Digitalisierung des Wissens - VolkswagenStiftung
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Geisteswissenschaftliches Arbeiten ändert sich rapide. Dank Internet hat<br />
der Forscher Zugang zu unzähligen digitalisierten Büchern und Archivalien<br />
in Bibliotheken, Museen und Archiven – von den riesigen und ständig<br />
wachsenden Datenbanken der Alltagskultur etwa auf Facebook ganz zu<br />
schweigen. Doch die Entwicklung geht noch weiter. In den „Digital Humanities“<br />
werden verstärkt Computerprogramme zur Analyse geisteswissenschaftlicher<br />
Forschungsobjekte eingesetzt. Seit Juli 2011 wird an der<br />
Universität Göttingen mit Mitteln aus dem Niedersächsischen Vorab der<br />
<strong>VolkswagenStiftung</strong> das „Göttingen Center for Digital Humanities (GCDH)“<br />
aufgebaut. Professor Dr. Gerhard Lauer ist der geschäftsführende Direktor.<br />
Mit ihm sprach Vera Szöllösi-Brenig.<br />
Herr Lauer, Sie sind Literaturwissenschaftler heute.<br />
Welche Fragen wird sich der Literaturwissenschaftler<br />
der Zukunft stellen, was wird er anders machen<br />
als bislang?<br />
Noch vor wenigen Jahrzehnten war es aufregend,<br />
eine Bibliografie mit einem Telefonkoppler automatisiert<br />
durchsuchen zu können. Heute ist es<br />
Alltag, Bibliothekskataloge überall auf der Welt<br />
mittels Computer zu durchleuchten. Und auf digitale<br />
Editionen wird wie selbstverständlich zurückgegriffen,<br />
als hätte es diese immer schon gegeben.<br />
In den nächsten Jahren wird das alles nicht nur<br />
für Texte möglich sein, sondern auch für Bilder,<br />
Filme und Objekte – beispielsweise wird gerade<br />
eine Technologie erprobt, wie sich Informationen<br />
aus Fernsehsendungen, die in den Archiven der<br />
Sender lagern, für an bestimmten Inhalten interessierte<br />
Nutzer via Internet bereitstellen lassen. In<br />
Metakatalogen wie der Europeana werden heute<br />
schon – ein anderes Beispiel – unterschiedliche<br />
Sammlungen zusammengeführt und Bilder und<br />
Texte miteinander verknüpft.<br />
Das alles ändert die Relationen, in denen wir kulturelle<br />
Hervorbringungen wahrnehmen und wissenschaftlich<br />
bearbeiten. Wenig beachtete Werke,<br />
Spezialsammlungen oder Verbindungen zwischen<br />
Kunst-, Musik- und Literaturgeschichte treten<br />
plötzlich hervor. Das verschiebt die vertrauten<br />
kulturellen Hierarchien und Kanones. Schließlich<br />
kommen neue Methoden hinzu, die bislang nicht<br />
zum Inventar <strong>des</strong> Faches zählen – etwa Statistik<br />
oder Stylometrie. Sie erlauben Untersuchungen,<br />
die noch vor Kurzem als unmöglich gelten mussten.<br />
Weil immer mehr Literaturwissenschaftler<br />
und -wissenschaftlerinnen solche Methoden und<br />
Ansätze verwenden, gehe ich davon aus, dass die<br />
<strong>Digitalisierung</strong> das Gegenstandsfeld nicht nur in<br />
den Literaturwissenschaften nachhaltiger verändern<br />
wird, als dies gegenwärtig vielen von uns<br />
bewusst ist.<br />
Spötter behaupten, dass die Literaturwissenschaftler<br />
in Zeiten der „Digital Humanities“ zum Wörterzählen<br />
verkommen ...<br />
Zum einen sind die Digital Humanities aus der<br />
ganz klassischen Auseinandersetzung mit einzelnen,<br />
zumeist hochkanonischen Werken hervorgegangen.<br />
Die Edition der Parzival- oder Faust-Handschriften<br />
sind dafür Beispiele, in der Musik die<br />
digitale Mozart-Ausgabe, in der Kunstgeschichte<br />
die Leonardo da Vinci-Edition, in der <strong>Wissens</strong>chaftsgeschichte<br />
Darwin online, in der Theologie<br />
die Thomas-Ausgabe. Zum anderen aber urteilen<br />
solche Spötter nicht nur in Unkenntnis der jahrzehntelangen<br />
Auseinandersetzung mit Werken,<br />
sondern ebenso in Unkenntnis, was Datenmodellierung,<br />
formale Modelle und Statistik zu leisten<br />
vermögen – eine typische Überheblichkeit mancher<br />
Geisteswissenschaftler gegenüber den in<br />
den Naturwissenschaften gängigen Methoden.<br />
Niemand nehme schließlich an, hält Lauer kritischen Geisteswissenschaftlern entgegen, dass<br />
etwa ein Astrophysiker sich nicht mehr unmittelbar für Sterne und Weltall interessiere, nur weil<br />
digital gestützte Methoden zentraler Teil seines wissenschaftlichen Arbeitens geworden sind.<br />
Wörterzählen gehört zu den sinnvollen Methoden<br />
der Textwissenschaften. Man kann mit intelligent<br />
konzipierten Wortfrequenzlisten die stilistische<br />
Besonderheit eines Heinrich von Kleist ermitteln<br />
oder die Unterschiedlichkeit von weiblichen und<br />
männlichen Autoren zu einer historischen Zeit<br />
bestimmen. Diese nicht-hermeneutischen Methoden<br />
sind in der Linguistik akzeptierte Verfahren,<br />
in der Literaturwissenschaft werden sie es in den<br />
nächsten Jahren werden.<br />
Wenn ich Sie recht verstehe, dann wird künftig das<br />
einzelne Buch eines großen Autors wie Goethe oder<br />
Schiller für den Literaturwissenschaftler zunehmend<br />
an Bedeutung verlieren. Was bedeutet das für das<br />
Fach? Tragen Sie dadurch nicht zum Verlust <strong>des</strong><br />
Kanons bei?<br />
Der Kanon – darunter verstehen wir ja zusammengefasst<br />
jene Werke der Literatur, die herausgehobenen<br />
Wert haben sollen – wird sich<br />
ändern, wie er sich schon immer geändert hat.<br />
Es wird weiterhin die Ausgaben der großen<br />
Werke geben, aber dazu kommt das, was man<br />
mit dem Klassischen Philologen Gregory Crane<br />
die „million books situation“ nennen kann.<br />
Wir können erstmals in der Fachgeschichte der<br />
„Trotz aller digitalen Möglichkeiten:<br />
Nur wer viel liest, hat ein<br />
Wissen über Texte; nur wer viele<br />
Bücher studiert hat, wird eine<br />
präzise Textanalyse erarbeiten<br />
können“, sagt Gerhard Lauer.<br />
Literaturwissenschaften nicht nur eine überschaubare<br />
Zahl von ein paar hundert Büchern<br />
wissenschaftlich bearbeiten, sondern Millionen<br />
Bücher, wie sie in den Korpora etwa von Google<br />
Books, vor allem aber in den digitalisierten<br />
Buch- und Drucksammlungen der Bibliotheken<br />
bereitliegen.<br />
Jetzt sehen wir zum Beispiel, dass im Jahr 1809<br />
nicht nur Goethes „Wahlverwandtschaften“<br />
erschienen sind, sondern rund hundert weitere<br />
deutsche Romane. Wir können das mit den<br />
Korpora der anderen europäischen Literaturen<br />
vergleichen und besser ermitteln, welches die<br />
Besonderheiten etwa der deutschen im Unterschied<br />
zur französischen, italienischen oder englischen<br />
Literaturgeschichte sind. Das ändert die<br />
Gewichte uns vertrauter Werke und verschiebt<br />
den Kanon. Aber das Ergebnis wird nicht sein,<br />
dass alle Werke gleich grau sind. Im Gegenteil:<br />
Wir werden vielfach erst dann genauer verstehen,<br />
was die Einzigartigkeit etwa der „Wahlverwandtschaften“<br />
ausmacht. Nur Laien glauben,<br />
dass Statistik alles nivelliert. Das Gegenteil ist<br />
richtig: Es kommt auf die Unterschiede an, also<br />
auf Eigenheiten von Texten, die letztlich die<br />
ihrer Autoren und Leser sind.<br />
54 Impulse 2013 55