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ZUM PARADIGMENWECHSEL DER MUSIK IM 20 ... - leo-dorner.net

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dessen akustische Permutierbarkeit. Wie nur durch die synthetische Kraft des Wortes als<br />

spontaner Formganzheit, die sich ihre Teile als bezogene Momente ihrer Wortgestalt<br />

integriert, die unmittelbar verständliche Gestalt des Wortes im Rahmen einer redefähigen<br />

Sprache und ihrer Geschichte entsteht, ebenso wird ein musikalisches Intervall nur durch<br />

Vermittlung einer syntaktischen Beziehung ein unmittelbar verständliches Ausdrucksmittel<br />

im Rahmen einer in wirklich sprechenden Formen redenden Musik sein können. 24<br />

Weisen uns musikalische Analysen mit kombinatorischer und statistischer Akribie die<br />

Reihenzugehörigkeit aller Einzeltöne in einem dodekaphonen Werk nach, so geschieht dies<br />

unter der unreflektierten Annahme, die Reihe und ihre Transformationen seien im<br />

dodekaphonen Werk in analoger Funktion anwesend wie tonales Tonsystem und Tonsatz im<br />

tonalen Werk. Wird nun zugegeben, dass fehlerhafte Abweichungen im komponierten<br />

Reihenkontext beim unmittelbaren Hören nicht falsifiziert werden können, pflegt man die<br />

Voraussetzung, Dodekaphonie sei ein Tonalitätsersatz, stillschweigend zu verlassen, um die<br />

entgegengesetzte Rechtfertigungsfigur zu bemühen: die Reihenanalyse lege lediglich<br />

verborgenes Handwerk frei, das den Hörer nichts angehe, da sich das Eigentliche und Große,<br />

das Neue und neu Musikalische des dodekaphonen Werkes als motivisch-thematisches<br />

Entwickeln und Beziehen und als dessen unmittelbare Ausdruckskraft ereigne. Eine<br />

Annahme, welche die vollzogene Trennung von Material und Form unreflektiert anerkennt<br />

und den Kontingenzbruch zu ignorieren versucht.<br />

An der Durchführung einer Sinfonie Beethovens müssen deren modulatorische Prozesse nicht<br />

als solche nominatorisch nachvollzogen werden, um ihrer ästhetischen Größe und formalen<br />

Stimmigkeit teilhaftig zu werden; aber erstens ist jede syntaktische Abweichung von der<br />

intendierten Normgestalt des Werkes unmittelbar zu falsifizieren und zweitens ist jede<br />

Motivgestalt durch die syntaktisch vorbestimmte Formgestalt des Materials von belangbarer<br />

Verbindlichkeit, durch welche der syntaktisch bestimmten Tonalität in jedem tonalen Werk<br />

ein durch konkrete Vermittlung unmittelbarer Sprachcharakter zukommt. Das dodekaphone<br />

Motiv hingegen besitzt lediglich eine negativ-regulative - Tonalität ausschließende - sowie<br />

eine kontingente - syntaktisch inkonsistente Gesten erzeugende - Beziehung ihres<br />

harmonisch-melodischen Toninhaltes.<br />

Gegen die These der musikalischen Beziehungslosigkeit von Tönen, Intervallen und Motiven<br />

im dodekaphonen Reihenkontext, wurde früh schon von den Vertretern der Schönberg-Schule<br />

der Einwand erhoben, dass es einer vermittelten Beziehung unter Tonhöhen in herkömmlich<br />

tonaler Konsistenz nicht mehr bedürfe, weil eben die motivisch-thematische Arbeit, kunstvoll<br />

geworden wie nie zuvor, das neue synthetische Prinzip sowohl im Material wie im Werk sei,<br />

und ein von Werk zu Werk neu ausgesonnenes Prinzip noch dazu. 25<br />

24 Ohne diese Vermittlung durch universale Syntaxen taugt vorerst jedes Material nur zu kontingentem Gestus,<br />

worin sich die nominalistisch freigesetzte Phantasie ihre neue Freiheit bestätigt wie zugleich im Spiegel einer<br />

Unbelangbarkeit erblickt, die sie gegen Gegenargumente zu immunisieren scheint. Komponieren wird zum<br />

Kampf um noch unverbrauchte Beschwörungstechniken in kontingentem Material. Schein vom Schein<br />

geworden, dünkt sich das Kontingente als Vorschein künftiger großer Musiksprache und Kunstmusik; die<br />

gesellschaftliche Marginalisierung dieses Anspruchs gehe Lasten einer noch unverständigen Gegenwart und<br />

ihrer herkömmlichen Musikauffassung. Die Geschichte hinke hinterher, nicht das Denken und Tun moderner<br />

Kunstmusik.<br />

25 Die Fetischisierung des motivisch-thematischen Denkens als leitendem Komponiermittel folgte im<br />

Selbstverständnis der Schönberg-Schule konsequent aus der Inthronisation von Zusammenhang und Fasslichkeit<br />

als ästhetischem Endzweck des Werkes. Durch musikalisches Denken, in dem sich aus einem „musikalischen<br />

Gedanken“ alle anderen erzeugen und vermitteln sollten - die verabsolutierte Formalisierung von Beethovens<br />

vermeintlichem actus purus - sollte nicht nur der musikgeschichtlich unumgehbare Auftrag zu stets novitärer<br />

Werkindividualität einlösbar, sondern auch das Gesetzes- und Regelwerk einer neuen universalen Sprache von<br />

Musik begründbar sein. Die Suche nach einer neuen Harmonik und Polyphonie, die in den Werken als<br />

verbindliche Syntax zu vernehmen sei, war noch als musikgeschichtlicher Auftrag angenommen.<br />

Aber die Mutation der Musik zu einer von gänzlich musikalischem Denken wurde erkauft durch die<br />

Pseudomorphose der musikalischen Kunst an Philosophie und Wissenschaft. Das Werk strebte nach Gleichheit

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