Wiener Gesundheits- und Sozialsurvey Vienna Health and Social ...
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I. THEORIE, STICHPROBE, METHODEN Theoretisches Konzept<br />
1.1.2.4.4 Soziale Ungleichheit<br />
Der Begriff soziale Ungleichheit definiert Unterschiede<br />
zwischen Gesellschaftsmitgliedern bezüglich sozialer<br />
Schichtmerkmale, wie z. B. Einkommen, Teilhabe an<br />
den Bildungsgütern, berufliches Sozialprestige, verfügbarer<br />
Besitz, <strong>Ges<strong>und</strong>heits</strong>risiken von Arbeitsbedingungen<br />
<strong>und</strong> Wohngegend. Individuelle Ungleichheit definiert<br />
die ungleiche Ausprägung biologischer Merkmale<br />
wie Aussehen, Größe <strong>und</strong> physische Stärke <strong>und</strong> besonderer<br />
erworbener Fertigkeiten von Individuen einer<br />
Gesellschaft.<br />
Im soziologischen Schichtungsmodell wird eine geschichtete<br />
Gesellschaft durch folgende Merkmale beschrieben:<br />
● Sie besteht aus mehreren Sozialschichten, deren Mitglieder<br />
einen unterschiedlichen Sozialstatus aufweisen.<br />
Höhere Schichten verfügen über größere Ressourcen<br />
(z. B. Einkommen, Bildung) <strong>und</strong> höhere<br />
Konsumationsmöglichkeit als niedrigere Schichten.<br />
● Der Beruf ist ein hauptsächliches Schichtmerkmal.<br />
● Im allgemeinen werden Ober-, Mittel- <strong>und</strong> Unterschicht<br />
unterschieden, es sind jedoch auch stärkere<br />
Differenzierungen möglich (FREIDL & NOACK,<br />
1995).<br />
Ein immer umfangreicher werdendes, von SoziologInnen,<br />
SozialmedizinerInnen <strong>und</strong> SozialepidemiologInnen<br />
zusammengetragenes Datenmaterial liefert eindeutige<br />
<strong>und</strong> überzeugende Belege dafür, dass – unabhängig<br />
von individuellen konstitutionellen Besonderheiten<br />
– im weitesten Sinne soziale Strukturen gewichtigen<br />
Einfluss sowohl auf die physische <strong>und</strong> psychische<br />
Ges<strong>und</strong>heit als auch auf die Lebenserwartung ausüben<br />
(STEINKAMP, 1999).<br />
Die Verbesserung menschlicher Lebensbedingungen<br />
hat schon bei der Bekämpfung <strong>und</strong> Eindämmung der<br />
noch im vergangenen Jahrh<strong>und</strong>ert dominierenden Infektionskrankheiten<br />
eine entscheidende Rolle gespielt.<br />
So gab es z. B. einen Rückgang der durch Tuberkulose<br />
bedingten Todesfälle um 90 Prozent bereits vor der<br />
Einführung der Antibiotika, d. h. der ersten systematischen<br />
Kausaltherapie (FRIES & CRAPO, 1981). Stetig<br />
verbesserte Ernährungs- <strong>und</strong> Hygieneverhältnisse waren<br />
die dafür entscheidenden Ursachen.<br />
Seit dem 12. Jahrh<strong>und</strong>ert, in dem zum ersten Mal Daten<br />
über den Zusammenhang zwischen chronischer Krank-<br />
50<br />
heit <strong>und</strong> Lebenserwartung einerseits <strong>und</strong> sozialer<br />
Schichtzugehörigkeit <strong>and</strong>ererseits berichtet worden<br />
sind, lässt sich bis heute der Schichtgradient belegen. Er<br />
ist konsistent für eine große Anzahl von Krankheiten,<br />
für verschiedene Populationen <strong>und</strong> bleibt über bemerkenswert<br />
lange Zeiträume stabil. Vor allem bei Männern<br />
<strong>und</strong> Frauen im Alter von 24 bis 64 Jahren variieren Lebenserwartung<br />
<strong>und</strong> Erkrankungsrisiken dramatisch im<br />
Hinblick auf das Bildungsniveau, das Einkommen <strong>und</strong><br />
den Beruf, unabhängig davon, ob man diese Indikatoren<br />
der sozialen Schicht einzeln oder zusammengefasst betrachtet<br />
(vergleiche dazu ANTONOVSKY, 1967; DOH-<br />
RENWEND & DOHRENWEND, 1969, 1981; SYME &<br />
BERKMAN, 1976; WHEATON, 1978; MARMOT & MC-<br />
DOWALL, 1986; WILKINSON, 1986; TOWNSEND &<br />
DAVIDSON, 1988; DOHRENWEND, 1990; STRONEG-<br />
GER et al., 1997; MIELCK, 2000; FREIDL et al., 2001).<br />
Der raum-zeitstabile Schichtgradient in Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong><br />
Lebenserwartung ist letztlich ein Beleg für die Bedeutung<br />
der sozialen Umwelt. Seine Existenz erzwingt geradezu<br />
eine stärkere Orientierung am Sozialsystem-Modell<br />
(SCHEFF, 1973), wenn es darum geht, vermeidbarem<br />
Leiden <strong>und</strong> vermeidbarer Begrenzung der Lebenserwartung<br />
wirkungsvoll zu begegnen (STEINKAMP, 1999).<br />
Eine differenzierte Analyse gesellschaftlicher Ungleichheitsstrukturen<br />
kann unsere Kenntnis darüber erweitern,<br />
wie die Organisation einer Gesellschaft Ges<strong>und</strong>heit<br />
<strong>und</strong> Krankheit beeinflusst (MARMOT, KOGEVI-<br />
NAS & ELSTON, 1987) <strong>und</strong> welche Glieder in der langen<br />
Kausalkette von der Makrostruktur zum Individuum<br />
dabei von Bedeutung sind. Ihre genauere Kenntnis<br />
ermöglicht auch wirkungsvollere Interventionsstrategien<br />
auf den verschiedenen Ebenen.<br />
Auf der oberen Analyseebene (Makroebene) werden<br />
die Dimensionen sozialer Ungleichheit verankert, aus<br />
denen ungleiche Lebensbedingungen <strong>und</strong> -chancen resultieren.<br />
Die mittlere Analyseebene (Mesoebene) umfasst<br />
die konkreten Lebenskontexte, in denen strukturell<br />
vermittelte ungleiche Belastungen <strong>und</strong> Ressourcen<br />
ihre Wirkung entfalten. Auf der unteren Ebene (Mikroebene)<br />
werden die Ausein<strong>and</strong>ersetzungsprozesse des<br />
Individuums mit Belastungen <strong>und</strong> Ressourcen thematisiert<br />
<strong>und</strong> die Folgen nicht gelingender Bewältigungsprozesse<br />
für die individuelle Befindlichkeit zu erfassen<br />
versucht, wobei hier auch das komplexe Zusammenspiel<br />
zwischen psychischen <strong>und</strong> somatischen Prozessen<br />
beachtet werden muss (STEINKAMP, 1999).<br />
WIENER GESUNDHEITS- UND SOZIALSURVEY