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IZ P olicy P apers - instytut zachodni w poznaniu - Poznań

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54<br />

Hubert Orłowski<br />

Indem er die „kulturelle Substanz“ der verlorenen Provinzen einfordert,<br />

stützt sich Günter Grass unbewusst auf mnemotechnische Kategorien und<br />

Prozeduren, die Jan Assmann in seiner Interpretation des kulturellen Ge-<br />

dächtnisses anbietet. Ihm zufolge soll dieses eine einzige Grundfunktion<br />

erfüllen: Sinn zu vermitteln. „Das kulturelle Gedächtnis richtet sich auf<br />

Fixpunkte in der Vergangenheit. […] Vergangenheit gerinnt hier vielmehr zu<br />

symbolischen Figuren, an die sich die Erinnerung heftet. […] Das kulturelle<br />

Gedächtnis zählt nicht die faktische, sondern nur die erinnerte Geschichte.“ 20<br />

Grass fordert mithin, man solle sich um diese „institutionalisierte Mnemotechnik“<br />

kümmern.<br />

In diesem Kontext sei eine ganz unironische Frage gestellt: Kann man (bereits)<br />

von einer Vererbung der Deprivation sprechen, ähnlich wie der Status<br />

des Vertriebenen von Generation auf Generation weitervererbt wird? Denn<br />

wenn jeder von vertriebenen Eltern Abstammende selbst ein Vertriebener ist,<br />

haben wir es hier nicht mit Antizipationsbegriffen, mit Erwartungsbegriffen<br />

zu tun?<br />

Deprivation [Poln. deprywacja] wird von Wörterbüchern definiert als<br />

„geistiger Zustand, der eintritt, wenn ein wichtiges menschliches Bedürfnis<br />

– biologischer, sensorischer, emotionaler, kultureller oder gesellschaftlicher<br />

Art – nicht erfüllt wird: Das Gefühl einer relativen Deprivation kann auch<br />

dann auftreten, wenn die Lebenssituation sich nicht ändert oder sich sogar<br />

verbessert, die bei anderen auftretenden Änderungen jedoch als vorteilhafter<br />

eingeschätzt werden.“ 21 Dieser geistige Zustand schließt das Gefühl des Verlustes<br />

eines für den Menschen und seine Gemeinschaften wichtigen emotionalen<br />

Biotops, das Gefühl eines gebrachten Opfers mit ein. Er realisiert sich<br />

durch Sprache, nicht außerhalb ihrer, nicht außerhalb der bestehenden Welt<br />

aus Begriffen, Metaphern und Formeln. Daher hat es erhebliche hermeneutische<br />

Konsequenzen, wenn man sich klar macht, dass die Schlüsselbegriffe<br />

der Deprivation – also „Heimat“ und „Vertreibung“ – keine gottgegebenen<br />

Bezeichnungen, sondern Menschenwerk sind. Ein Faktor mit kaum zu überschauenden<br />

Folgen ist daher allein die Terminologie im Umkreis des Schlüsselbegriffs<br />

„Vertreibung“. In den verschlungenen politischen Debatten der<br />

unmittelbaren Nachkriegszeit musste jeder, der sich auf dieses Gebiet begab,<br />

notwendigerweise vor der deutschen Staatsräson Rechenschaft ablegen; denn<br />

der Schlüsselbegriff „Vertreibung“ war schließlich sogar durch die Verfassung<br />

der Bundesrepublik (Art. 116.1) legitimiert! Heute gibt es auch in Polen eine<br />

verbindliche offizielle Übersetzung dieses Terminus: uciekinier [Flüchtling],<br />

wypędzony [Vertriebener]; 22 daher gewinnen alle Konnotationen dieses Begriffs<br />

samt seiner emotionalen Aura die Kraft deutlicher referenzieller Bezüge.<br />

20 J. A s s m a n n, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in<br />

frühen Hochkulturen, München 1999, S. 52.<br />

21 Praktyczny słownik współczesnej polszczyzny, hg. v. H. Z g ó ł k o w a, <strong>Poznań</strong> 1996, Bd. 8,<br />

S. 276.<br />

22 Vgl. die polnische Übersetzung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland: Ustawa<br />

Zasadnicza (Konstytucji) Republiki Federalnej Niemiec, <strong>Poznań</strong> 1997, S. 267.<br />

<strong>IZ</strong> P<strong>olicy</strong> P<strong>apers</strong> • nr 1(II) • www.iz.poznan.pl

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