ZUM PARADIGMENWECHSEL DER MUSIK IM 20 ... - leo-dorner.net
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vom tonalen Regelwerk funktionaler Harmonik zu entrichten war: die musikalische Phantasie<br />
war in ein Land vorgedrungen, in dem ohne Grammatik oder in bewusster Antigrammatik zur<br />
bisherigen gesprochen wurde. Wohl erstmals in der Geschichte der Musik mussten nun die in<br />
einem klingenden Artefakt verwendeten Tonbeziehungen - vertikal und horizontal,<br />
harmonisch und melodisch - ohne Syntax eines geschrieben oder ungeschrieben zugrunde<br />
liegenden Tonsatzes, in dem seit jeher die für eine Kultur und Epoche verbindlichen<br />
Organisationsprinzipien musikalischer Sinnlichkeit und Sprache festgelegt waren, spontan<br />
und werkindividuell gefunden werden. Anders als in der traditionellen Mehrstimmigkeit der<br />
tonalen Syntaxen, die bis zuletzt noch im freien Satz der Spätromantik ein Regelwerk von<br />
Tonbeziehungen festhielt, in dem aus der harmonischen Funktionalität der<br />
Tonhöhenbeziehungen deren sukzessive simultane Funktionalität als vermittelter Zeitgestalt<br />
hervorging - eine klangimmanente Melodisierung des Harmonischen und eine ebensolche<br />
Harmonisierung des Melodischen - musste nun, in freier Atonalität, von Werk zu Werk ein je<br />
eigenes Verhältnis des Harmonischen und seiner Zeitgestalt gesetzt werden. An die Stelle des<br />
kadenzierenden Zeitkreises, der als vermitteltes Anfangen, Folgern und Schließen die<br />
Mikrogestalt der Tonalität geprägt hatte, musste nun im Innern jedes Werkes ein je eigenes<br />
synthetisches Prinzip musikalischer Zeitgestaltung treten.<br />
Schönberg, der sich als Fortführer der Tradition verstand, die durch eine werkübergreifend<br />
verbindliche Musiksprache ein Pantheon großer Werke hervorgebracht hatte, konnte sich<br />
damit naturgemäß nicht zufrieden geben. Gegen die drohende anarchische Individualisierung<br />
des Werkes und damit des Kunstanspruchs von Musik, musste er danach trachten, im<br />
totalisierten Chroma der freien Atonalität eine neue synthetische Funktionalität verbindlicher<br />
Art, ein neues Regelwerk verbindlichen Komponierens ausfindig zu machen. Der<br />
freigesetzten Kunst motivisch-thematischen Entwickelns war das Gesetz einer neuen freien<br />
Tonordnung unterzubauen. Wie ungebrochen sein Glaube an eine unendliche Fortführbarkeit<br />
des Beethovenschen Prinzips motivisch-thematischer Durchführung als eines gleichsam<br />
übergeschichtlichen Kompositionsprinzips war, erwies sich an der unhinterfragten Art und<br />
Weise, in der er die Struktur der traditionellen Metrik und Rhythmik beibehielt. Verborgen<br />
blieb ihm, dass einer neuen tonhöhenlogischen Funktionalität eine ebensolche<br />
zeitgestaltungslogische hätte verknüpft sein müssen, um Grundlage einer neuen Syntax und<br />
Idiomatik verbindlicher Musiksprache sein zu können.<br />
In der unausweichlich gewordenen Anarchie der atonalisierten Töne schien allein Schönbergs<br />
Konzept einer Methode, mit „zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“ zu komponieren, die<br />
Hoffnung einzulösen, von der syntaktisch nur negativ bestimmten Atonalität deren beklagte<br />
Gesetzlosigkeit und Willkür zu nehmen. Im „Nur-Aufeinander“ schien das neue synthetische<br />
Prinzip gewonnen, das einer auf sich gestellten Atonalität die syntaktische und idiomatische<br />
Verbindlichkeit einer neuen Musiksprache mit höchstem Kunstanspruch zu gewähren schien.<br />
Und unter diesem Anspruch wurden die werkindividuell aufgestellten Zwölftonreihen als<br />
Grundgestalten und deren Modi bezeich<strong>net</strong>; Ausdrücke, die sogleich nahe legten, es sei der<br />
gesuchte Ersatz für die verbrauchten Grundgestalten tonaler Harmonik und Melodik, für<br />
Dreiklang, diatonische Skala und Tonartenkreis gefunden. Und mehr als ein Ersatz: als<br />
notwendiges Resultat der musikgeschichtlichen Entwicklung könnten die neuen<br />
Grundgestalten Anspruch auf Grundlegung einer neuen Musikalität mit wesentlich<br />
differenzierterer Harmonik, Kontrapunktik und Melodik erheben, als der Sprache und den<br />
Werken der traditionellen Musik jemals zugänglich gewesen war. Die gänzlich zu eigener<br />
Autonomie und Rationalität befreite Kunstmusik schien jenes Gesetzes- und Regelwerks<br />
habhaft geworden, das ihr ermöglichte, Weberns Fortschrittsaxiom zu folgen, wonach eine<br />
tiefere musikalische Geistigkeit eine höhere Differenzierung der musikalischen Form<br />
sich Tonalität allein durch Leittonhaftigkeit definiert, so wenig konnte eine durch sich konsistente Atonalität<br />
allein durch Nichtleittönigkeit begründet werden. Daher ist Pfrogners Unterscheidung einer vor- und<br />
nachatonalen Chromatik hinfällig. (Hermann Pfrogner: Die Zwölfordnung der Töne. Zürich 1953, S. 37 ff.)