ZUM PARADIGMENWECHSEL DER MUSIK IM 20 ... - leo-dorner.net
ZUM PARADIGMENWECHSEL DER MUSIK IM 20 ... - leo-dorner.net
ZUM PARADIGMENWECHSEL DER MUSIK IM 20 ... - leo-dorner.net
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Rang unwiederholbarer und nicht weiterzuführender Erst-Setzungen, die folglich nicht ein<br />
konsistent Neues, nicht eine neue Tradition großer Kunstmusik begründen, sondern als<br />
Pantheon „großartiger Sackgassen“ auf eine Zukunft verweisen, der die vollbrachte<br />
Kontingenz zur ästhetischen Selbstverständlichkeit neuer Kunstmusik geworden sein wird. 39<br />
Im Interregnum des <strong>20</strong>. Jahrhunderts gewinnen daher nur jene Werke den Rang des<br />
Eingedenkens, die dem Unausweichlichen nicht ausweichen. Und nur jene Musik, die das<br />
Kontingentwerden ihres Kunstcharakters getreulich nachzeich<strong>net</strong>e, zehrte noch von den<br />
letzten Strahlen des Scheins von Nichtkontingenz der Alten Musik und illusionierte die<br />
Fortsetzbarkeit der Tradition großer Musik. Mit der um 1970 erfolgten Trennung von<br />
transmoderner und postmoderner Kunstmusik ist nun Klarheit über alle Illusion und<br />
irreversibel offenbar, daß der kontingente Legitimationspunkt künftiger Kunstmusik dem <strong>20</strong>.<br />
Jahrhundert unendlich näher war, als dessen Komponisten, Musiker und Theoretiker meinten.<br />
Die scheiternden Versuche der Kunstmusik im <strong>20</strong>. Jahrhundert, die erreichte Atonalität<br />
syntaktisch, etwa dodekaphon, zu begründen, sind daher weder mit Albert Wellek zu<br />
verteufeln und allein den Irrtümern Schönbergs oder Hauers zuzuschreiben, Irrtümer, die mit<br />
einer Hindemithschen Renaissance der Tonalität leicht zu beheben gewesen wären; 40 noch<br />
mit Rudolf Stephan der gossen Tradition abendländischer Musik als Folge an die Seite zu<br />
stellen, womöglich als deren Steigerung und Vollendung. 41 Im ersten Fall bliebe das<br />
Verenden der Alten Musik als tonaler Tradition unerklärbar; wir hätten die Wahl, eine große<br />
Kunstmusik wieder bei Null zu beginnen oder wie um 1600 mit einer neuen seconda prattica<br />
an Gustav Mahler und Richard Strauss anzuschließen. Im anderen Fall wären wir gezwungen,<br />
die inkonsistenten Prinzipien des nichttonalen Bewusstseins auf die konsistenten des tonalen<br />
anzuwenden; ebenso die neuen Material- und Formentwurfsprinzipien des <strong>20</strong>. Jahrhunderts<br />
auf die der Tradition. Beethovens auf Reprise nicht verzichtende Werkgestalt erschiene als<br />
39 „Die Werke der atonalen Mittelperiode halte ich für die bedeutendsten, die Schönberg geschrieben hat. Aber<br />
sie sind ein einmaliger Fall, eine großartige Sackgasse. Acht Jahre danach hat Schönberg nichts mehr<br />
komponiert. Er wusste, daß das so nicht weitergeht.“ (H.Eisler: Arnold Schönberg. In: Materialien zu einer<br />
Dialektik der Musik. Hrsg. v. M. Grabs, Berlin 1987, S. 222 f.) Umso euphorischer musste Schönberg die<br />
Entdeckung einer „Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“ dünken, der Glaube an die<br />
chromatische Totale als verbindlichem Fundament künftiger Kunstmusik. Josef Hauer berichtet in einem Brief<br />
vom 7.12.1923: „Schönberg sagte zu mir: ‚Wir haben beide einen und denselben Brillanten gefunden. Sie<br />
scheuen ihn von der einen Seite an und ich von der entgegengesetzten.’ Ich antwortete ihm: ‚Und so können<br />
noch viele, viele den Brillanten von allen Seiten betrachten.’ Schönberg wurzelt stark im Rationalen der<br />
Obertonreihe, im tonal rhythmischen Pol, während ich von jeher im Irrationalen der gleichschwebenden<br />
Temperatur, im atonal melischen Pol verankert war.“ (Zitiert nach Walter Szmolyan: Josef Matthias Hauer.<br />
Wien 1965, S. 49.)<br />
Wie in einem Brennspiegel versammelt sich hier die Agonie der großen Musik am Ende ihrer Entwicklung.<br />
Denn Tonsysteme durch „Heranziehung“ der Obertonreihe begründen zu wollen, gehorcht der undurchschauten<br />
Irrationalität eines naturwissenschaftlichen Aberglaubens, und die chromatische Skala ist als Ergebnis der<br />
gleichschwebenden Temperatur das Produkt rationalster Klangbeherrschung, ein neuzeitlichen End- und<br />
Abfallprodukt, sowohl tragendes Moment der Wiederaufführungsgeschichte Alter Musik seit 1800 wie zugleich<br />
kompositorisch das zerfallende Exkrement der harmonisch-melodischen Entwicklung tausendjähriger<br />
Geschichte abendländischer Mehrstimmigkeit, deren Epochen sich durch intonable und nichtkontingente<br />
Polyphonie und Homophonie entfaltet hatten. Schönbergs Brillant war die Fiktion brillanter Selbsttäuschung, die<br />
fata morgana des über sich und seine historischen Lage unaufgeklärten Komponisten der spätbürgerlichen Ära.<br />
Später wird Schönberg des öfteren von Zweifeln geplagt worden sein, ob denn die Reihe „in der Art eines<br />
Motivs“ Grundlage von Komponieren und großer Musik sein könne; aber in den Phasen des Zweifels schien<br />
stets ein doppeltes Netz den Absturz der „Methode nur aufeinanderbezogener Töne“ aufzufangen: einmal die<br />
gleichschwebende Temperatur, die gleichfalls eine Reihenoperation war, eine arithmetische Progression, worin<br />
alle Halbtöne gleichgeschaltet werden, - scheinbar zur „Erfindung“ der chromatischen Skala; zum anderen, wenn<br />
auch dies zweifelhaft wurde, weil die temperierte Stimmung doch nur ein Notbehelf, ein Waffenstillstand sei, die<br />
Reihe der Obertöne selbst, in der doch das Gesetz der Musikentwicklung ablesbar eintätowiert sei. Von drei<br />
Reihen getragen: ein wahres Autodidakten-Eldorado.<br />
40 Albert Wellek: Atonalität. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd.1, Kassel 1949-1951, Sp. 763 ff.<br />
41 Rudolf Stephan: Zwölftontechnik. In: Riemann Musik Lexikon, Sachteil; Mainz 1967, S. 1085 f.