DIPLOMARBEIT - Institut für Germanistik - Universität Wien
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In seinem programmatischen Aufsatz An Romanautoren und ihre Kritiker (1917) polemisiert<br />
Döblin heftig gegen den konventionellen Roman des 19. Jahrhunderts. Dabei kritisiert er<br />
besonders die Psychologisierung und Individualisierung im Roman:<br />
Es ist schon verkehrt, anzunehmen und unter dieser Annahme zu arbeiten und<br />
zu lesen: der Mensch sei Gegenstand des Dramas oder des Romans. Sie haben<br />
beide weder mit den Menschen noch der Wichtigkeit eines einzelnen Helden<br />
oder seiner Probleme zu tun. Das alles überlasse man dem Pädagogen, Pfarrer,<br />
Psychologen, Psychiater; gedichtete Psychologie ist Unfug. Es handelt sich um<br />
buntes oder einfarbiges, freudiges, trauriges, tiefes, flaches Lebensereignis;<br />
mache man wie mans will. Aber der Mensch und seine Dinge sind sehr bequem<br />
erreichbar, man bleibt im Hause dabei, Problem, Konflikt liegt am Boden<br />
herum, mit ein bisschen Konstruktion ist nachgeholfen: fix hat man sich um die<br />
Dichtung herumgeschlichen. 150<br />
Döblins romantheoretische Ansichten korrespondieren mit zeitgenössischen Strömungen, die<br />
sich gegen die traditionellen Formen der autonomen Kunst richten. Ein individualistisches<br />
Kunstverständnis, das auf ein humanistisch-idealistisches Wertsystem begründet ist, wird<br />
angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Zustände (Inflation, Massenbewegungen der<br />
Arbeiterschaft, schnelle Entwicklung von Industrie und Technik) abgelehnt. 151<br />
Fortgerissen vom psychologischen Wahn hat man in übertriebener Weise den<br />
einzelnen Menschen in die Mitte der Romane und Novellen gestellt. Man hat<br />
tausende besondere, höchst outrierte Menschen erfunden, an deren<br />
Kompliziertheit der Autor sich sonnte. Hinter dem verderblichen Rationalismus<br />
ist die ganze Welt mit der Vielheit ihrer Dimensionen völlig versunken. 152<br />
Mit dem Einzelmenschen als Handlungsfigur des Romans stellt Döblin auch die Rolle des<br />
Erzählers in Frage, denn „wo es nichts zu fragen, abzuwägen, zu erklären gibt, dort hat der<br />
Erzähler aus dem Roman zu verschwinden und das Terrain der Wirklichkeit zu überlassen“ 153<br />
Eine interpretierende und urteilende Haltung des Autors wird von Döblin ebenfalls<br />
verworfen: „Der Leser [ist] in voller Unabhängigkeit einem gestalteten, gewordenen Ablauf<br />
gegenübergestellt; er mag urteilen, nicht der Autor.“ 154<br />
Ich gestehe selbst: Ich habe unbändig gehuldigt dem Bericht, dem Dogma des<br />
eisernen Vorhangs. Nichts schien mir wichtiger, als die sogenannte Objektivität<br />
des Erzählers. Ich gebe zu, dass mich noch heute Mitteilungen von Fakta,<br />
Dokument beglücken; […] Aber man ist ein ganzes Leben lang nicht fähig,<br />
150<br />
Döblin, Alfred: An Romanautoren und ihre Kritiker. In: Schriften zu Poetik, Ästhetik und Literatur. Freiburg<br />
und Olten: Walter Verlag 1989. S.21.<br />
151<br />
Vgl. Kaes, Anton: Weimarer Republik. In: Walther Killy (Hg.): Literaturlexikon. Bd. 15.<br />
Gütersloh/München: Bertelsmann Lexikon Verlag 1993. S. 481.<br />
152<br />
Prangel, Matthias: Bemerkungen zur Denkfigur binärer Schematisierungen vom Typus realistisch-unrealitisch<br />
und Ratio-Gefühl in der Literaturgeschichte. In: Neophilologus 70. 1986. S. 486.<br />
153<br />
Ebd.<br />
154<br />
Döblin: Der Bau des epischen Werks. In: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur. Freiburg und Olten:<br />
Walter-Verlag 1998. S. 226.<br />
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