Digitalisierung des Wissens - VolkswagenStiftung
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„Holocaust-Materialien“ zu bleiben: Hier werden<br />
Namen über semantische Annotationen mit stan<strong>des</strong>amtlichen<br />
Einträgen abgeglichen, Deportationslisten<br />
mit Nummern der Opfer verknüpft und<br />
Familien, die über große geografische Distanzen<br />
auseinandergerissen wurden, wieder in ihren Verwandtschaftsverhältnissen<br />
aufgezeigt. Erst Vernetzung,<br />
Kontextualisierung und Visualisierung<br />
also bringen digitalisierte Objekte eindrucksvoll<br />
„zum Sprechen“. So entstehen – in diesem Beispiel<br />
– aus einzelnen Objekten von Sammlungen reale<br />
Lebensschicksale mit einer bis dahin nicht da<br />
gewesenen Wirkungsintensität.<br />
Die <strong>Digitalisierung</strong> von Informationen kann<br />
folglich die Grundlage für neue Erkenntnisse<br />
schaffen und darüber hinaus auch die nichtakademische<br />
Öffentlichkeit mobilisieren. So habe<br />
sich nach Aussage Gertners vor allem durch die<br />
<strong>Digitalisierung</strong> und anschließende Bereitstellung<br />
Norbert Lossau<br />
Norbert Lossau, Jahrgang<br />
1962, studierte<br />
Finnisch-ugrische<br />
Philologie und Skandinavistik<br />
an den Universitäten<br />
Bonn und Göttingen;<br />
er wurde 1991<br />
in Göttingen promoviert.<br />
Dem Referendariat <strong>des</strong> wissenschaftlichen<br />
Bibliotheksdienstes folgten ab 1996<br />
Tätigkeiten an der Niedersächsischen Staatsund<br />
Universitätsbibliothek (SUB) Göttingen<br />
als Gründungsleiter <strong>des</strong> dortigen <strong>Digitalisierung</strong>szentrums,<br />
2001 als Gründungsleiter<br />
der Oxford Digital Library an der University<br />
of Oxford, Großbritannien. 2002 wechselte<br />
Norbert Lossau als Leitender Bibliotheksdirektor<br />
an die Universität Bielefeld, 2006<br />
kehrte er an die SUB Göttingen zurück, deren<br />
Direktor er seitdem ist. Im Februar 2011 folgte<br />
von Fotos im Internet in dem Jahrzehnt nach<br />
der Jahrtausendwende die Zahl der identifizierten<br />
Opfer <strong>des</strong> Holocaust von zwei auf fast vier<br />
Millionen nahezu verdoppelt (www.vosizneias.<br />
com/69365/2010/11/22/jerusalem-yad-vashemnearly-two-thirds-of-jewish-holocaust-victims-identified).<br />
Die Einbeziehung interessierter Laien in<br />
die Forschung etwa bei der Datensammlung und<br />
Annotation ist ein Trend, der mit der Entwicklung<br />
für jedermann verfügbarer mobiler Endgeräte und<br />
einfach zu bedienender Applikationen („Apps“)<br />
weiter zunehmen wird.<br />
Informationen werden von überall her eingespeist;<br />
das Ziel – mehr Wissen über das Leben<br />
Ein überzeugen<strong>des</strong> Beispiel hierfür ist die Encyclopedia<br />
of Life, die ebenfalls in globaler Perspektive<br />
das Thema Biodiversität fokussiert. Bereits heute<br />
die Ernennung zum Honorarprofessor an der<br />
Humboldt-Universität Berlin. Seit Anfang 2013<br />
ist er Vizepräsident der Universität Göttingen.<br />
Lossau beschäftigt sich mit neuen Paradigmen<br />
<strong>des</strong> Publizierens und Arbeitens mit digitaler<br />
Information. Sein Interesse gilt dabei insbesondere<br />
Open Access und Digital Humanities/<br />
eResearch sowie dem Aufbau nationaler und<br />
internationaler Forschungs- und Informationsinfrastrukturen.<br />
Professor Dr. Norbert Lossau<br />
ist Mitglied zahlreicher nationaler und internationaler<br />
Gremien, so im Ausschuss für wissenschaftliche<br />
Bibliotheken und Informationsversorgungssysteme<br />
der Deutschen Forschungsgemeinschaft,<br />
im Vorstand der Europäischen<br />
<strong>Wissens</strong>chaftlichen Bibliotheken, in der Arbeitsgruppe<br />
„Digitale Information in Forschung und<br />
Lehre“ der Hochschulrektorenkonferenz und der<br />
„G8 + O5 Working Group on Data“.<br />
wirken mehr als 60.000 Mitglieder daran mit,<br />
diesen Zugang zum Wissen über das Leben auf<br />
der Erde permanent auszubauen. Getragen wird<br />
das Angebot unter anderem von so renommierten<br />
Institutionen wie der Harvard University und den<br />
Smithsonian Institutes der Vereinigten Staaten<br />
von Amerika (http://eol.org). <strong>Wissens</strong>chaft und<br />
Gesellschaft bewegen sich durch die Bildung solch<br />
virtueller Communities stärker aufeinander zu.<br />
Eine neue Öffentlichkeit entsteht, die über aktive<br />
Teilhabe an wissenschaftlichen Aktivitäten das<br />
Bewusstsein für die Herausforderungen unserer<br />
Zeit tiefer in die Gesellschaft hineinträgt.<br />
Dass im Zuge der <strong>Digitalisierung</strong> verteilte <strong>Wissens</strong>bestände<br />
und Datenquellen virtuell zusammenfinden,<br />
fördert zugleich die Bildung überinstitutioneller,<br />
nationaler und internationaler<br />
Forschungsverbünde. Das Aktionsfeld Biodiversität<br />
ist ein Beispiel, Vergleichbares gilt bei der Dokumentation<br />
bedrohter Sprachen, in der Archäologie<br />
oder der Seuchenbekämpfung. Damit wird die<br />
Entwicklung umfassend kooperierender <strong>Wissens</strong>chafts-Communities<br />
weiter vorangetrieben; man<br />
kennt das bereits von der Großgeräte-Forschung<br />
etwa in der Teilchenphysik (CERN und andere wissenschaftliche<br />
Anlagen), in der Astrophysik (Riesenteleskopanlagen<br />
in Chile oder Südafrika) oder<br />
vom Einsatz der deutschen Forschungsschiffe in<br />
der Ozean-, Polar- und Tiefseeforschung.<br />
Mit der <strong>Digitalisierung</strong> <strong>des</strong> <strong>Wissens</strong> über alle<br />
<strong>Wissens</strong>chaftsdisziplinen hinweg entstehen neue<br />
Anforderungen an Forscher, Infrastruktureinrichtungen<br />
und Institutionen. Sie reichen weit<br />
über die Langzeitarchivierung, Datenbeschreibungs-<br />
und informationstechnologische Aspekte<br />
hinaus. <strong>Wissens</strong>chaftler entwickeln neue Formen<br />
<strong>des</strong> Publizierens; sie reichen von digitalen<br />
Editionen in den Geisteswissenschaften bis zur<br />
weitgehend offenen Publikation von Forschungsdaten.<br />
Damit einher gehen neue Zitationsformen,<br />
Verbreitungsprinzipien wie Open Access und die<br />
Weiterentwicklung klassischer Impact-Bewertungen.<br />
Um die teilweise kostenintensiv erstellten<br />
„Digitalisate“ beziehungsweise genuin digitalen<br />
Daten über einzelne Forschungsfragestellungen<br />
hinaus nutzen zu können, müssen Standards<br />
bei der Datenbeschreibung („Metadaten“) und<br />
in der technischen Bereitstellung (zum Beispiel<br />
Zugangsprotokolle) eingehalten werden. Das<br />
heißt alles in allem: Der traditionell geschlossene,<br />
zumeist einzelnen Vorhaben verhaftete Zyklus <strong>des</strong><br />
Forschungsprozesses wird aufgebrochen, der <strong>Wissens</strong>chaftler<br />
selbst wiederum wird zum Anbieter<br />
von <strong>Wissens</strong>ressourcen.<br />
Darüber hinaus darf nicht vergessen werden,<br />
dass im Zuge der <strong>Digitalisierung</strong> von Informationsbeständen<br />
auch Urheberrechts-, Eigentums-,<br />
Datenschutz- und Zugangsrechtefragen sowie<br />
ethische Aspekte zum Tragen kommen. Sie sind<br />
von jedem zu beachten, der Inhalte im Internet<br />
anbietet. Wem beispielsweise „gehören“ die digitalen<br />
Abbildungen von Grabungsfunden, wer hat<br />
das „Recht“, diese im Internet bereitzustellen? Was<br />
ist zu beachten bei der digitalen Bereitstellung<br />
von ethnologischen Sammlungen, wie sie auch an<br />
Universitäten zu finden sind? Wo sind Grenzen zu<br />
ziehen bei der Veröffentlichung von Erhebungen<br />
zu bestimmten Sozialfaktoren, die die Entstehung<br />
gewisser Krankheiten vermeintlich begünstigen?<br />
Wer entscheidet, mit welchen Objekten <strong>des</strong> kulturellen<br />
Erbes die Ethnie eines Mehrvölkerstaats<br />
Im Zuge der <strong>Digitalisierung</strong><br />
finden verteilte<br />
<strong>Wissens</strong>bestände<br />
und Datenquellen<br />
virtuell zusammen.<br />
Dies fördert zugleich<br />
die Bildung überinstitutioneller,<br />
nationaler<br />
und internationaler<br />
Forschungskooperationen.<br />
Die Bemühungen<br />
zur Dokumentation<br />
bedrohter<br />
Sprachen (siehe auch<br />
Beitrag ab Seite 24)<br />
sind eines von vielen<br />
Beispielen dafür.<br />
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