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Digitalisierung des Wissens - VolkswagenStiftung

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Der Generalsekretär<br />

der Volkswagen-<br />

Stiftung Dr. Wilhelm<br />

Krull moderierte die<br />

Diskussion bei dem<br />

bislang größten internationalenFachkongress<br />

zum Thema.<br />

Unterstützt von der <strong>VolkswagenStiftung</strong>, wurde im Juni 2012 in Hamburg ein „Regionalverband Digital Humanities Deutschland<br />

(DHD)“ unter dem Dach der Association for Literary and Linguistic Computing gegründet. Die Teilnehmer der Veranstaltung diskutierten<br />

die vielfältigen Auswirkungen computergestützter Verfahren speziell auf geisteswissenschaftliches Arbeiten.<br />

Bleiben wir bei der möglichen Verlustseite durch die<br />

Digital Humanities. Teilen Sie die Befürchtung, dass<br />

der Literaturwissenschaftler der Zukunft nicht mehr<br />

„lesen“, also verstehen, interpretieren kann? Oder ist<br />

das zu kulturpessimistisch?<br />

Über die digitale Welt kann man nicht reden,<br />

ohne dass die kulturphilosophischen Gemeinplätze<br />

einrasten. Nur wer viel liest, hat ein Wissen<br />

über Texte; nur wer viele Bücher studiert hat,<br />

wird eine präzise Textanalyse erarbeiten können:<br />

ob mit oder ohne Statistik. Das gilt weiterhin.<br />

Niemand nimmt ja an, dass Astrophysiker sich<br />

nicht mehr für Sterne und das Weltall interessieren,<br />

nur weil dort digital gestützte Methoden<br />

untrennbarer Bestandteil wissenschaftlichen<br />

Arbeitens sind. So wie dort genaue Beobachtung<br />

und Kenntnisse zählen, so ist das auch in einer<br />

geisteswissenschaftlichen Disziplin wie der Literaturwissenschaft<br />

der Fall. In einem historisch<br />

derart (selbst-)bewussten Fach wie der Klassischen<br />

Philologie arbeitet heute fast jeder mit den<br />

digitalen Ausgaben, Wörterbüchern und Übersetzungen<br />

der „Perseus Digital Library“. Und das<br />

Ergebnis ist, dass mehr klassische Texte gelesen<br />

werden – und zwar schon von den Studierenden<br />

in den ersten Semestern.<br />

Die Nachfrage etwa nach der digitalen Mozart-<br />

Ausgabe (http://dme.mozarteum.at/DME/main/<br />

index.php?l=) ist weltweit so groß, dass der Server<br />

die Hundertausenden von Anfragen oft nicht<br />

abarbeiten kann. Akademie-Vorhaben zu historischen<br />

Inschriften haben – kaum dass sie im Netz<br />

zugänglich sind – Tausende von Abfragen. Vorher<br />

lagen die Nachfragen gerade einmal im zweistelligen<br />

Bereich. Die digitale Welt adressiert nicht<br />

mehr die Wenigen, wir reden hier über potenziell<br />

mehr als zwei Milliarden Leser. Sie sind die Herausforderung,<br />

der wir uns stellen müssen, nicht<br />

die Wiederholung der Urteilsroutinen aus der<br />

Tradition der deutschen Kulturphilosophie.<br />

Werden sich auch Ihre Tätigkeit und Ihr Selbstverständnis<br />

als Literaturwissenschaftler ändern?<br />

Ja, wenn auch nur langsam. An der Art und Weise,<br />

wie sich die Sprachwissenschaft zur modernen<br />

Linguistik wandelt, kann mein Fach, die Literaturwissenschaft,<br />

ganz gut studieren, wie sich<br />

dieser Wandel vollziehen dürfte. Dabei ist allerdings<br />

zu bedenken, dass der disziplinäre Umbau<br />

nur zu einem Teil von der digitalen Modernisierung<br />

angetrieben wird. Min<strong>des</strong>tens ebenso wird<br />

er von den veränderten Bildungsvorstellungen<br />

in unserer Gesellschaft forciert, den anderen<br />

Medien, dem demografischen Wandel oder auch<br />

der Internationalisierung unserer Studenten, die<br />

in den nächsten Jahren spürbar die Geisteswissenschaften<br />

erreichen wird. Wir können nicht<br />

mehr als die Hüter <strong>des</strong> kulturellen Erbes auftreten,<br />

wie es noch eine Fachtradition tun konnte,<br />

die selbstverständlich davon ausging, dass ohne<br />

Reflexion auf das Mittelalter oder auf Goethe die<br />

deutsche Nation nicht weiß, wer sie ist. Wir sind<br />

auch nicht die Pfleger <strong>des</strong> „seltenen Sinns für die<br />

Wenigen“ – in Anlehnung an Stendhals berühmte<br />

Widmung „to the happy few“, wie es immer<br />

noch im Fach kultiviert wird. Aber noch dominiert<br />

dieses Selbstverständnis.<br />

Wenn Bücher, Bilder, Filme und Töne in Zukunft „nur<br />

noch“ Daten sind – gibt es ein Szenario für interdisziplinäres<br />

Arbeiten?<br />

Daten sind ja nicht Informationen und als pure<br />

Daten auch noch nicht etwas Verstandenes. Aber<br />

als digitale Daten können sie auf einer noch vor<br />

Kurzem kaum vorstellbaren Weise miteinander<br />

verknüpft werden – und das in einem Maßstab,<br />

den wir uns ebenfalls kaum vorstellen können.<br />

Das verändert das Verhältnis der Fächer wie<br />

ihrer Objekte zueinander. Passagen aus der<br />

Musik lassen sich mit Passagen aus der Literatur<br />

vergleichen, um etwa einen bestimmten romantischen<br />

Duktus zu identifizieren; zu Beginn <strong>des</strong><br />

19. Jahrhunderts vom Protodarwinisten Johann<br />

Friedrich Blumenbach niedergeschriebene Beobachtungen<br />

zum Verhalten von Primaten können<br />

mit zeitgenössischen anderen Naturbeschreibungen<br />

verlinkt und auch mit heutigen Betrachtungen<br />

verknüpft werden. Um die Namen der<br />

Mit den vielfältigen Auswirkungen computergestützter<br />

Verfahren speziell auf die Geisteswissenschaften<br />

befasste sich im Juni 2012 in<br />

Hamburg der bislang größte internationale<br />

Fachkongress zu den „Digital Humanities“.<br />

Grundlegen<strong>des</strong> Ziel sei es, die wissenschaftliche<br />

Community der digitalen Geisteswissenschaften<br />

in Deutschland international<br />

sichtbar zu machen, sagte der Organisator <strong>des</strong><br />

Kongresses Professor Dr. Jan Christoph Meister<br />

von der Universität Hamburg.<br />

Als eines der zentralen Themen wurde erörtert,<br />

wie sich die digitalen Medien für die Aufzeichnung<br />

und statistische Auswertung von<br />

Gesprächen, Texten und Filmen einsetzen lassen.<br />

Auch diskutierten die gut 500 Teilnehmer<br />

über unmittelbare Effekte der <strong>Digitalisierung</strong><br />

von Daten: etwa die im Vergleich zu analogen<br />

sechs Millionen ermordeten Juden zu ermitteln,<br />

werden heute schon Steuerlisten und KZ-Listen,<br />

Bilddatenbanken und Tagebücher, Verzeichnisse<br />

von Gedenkstätten und Aufzeichnungen von<br />

Überlebenden miteinander verknüpft. Und damit<br />

ist nur ein kleiner Ausschnitt einer neuen disziplinären<br />

Struktur umrissen, die natürlich auch<br />

die Grenze zu Fächern wie der Bioinformatik<br />

umgreift. Ein neues Szenario ist im Entstehen<br />

begriffen; es liegt an uns, es zu gestalten.<br />

Bücher waren in der Vergangenheit mehr als Buchdeckel,<br />

zwischen denen Geschichten schlummern – in<br />

Büchern hat die Menschheit ihr Wissen gespeichert<br />

und vor allem geordnet. Wie wird das in Zukunft<br />

sein, wenn unser Wissen in Datenbanken ruht?<br />

Es gibt Bücher, und es gibt Datenbanken. Wie<br />

so oft bei neuen Medien treten diese neben<br />

die alten. Daher ändert sich auch die Zahl der<br />

intensiven Leser seit Jahrzehnten nur unwe-<br />

Digitale Geisteswissenschaften in Deutschland etabliert<br />

Verfahren enorm gestiegene Speicherkapazität.<br />

Entsprechend waren digitale Archive und<br />

der Umgang mit ihnen ein wichtiges Thema<br />

– und nicht zuletzt gerade daraus abgeleitet,<br />

dass sich nach Meinung aller im Zuge der<br />

<strong>Digitalisierung</strong> neue geisteswissenschaftliche<br />

Forschungsfelder auftun würden.<br />

Unterstützt von der <strong>VolkswagenStiftung</strong>, wurde<br />

im Vorfeld der Veranstaltung ein „Regionalverband<br />

Digital Humanities Deutschland<br />

(DHD)“ unter dem Dach der Association for<br />

Literary and Linguistic Computing gegründet.<br />

Der DHD wird als regionale Organisation<br />

sowohl Forum als auch formelle Interessenvertretung<br />

sein für Forscherinnen und Forscher,<br />

die sich im deutschsprachigen Raum in<br />

Forschung und Lehre im Arbeitsfeld der Digital<br />

Humanities engagieren. cj<br />

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