DIPLOMARBEIT - Institut für Germanistik - Universität Wien
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Entselbstung, Entäußerung des Autors, Depersonation. Die Erde muss wieder<br />
dampfen. Los vom Menschen! Mut zur kinetischen Phantasie und zum<br />
Erkennen der unglaublichen realen Konturen! Tatsachenphantasie! Der Roman<br />
muss seine Wiedergeburt erleben als Kunstwerk und modernes Epos. 140<br />
Döblin greift damit das Thema der Gattung „Roman“ an seiner empfindlichsten Stelle auf.<br />
Walter Benjamin wählt <strong>für</strong> seine Rezension zu Berlin Alexanderplatz den Titel Krisis des<br />
Romans.<br />
Darum geht es Döblin schon zu Zeiten seiner unmittelbaren Nähe zur Berliner<br />
Avantgarde. Die Erneuerung des Romans als episches Kunstwerk erfordert<br />
sowohl das Zurückblicken auf die Ursprünge allen Erzählens im mündlich<br />
berichtenden Epos vorgeschichtlicher Prägung als auch die Einbeziehung neuer<br />
Medien, die sich jenseits des gedruckten Buches bewegen. Der Autor<br />
rekapituliert in seinem aktivistischen Aufruf eine historische Spanne, die den<br />
gesamten geschichtlichen Raum der Schriftlichkeit umgreift, vom Übergang des<br />
mündlichen Epos in die Schriftfassung […] bis hin zur Ablösung der schriftlich<br />
fixierten Erzählens durch eine neuartige Bildlichkeit und ihre Rezeption, durch<br />
das „Technobild“. Charakteristisch ist, dass Döblin den Begriff der kinetischen<br />
Phantasie nicht einsetzt, um die Dominanz der schriftlich fixierten Texte in der<br />
narrativen Sphäre zu brechen, sondern um ihre Erneuerung zu propagieren. 141<br />
Der Autor Alfred Döblin war im Osten Berlins als Arzt <strong>für</strong> Innere Medizin und<br />
Nervenkrankheiten tätig. Gesellschaftspolitisch ist eine Verbindung mit dem Proletariat, eine<br />
Abneigung gegen Parteien 142 und dem Parlamentarismus festzustellen, da „sie nicht das Ende<br />
des autoritären Staates bedeute[n], sondern dessen Konservierung [sind].“ 143 Döblin<br />
bezeichnete sich selbst als Humanist und „der Humanist ist kein Parteimensch, schon weil<br />
eine Partei von Haus aus ungerecht ist [...]“ 144 . Ein starker Unabhängigkeitswille und der<br />
Protest gegen jegliche Art von Bevormundung kennzeichnen Döblins seine Lebensweise.<br />
Politische und gesellschaftliche Fragen bearbeitete Döblin in erster Linie in seinen Essays und<br />
Satiren. Dort übte er Kritik an den Vorgängen der Weimarer Republik. Ausgehend von der<br />
Entwicklung der UdSSR seit 1917 kritisierte er die marxistische Theorie des Klassenkampfes<br />
zur Herbeiführung des Kommunismus, da dieser bestenfalls dazu imstande sei, eine<br />
Machtverlagerung herbeizuführen, eine Befreiung des Individuums von der Vereinnahmung<br />
durch die Öffentlichkeit, Staat und Gesellschaft bleibt ihm aber verwehrt. „Döblin polemisiert<br />
gegen die These, dass die materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse das wirkliche Wesen der<br />
Menschen seien. Döblin hält die marxistische Theorie vor allem <strong>für</strong> einseitig, es fehle der<br />
140 Döblin, Alfred: An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm. In: Ders.: Schriften zu Ästhetik,<br />
Poetik und Literatur. Olten/Freiburg: Walter-Verlag 1989. S. 120.<br />
141 Schärf: Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz. S.10 - 11.<br />
142 Anm.: Dennoch war Döblin in den Jahren 1921 bis 1929 Parteimitglied der SPD.<br />
143 Kreuzer, Leo: Alfred Döblin. Sein Werk bis 1933. Stuttgart (u.a.): Kohlhammer 1970. S. 75.<br />
144 Döblin, Alfred: Schriften zur Politik und Gesellschaft. Freiburg und Olten: Walter-Verlag 1972. S. 90.<br />
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