<br />
Akzeptanz der eigentlich bewährten Pflegeversicherung<br />
aufrechterhalten will.<br />
>> Darin steckt ja auch der Hauptkritikpunkt<br />
am gegenwärtigen Pflegebedürftigkeitsbegriff?<br />
>>Dr. h. c. Jürgen Gohde: Der geltende Begriff<br />
in SGB XI definiert den Menschen eben<br />
nicht ganzheitlich. Das wurde bereits bei seiner<br />
Einführung kritisiert. Dazu kommt die Kritik,<br />
dass das Somatische ernster genommen wird<br />
als die entscheidenden kommunikativen Probleme,<br />
auch Kinder kommen in der momentanen<br />
Regelung zu kurz. Insgesamt entsteht ein<br />
spezifisches Bild vom Menschen, das ihn in erster<br />
Linie als defizitär definiert.<br />
>> Sie sind u. a. Vorsitzender eines eigens zur<br />
Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs<br />
ins Leben gerufenen Beirats: Im Koalitionsvertrag<br />
der Regierungsparteien wurde dessen<br />
Überarbeitung vereinbart. Gerade haben Sie<br />
den Abschlussbericht vorgelegt. Könnten Sie<br />
uns zunächst einmal kurz den Auftrag an den<br />
Beirat umreißen?<br />
>>Dr. h. c. Jürgen Gohde: Der Auftrag bestand<br />
darin, die Grundlagen für eine Entscheidung<br />
zu erarbeiten, die eine zukunftsfähige<br />
Neufassung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs<br />
zum Ziel hat. Dabei sollten zugleich die Auswirkungen<br />
auf andere Sozialgesetze einbezogen<br />
werden, insbesondere auf SGB IX und XII,<br />
also auf die Sozialhilfegesetzgebung sowie die<br />
Eingliederungshilfe. Es sollten Vorschläge gemacht<br />
und Handlungsoptionen vorgestellt werden.<br />
>> Wie setzt sich der Beirat genau zusammen?<br />
>>Dr. h. c. Jürgen Gohde: Der Beirat deckt<br />
ein sehr breites gesellschaftliches Spektrum ab,<br />
das aus ca. 40 Leuten besteht, die aus ihrer Erfahrung<br />
wissen, wo Änderungsbedarfe sind:<br />
Vertreter der Pflegewissenschaft und empirischen<br />
Sozialforschung, Vertreter der Pflegekassen,<br />
Träger und Kommunen, Betroffenenorganisationen,<br />
Leistungserbringer,<br />
Ministeriumsangehörige sowie Vertreter der<br />
Arbeitgeber und der Gewerkschaften.<br />
>> Was sind die wichtigsten Vorschläge für<br />
Neuregelungen?<br />
>>Dr. h. c. Jürgen Gohde: Wir nehmen vor<br />
allen Dingen Abstand vom zeitlichen Aufwand<br />
als Maßstab und kommen zu einem neuen Begriff<br />
der Pflegebedürftigkeit, der die Beeinträchtigung<br />
der Selbstständigkeit des Betroffenen<br />
in den Mittelpunkt stellt, denn diese ist<br />
es, die kompensiert werden muss durch personelle<br />
Hilfe. Hervorzuheben ist auch die stärkere<br />
Berücksichtigung der spezifischen Bedarfe<br />
demenziell Erkrankter. Auch besondere Bedarfe<br />
werden geregelt – es muss insofern nicht wie<br />
bisher auf Härtefallregelungen zurückgegriffen<br />
werden.<br />
>> Welche Ergebnisse gab es bezüglich des auf<br />
dem Pflegebedürftigkeitsbegriff aufbauenden<br />
neuen Begutachtungsverfahrens?<br />
>>Dr. h. c. Jürgen Gohde: Das von uns erarbeitete<br />
Begutachtungsverfahren ist praxistauglich,<br />
reliabel und valide. Mit ihm lässt sich die<br />
Lebenssituation der Betreffenden wesentlich<br />
besser beurteilen als bisher. Auch die teils geäußerte<br />
Sorge, dass die stärkere Einbeziehung<br />
der Problematik der Kommunikationseinschränkung<br />
die somatischen Patienten, also<br />
diejenigen mit körperlichen Beeinträchtigungen<br />
benachteiligen könnten, konnte in der<br />
Evaluationsphase unserer Arbeit widerlegt werden.<br />
Zudem ist das Verfahren auch für Kinder<br />
und deren Bedarfe geeignet. Die Begutachtung<br />
erfolgt mithilfe eines neu entwickelten modularen<br />
Systems, mit dem der Pflegebedarf ermittelt<br />
wird. Das Ergebnis wird in einen Punktwert<br />
überführt und gewichtet. Daraus ergeben<br />
sich fünf Bedarfsgrade von „gering“ bis<br />
„schwer“.<br />
>> Sind Sie zufrieden mit dem Ergebnis des<br />
Beratungsprozesses?<br />
>>Dr. h. c. Jürgen Gohde: Ja, denn wir haben<br />
drei ganz wesentliche Dinge erarbeitet, die einen<br />
deutlichen Unterschied zur bisherigen Lage<br />
ergeben: Der Rückgriff auf den Faktor<br />
Selbstständigkeit anstelle des Faktors Zeit, der<br />
Abschied von den bisherigen Pflegestufen und<br />
schließlich ein umfassendes Verständnis der<br />
Pflegebedürftigkeit. Ich bin sehr zuversichtlich,<br />
dass mit unseren Vorschlägen ein Durchbruch<br />
hin zu einer besseren Wahrnehmung der Betroffenen<br />
und zu einer besseren Pflege erreicht<br />
werden kann.<br />
>> Wieweit decken sich Ihre Ergebnisse eigentlich<br />
mit den bereits bekannten Forderungen<br />
bezüglich der Pflege etwa des KDA und anderer<br />
Verbände? Gab es auch überraschende Ergebnisse<br />
Ihrer Untersuchungen?<br />
>>Dr. h. c. Jürgen Gohde: Man kann zunächst<br />
einmal sagen, dass die gefundene Neudefinition<br />
des Begriffs internationalen Standards<br />
genügt. Überraschend war allenfalls die<br />
<strong>im</strong> Ergebnis wichtige Tatsache, dass unsere<br />
Entscheidungen einst<strong>im</strong>mig erfolgt sind. Alle<br />
sind sich einig. Insgesamt hat der Beirat verstanden,<br />
dass wir vor allem bessere Möglichkeiten<br />
für Menschen mit Demenz schaffen<br />
müssen. Hier liegt ein wirklicher Fortschritt.<br />
>> Wird dieser Konsens aus Ihrer Sicht auch außerhalb<br />
des Beirats eine tragfähige Basis finden?<br />
Markt und Management<br />
>>Dr. h. c. Jürgen Gohde: Wir glauben, dass<br />
jetzt eine Debatte angestoßen werden muss,<br />
die sich damit auseinandersetzt, wie man qualitäts<br />
und würdevoll mit denjenigen umgeht,<br />
die Hilfe brauchen. Diese Diskussion muss in<br />
der Mitte der Gesellschaft geführt werden,<br />
auch die Verbände sind dabei einzubeziehen.<br />
Das Ganze geht nicht von heute auf morgen.<br />
Wir brauchen Zeit, denn es geht ja auch um die<br />
Akzeptanz der gefundenen Regelungen.<br />
>> Muss sich neben der Veränderung der Pflege<br />
aus Ihrer Sicht auch das Gesicht von Pflegehe<strong>im</strong>en<br />
ändern – etwa bezüglich Architektur<br />
und Innenarchitektur?<br />
>>Dr. h. c. Jürgen Gohde: Das ist ganz klar:<br />
Ein Begriff von Pflegebedürftigkeit, der so<br />
stark auf Selbstständigkeit gerichtet ist, verlangt<br />
eine viel stärkere Individualität und Vielfalt.<br />
Wenn dieser Begriff eine solche Wandlung<br />
vollzieht, wird eine Entwicklung eintreten, die<br />
eine stärkere Individualisierung auch in baulicher<br />
Hinsicht nach sich zieht. Ich würde das<br />
sehr begrüßen, denn wir haben heute auch ein<br />
sehr vielfältiges Bild vom <strong>Alter</strong>. Auch Menschen,<br />
die über eine gesetzliche Pflegekasse<br />
versichert sind, brauchen Wohnangebote, die<br />
diesem Anspruch entsprechen. Wenn früher die<br />
Funktion be<strong>im</strong> Bauen <strong>im</strong> Vordergrund stand,<br />
geht es heute eher um neue Wohnkonzeptionen<br />
<strong>im</strong> Pflegehe<strong>im</strong> sowie um die Förderung des<br />
Wohlfühlens der Bewohner. Auch die Kundenorientierung<br />
ist in diesem Bereich stärker geworden<br />
– das wirkt sich auch auf das Bauen<br />
aus.<br />
>> Welche finanziellen Auswirkungen hätte die<br />
Umsetzung Ihrer Vorschläge?<br />
>>Dr. h. c. Jürgen Gohde: Dazu kann ich<br />
derzeit noch nichts Abschließendes sagen. Das<br />
alte und neue System unterscheidet sich grundlegend.<br />
In der Berechnung zeigen sich bezüglich<br />
Mehr oder Minderausgaben bei Sozialhilfe<br />
und Pflege. Klar ist, dass sich die demografische<br />
Entwicklung auf jeden Fall auf die Finanzierung<br />
der Pflege kostenerhöhend auswirken<br />
wird. Der Beirat berechnet derzeit, wie die<br />
neuen Schwellenwerte sich auswirken. Jetzt<br />
kursierende Zahlen kranken daran, dass sie<br />
auf der bisher bestehenden Basis beruhen, sie<br />
sind daher mit Vorsicht zu genießen. Im Mai<br />
werden wir dazu entsprechende Aussagen veröffentlichen.<br />
>> Herr Dr. Gohde, herzlichen Dank für das<br />
Gespräch.<br />
kontakt:<br />
Bundesministerium für Gesundheit<br />
www.bmg.bund.de<br />
medAmbiente 2 · 2009 7