ZUM PARADIGMENWECHSEL DER MUSIK IM 20 ... - leo-dorner.net
ZUM PARADIGMENWECHSEL DER MUSIK IM 20 ... - leo-dorner.net
ZUM PARADIGMENWECHSEL DER MUSIK IM 20 ... - leo-dorner.net
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Atonalisierung lautete die Losung der Stunde, entweder als Erweiterung oder als<br />
Überwindung der Tonalität, ihrer Syntax und Formenwelt. Gemäßigte und radikale Moderne,<br />
in freier Tonalität bzw. Atonalität noch einmal für einen historischen Moment vereint,<br />
furchten sogleich jenen bis heute nicht überwundenen Graben zwischen der seitdem Neuen<br />
Musik und einem der Tradition oder der Unterhaltungsmusik verhafteten Publikum. Neuland<br />
auch innerhalb des Kompositionsaktes: über Nacht waren die Anforderungen an den<br />
Komponisten ins Unermessliche gestiegen. Nach dem Verlust von tragendem Stil und<br />
verbindlichem Formenkanon mussten zentrale Dimensionen der Musik in einem frei<br />
schwebenden Sinnraum ohne Rückbeziehung auf eine gesicherte harmonisch-melodische<br />
Syntax und Idiomatik artikuliert werden. Die freie Atonalität, gesteigerte Freiheit und<br />
belastende Verantwortung zugleich, war gebunden an die Negation des Tonalen, und ungewiß<br />
war, ob sie jemals ohne Fesselung an diese Negation von sich aus eine neue zweite<br />
musikalische Natur als Fundament einer neuen musikalischen Sinnlichkeit und eine neue<br />
verbindliche Syntax und Idiomatik neuer Meisterwerke hervorbringen werde.<br />
An diesem Punkt schieden sich die Geister der Moderne. Verblieb der Strang gemäßigter<br />
Moderne bis hin zum postmodernen turn of review in den Siebzigerjahren bei der<br />
Überzeugung, Atonalität sei für eine Fortsetzung autonomer Kunstmusik nur als an die<br />
Tonalität gebundene Negation derselben möglich, war gleichfalls Schönbergs und Hauers<br />
Überzeugung ungebrochen, eine durch sich konsistente atonale Melodie sei die geschichtliche<br />
Fortsetzung der tonalen, nur mit anderen Mitteln, und eine atonale Harmonik sei als<br />
Epiphänomen des Melodischen zu begründen. War die tonale Syntax einfach und von<br />
gleichsam naiver Natürlichkeit gewesen, so werde die atonale Syntax komplex und von<br />
reflektierter Natürlichkeit, daher vorerst noch durch Einübung einzugewöhnen sein. 5 Nach<br />
geglückter Eingewöhnung werde sie gleichfalls einfach und - formal wie semantisch - die<br />
Größe und Verständlichkeit der tonalen Sprache und Syntax gewinnen. Das Neue werde sein<br />
Altes - wie schon bisher in der Musikgeschichte des Abendlandes - abgelöst haben.<br />
Schönbergs Überzeugung, eine auf sich gestellte atonale Syntax und Idiomatik sei die<br />
Fortsetzung der tonalen, nur mit anderen Mitteln, steht jedoch heute - sowohl in radikal- wie<br />
in postmoderner Perspektive - unter mehr als dem bloßen Verdacht, lediglich eine<br />
undurchschaute Selbsttäuschung über den tatsächlich erfolgten Traditionsabbruch gewesen zu<br />
sein, dessen Anerkennung Schönberg bekanntlich Zeit seines Lebens zurückgewiesen hat. Ein<br />
Verdacht, der freilich auch viele Musiker und Musikwissenschaftler der Gegenwart, würde er<br />
sie überhaupt noch erreichen, nicht hinderte, an Schönbergs Zuversicht festzuhalten. Die<br />
Atonalisierung der Kunstmusik wird beispielsweise mit dem Übergang vom prima zu seconda<br />
prattica um 1600 verglichen; 6 Schönbergs dodekaphone Streichquartette erweisen sich als<br />
5 Josef Matthias Hauer trieb mit der chromatischen Totale den Kult eines Privatspiritismus, der auch die<br />
Provinzialitäten des blamablen Prioritätenstreits um die Erfindung der Zwölftonlehre erklärt. Erscheint das<br />
„Übergeschlecht“ der Reihe (Schönberg) einmal als deus ex machina einer reinen Geistesmusik, musste man<br />
sich auf das ärgste gefasst machen. Nicht er, Hauer, sondern der Weltenbaumeister habe von Ewigkeit her ein für<br />
allemal das Zwölftonspiel als neue Offenbarung der Weltordnung komponiert. Politiker sollten sich daher dessen<br />
Einübung raschest angelegen sein lassen, das Melos der atonalen Melodie sei die einzige „geistige Realität“<br />
zwischenmenschlicher Beziehungen. (Vgl. Walter Szmolyan: Josef Matthias Hauer. Wien 1965, S.8 und 29.)<br />
Die „magische“ Fetischisierung der Reihe im Spätwerk, der ungebrochene Glaube an eine temperierte<br />
chromatische Intonation, der unreflektierte Gebrauch der Oktave im dodekaphonen Kontext und der traditionell<br />
metrisch und symmetrisch organisierte Rhythmus desavouierten Hauers Zwölftonspiel als private Esoterik, der<br />
sich keine dialektisierende Musikschriftstellerei annehmen mochte, um ihr jenen Eingang in den Partialmarkt für<br />
Neue Musik samt autoritärer Gefolgschaft zu verschaffen, der früh schon der „Zweiten Wiener Schule“ gelungen<br />
war. Die tiefe Verwandtschaft zu Webern, der schließlich einem Nomosglauben an die Reihe, allerdings im<br />
Geist der Niederländer, anhing, und zur seriellen Musik, deren Werkzerstörung Hauer mit seinen Tropen<br />
vorwegnahm, gründete im epochalen Wahn, die chromatische Totale sei eine neue Art von Tonalität und daher<br />
als Serialität musikalisch zu totalisieren.<br />
6 Nikolaus Harnoncourt in einem Radiointerview 1995. - Sein Vorschlag einer anti-evolutionären „Entwicklung<br />
im Kreis“ formuliert nur die Struktur des gordischen Knotens, ohne ihn zu lösen: „Ich finde ein Großwerk von