DIPLOMARBEIT - Institut für Germanistik - Universität Wien
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eigenes inneres Potential. So erscheint die theatralische Provokation, durchaus<br />
inhaltlich gebunden, als aktivierende Möglichkeit des Theaters, sich real ins<br />
Verhältnis zur Lebenspraxis zu setzen, also als Kommunikationsfaktor. 58<br />
Provokation als Theatermittel dient bei Castorf somit der Aktivierung und Irritation des<br />
Publikums. 59<br />
Die künstlerische Avantgarde, speziell der Dadaismus, galt in der DDR als besonders<br />
anstößig und der Pflege kulturellen Erbes abträglich, weshalb die Auseinandersetzung damit<br />
<strong>für</strong> Castorf „ganz besonders sexy war“ 60 . Eine Parallele zwischen Castorfs Theaterarbeit und<br />
dem Dadaismus lässt sich durch eine Erklärung Huelsenbecks zum Dadaismus darstellen:<br />
[…] eine Gruppe junger Menschen […], die im Zustand der anomischen<br />
Unsicherheit das Chaos in sich erlebten. […] nicht als Verbrecher, nicht als<br />
professionelle Revolutionäre, nicht als religiöse Fanatiker, nicht nur als<br />
Künstler, sondern sie erlebten es zuerst als Menschen. […] Die Dadaisten waren<br />
diejenigen Menschen, die aufgrund einer besonderen Sensibilität die Nähe des<br />
Chaos verstanden und es zu überwinden suchten. Sie waren Anarchisten ohne<br />
politische Absichten, sie waren Halbstarke ohne Gesetzesüberschreitung, sie<br />
waren Zyniker, die ebenso den Glauben und die Frömmigkeit schützten, sie<br />
waren Künstler ohne Kunst. Die Dadaisten […] verstanden am ehesten, was ich<br />
[…] als schöpferische Irrationalität bezeichne. 61<br />
Wie Huelsenbeck den Dadaismus erklärt, finden sich Parallelen zu grundlegenden Intentionen<br />
des Theaters Frank Castorfs wieder: innere Gesetzlosigkeit, Zynismus, Anarchismus ohne<br />
politische Absicht oder Künstler ohne Kunst sind jene Schlagworte, die sich auf die<br />
Theaterarbeit Castorfs übertragen lassen, woraus sein Theater entstanden ist und der<br />
Dadaismus im 21. Jahrhundert weiterlebt.<br />
Kunstströmungen wie der Dadaismus […] stehen <strong>für</strong> die Sehnsucht nach<br />
Vitalität nach Mut, nach Kraft, nach all den Sachen, die wahrscheinlich heute<br />
nur noch bei den Rechtsradikalen zu finden sind, nicht in der aufgeklärtliberalen<br />
Toscana-Fraktion. 62<br />
Eine weitere Komponente seiner Bezugnahme auf die künstlerischen Avantgarden ist auch<br />
die Einbeziehung der filmischen Avantgarde, in erster Linie von Sergej Eisenstein und David<br />
Lynch. Diese Bezüge äußern sich durch die Verwendung filmischer Zitate von Werken der<br />
Filmschaffenden in Form einer medialen Übertragung auf den Bildschirm oder auch den<br />
Einsatz von musikalischen Zitaten der Filmmusik auf der Bühne. Beide Elemente sind<br />
einerseits Teil des angewendeten Verfahrens der Montagetechnik und andererseits<br />
58 Ebd.<br />
59 Vgl. Zur Person: Günter Gaus im Gespräch mit Frank Castorf. 52 Min. ,ORB, Sendedatum: 05.03.1995.<br />
60 Vgl. Detje, Robin: Provokation aus Prinzip. Berlin: Henschel 2002. S. 37 – 38 .<br />
61 Huelsenbeck, Richard: Dada. Eine literarische Dokumentation. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 1984.<br />
62 Balitzki: Castorf, der Eisenhändler. S. 151.<br />
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