Contergan oder die Macht der Arzneimittelkonzerne - Sternentaler
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vertreten durch Josef Neuberger aus Düsseldorf, einen SPD-Landtagsabgeordneten, von <strong>der</strong> Anklage<br />
befreit. Die vorläufige Anklage wurde gegen <strong>die</strong> übrigen neun Grünenthal-Vertreter erhoben. Von<br />
dem internen Aktenmaterial <strong>der</strong> Firma Grünenthal, das im Prozess eine so wichtige Rolle spielen<br />
sollte, wurde nur sehr wenig ausgehändigt. Die meisten Dokumente wurden bei Polizeiaktionen<br />
beschlagnahmt.<br />
Nach den Bestimmungen <strong>der</strong> bundesdeutschen Prozessordnung war den Angeklagten <strong>der</strong> volle<br />
Zugang zu allen Dokumenten und Berichten gestattet, <strong>die</strong> <strong>der</strong> Ankläger gesammelt hatte. Nach<br />
Abschluss <strong>der</strong> Ermittlungen wurde den Beklagten eine Frist von drei Monaten gewährt, damit sie<br />
entscheiden könnten, ob sie von ihrem Recht auf Durchführungen eines „Schlussgehörs“ Gebrauch<br />
machen wollten. Danach muss <strong>die</strong> Verhandlung einen Monat nach <strong>der</strong> Entscheidung des Beklagten<br />
eröffnet werden. Das „Schlussgehör“ war im April 1965 in das Recht <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland<br />
eingeführt worden. Diese Anhörung ist <strong>die</strong> letzte Gelegenheit für den Angeklagten, eine<br />
Anklageerhebung zu vermeiden, indem er wesentliche Beweise gegen <strong>die</strong> verschiedenen Punkte <strong>der</strong><br />
Anklage vorbringt. Die Angeklagten protestierten gegen <strong>die</strong> Kürze <strong>der</strong> Zeit, <strong>die</strong> für <strong>die</strong> ungeheure<br />
Menge des zu analysierenden Materials zur Verfügung gestellt wurde. Das Bundesverfassungsgericht<br />
wies am 3.März <strong>die</strong> Einwände <strong>der</strong> Angeklagten zurück, aber wegen <strong>der</strong> außergewöhnlichen Natur des<br />
Falles räumte ihnen das Justizministerium weitere sechs Monate ein. Im August 1966 begann das<br />
Schlussgehör. In <strong>die</strong>ser Zeit mobilisierte Grünenthal alle seine Hilfsquellen und produzierte immense<br />
Mengen von Material zur Unterstützung <strong>der</strong> Verteidigung.<br />
Professor Irle ergriff in <strong>der</strong> ersten Nummer des Jahrgangs 1966 <strong>der</strong> Kölner Zeitschrift für Soziologie<br />
und Sozialpsychologie für Chemie Grünenthal Partei. Er behauptete, dass <strong>die</strong> Beziehung zwischen<br />
Thalidomid und Missbildungen nicht erwiesen ist. Die Interviewer seien nicht objektiv gewesen. „Wir<br />
müssen daher annehmen, dass <strong>die</strong> Interviewer nicht einfach in neutraler Form registrierten, son<strong>der</strong>n<br />
auf <strong>die</strong> Subjekte einwirkten und ihre Meinungen und Ansichten über bestimmte Punkte zu än<strong>der</strong>n<br />
versuchten..:“<br />
Im August 1966 for<strong>der</strong>te Professor Dahs aus Bonn, <strong>der</strong> Rechtsvertreter und Verteidiger von<br />
Herrmann Wirtz, dass das Gerichtsverfahren unverzüglich eingestellt würde. In einem Interview mit<br />
<strong>der</strong> Stuttgarter Zeitung am 15.August 1966 bezeichnete Dahs <strong>die</strong> von <strong>der</strong> Staatsanwaltschaft<br />
durchgeführte Ermittlung als parteiisch, unvollständig und nichtobjektiv. Prompt verkündete <strong>die</strong><br />
Staatsanwaltschaft, dass eine <strong>der</strong>artig offene Polemik des Rechtsvertreters von Grünenthal in <strong>der</strong><br />
Presse <strong>die</strong> Entscheidung <strong>der</strong> Staatsanwaltschaft nicht beeinflussen könne, <strong>der</strong> nur Tatsachen und<br />
objektive Erwägungen zu berücksichtigen habe. Solche Methoden seien nicht zur Suche nach <strong>der</strong><br />
Wahrheit geeignet.<br />
Am 24.Februar 1967 erklärte Baron von Münchhausen, <strong>der</strong> neue Staatssekretär im Justizministerium,<br />
dass eine Entscheidung über den Prozess erwartet werden könne. Schließlich teilte am 14.März,<br />
längst überfällig, <strong>der</strong> leitende Staatsanwalt Dr. Gierlich mit, es sei entschieden worden, gegen neun<br />
Persönlichkeiten von Chemie Grünenthal Anklage zu erheben. Gierlich konnte nicht genau sagen,<br />
wann <strong>die</strong> Hauptverhandlung eröffnet werden würde, aber er erwartete keinen längeren Aufschub als<br />
ein Jahr, bis zum 1.Oktober 1968. Der Verteidigung werde auch ermächtigt, eine Vorverhandlung zu<br />
beantragen. Eine Entscheidung über ein solches Gesuch müsse zuerst bei <strong>der</strong> 1.Strafkammer des<br />
Landgerichts Aachen und dann vom Berufungsgericht in Köln erlangt werden. Nur wenn keine neuen<br />
Gesichtspunkte vorgelegt werden könnten und <strong>die</strong> gefor<strong>der</strong>ten Formalitäten alle erfüllt seien, könnte<br />
eine Entscheidung über das Ansetzen <strong>der</strong> Hauptverhandlung getroffen werden.<br />
Dr. Gierlich bat Presse, Rundfunk und Fernsehen zu verstehen, warum <strong>die</strong> Öffentlichkeit nicht<br />
beson<strong>der</strong>s ausführlich über das, was vor sich gegangen war, informiert wurde. Der Fall sei ohne<br />
Beispiel, und wenn <strong>der</strong> Streit um <strong>die</strong> Entscheidung, ob <strong>der</strong> Prozess begonnen werden sollte, an <strong>die</strong><br />
Öffentlichkeit gelangt wäre, hätte er den Angeklagten unnötiges Leid zugefügt. Abschließend sagte<br />
Gierlich: „Ich möchte sehr <strong>die</strong> Unterstellung zurückweisen, dass <strong>die</strong> gesamte pharmazeutische<br />
Industrie auf <strong>die</strong> Anklagebank gebracht wird. <strong>Contergan</strong> ist ein Ausnahmefall, ohne Vorläufer in <strong>der</strong><br />
Rechtsgeschichte, was seine Natur, seine Tragweite und seine Ausmaße betrifft.“ Am 12.April wurde<br />
<strong>die</strong> 972seitige Anklageschrift offiziell <strong>der</strong> Verteidigung übergeben. Von 5000 überprüften<br />
Schadensfällen waren 50 repräsentative Fälle für fetale Missbildungen und 60 Fälle für<br />
Nervenschädigung ausgewählt worden.