Contergan oder die Macht der Arzneimittelkonzerne - Sternentaler
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10 Hätte Voraussicht <strong>die</strong> Katastrophe verhin<strong>der</strong>n können?<br />
Die für den Vertrieb des Thalidomids verantwortlichen pharmazeutischen Firmen verteidigen sich mit<br />
<strong>der</strong> Behauptung, dass vor <strong>der</strong> Thalidomid-Katastrophe niemand <strong>die</strong> Möglichkeit in Betrachte gezogen<br />
hatte, dass Pharmaka-mit Ausnahme bestimmter Zylostatika- den Fetus schädigen könnten. Kein<br />
pharmazeutisches Unternehmen auf <strong>der</strong> ganzen Welt haben irgendeine Prüfung durchgeführt, um<br />
<strong>die</strong> Unschädlichkeit eines während <strong>der</strong> Schwangerschaft gegebenen Arzneimittels für das<br />
ungeborene Kind zu sichern. Erst <strong>die</strong> Thalidomid-Katastrophe habe eine <strong>der</strong>artige Form von<br />
Nebenwirkungen enthüllt und intensive Forschungen au <strong>die</strong>sem Gebiet ausgelöst. Den<br />
Arzneimittelfirmen gelang es lei<strong>der</strong> mit recht gutem Erfolg, ihre Meinung in <strong>der</strong> Presse zu verbreiten:<br />
sie wurden durch <strong>die</strong> Erklärungen verschiedener Experten unterstützt , und auch heute noch<br />
akzeptiert <strong>die</strong> öffentlichen Meinung im allgemeinen <strong>die</strong>se Version vom unvermeidlichen Unglücksfall.<br />
Ihre Glaubwürdigkeit wurde natürlich durch das Verhalten <strong>der</strong> Behörden in den Län<strong>der</strong>n erhöht, in<br />
denen <strong>die</strong> Anwendung des Thalidomids gestattet war. Diese Behörden tragen nun eine große<br />
moralische Verantwortung für das Geschehene mit. Die Tatsache, dass <strong>die</strong> Food and Drug<br />
Administration in den USA erheblich wachsamer gewesen ist, war außerordentlich peinlich. Das<br />
schwedische Gesundheitsamt hat behauptet, es sei ein Zufall gewesen, dass Thalidomid nicht von <strong>der</strong><br />
FDA freigegeben wurde. Die goldene Medaille <strong>der</strong> Auszeichnung des Präsidenten (President`s Award<br />
for Dustinguished Fe<strong>der</strong>al Civilian Service) wurde nicht zufällig an Dr. Kelsey verliehen, wie durch <strong>die</strong><br />
Akten <strong>der</strong> FDA eindeutig nachgewiesen werden kann. Dr. Kelseys Sorge wegen <strong>der</strong> Wirkung von<br />
Thalidomid auf das ungeborene Kind war damals durch wesentliche theoretische Überlegungen<br />
begründet.<br />
Dr. Kelseys Interesse an <strong>der</strong> Wirkung von Pharmaka auf den Fetus reichte bis in <strong>die</strong> Zeit des Studiums<br />
zurück, als sie im Jahre 1943 in Zusammenarbeit mit Frances K. Oldham Untersuchungen über den<br />
Abbau von Chinin durchführte. Die Autoren wiesen nach, dass <strong>die</strong> Leber erwachsener Kaninchen<br />
Chinin rasch abbaut, während <strong>der</strong> Fetus <strong>die</strong>s nicht <strong>o<strong>der</strong></strong> nur in sehr geringem Umfang vermag<br />
(Stu<strong>die</strong>s in Antimalarial Drugs: The Influence of Pregnancy on the Quinine Oxidase of Rabbit Liver<br />
(Untersuchungen über Malariamittel: Der Einfluss <strong>der</strong> Gravidität au <strong>die</strong> Chininoxidase <strong>der</strong><br />
Kaninchenleber), Journal of Pharmacology and experimental Therapeutics 79 (1943), S.81). Ein im<br />
Blut einer schwangeren Frau befindliches Pharmakon nicht so wirksam abzubauen vermag wie <strong>der</strong><br />
ausgewachsene Organismus. Bekanntlich ist <strong>die</strong> allgemeine Empfindlichkeit sich entwickeln<strong>der</strong><br />
Gewebe für alle äußeren Einwirkungen gesteigert, und das Risiko einer Schädigung durch ein<br />
toxisches Arzneimittel ist für den Fetus größer als fürd en erwachsenen Organismus.<br />
Die Erforschung von schädlichen äußeren Einwirkungen auf den Fetus begann viel früher als im Jahre<br />
1943. Seit frühester Zeit hat <strong>der</strong> Mensch äußere Ereignisse für <strong>die</strong> Geburt von Mißbildungen <strong>o<strong>der</strong></strong><br />
verunstalteten Kin<strong>der</strong>n verantwortlich gemacht, Hippokrates stellte hauptsächlich mechanische<br />
Theorien auf, zum Beispiel <strong>die</strong> Verkrüppelung des Kindes infolge eines Sturzes <strong>der</strong> Mutter <strong>o<strong>der</strong></strong> einer<br />
Quetschung im Mutterleib.<br />
Solche Ansichten, gewöhnlich mit Aberglauben verbunden, haben das Mittelalter bis in unsere Zeit<br />
überlebt. In bestimmten Gebieten Südeuropas wird <strong>die</strong> Geburt eines missgebildeten Kindes noch<br />
immer als Strafe für <strong>die</strong> Sünden <strong>der</strong> Eltern angesehen. Italienische Ärzte sagten uns, dass solche<br />
Einstellungen wahrscheinlich dazu beigetragen haben, dass so viele in Italien und Spanien geborene<br />
Thalidomid-Babys von den Eltern versteckt worden sind. Jede rechtliche Maßnahme in Anbetracht<br />
des Versagens <strong>der</strong> Behörden und <strong>der</strong> Produzenten, <strong>die</strong> das Mittel beinahe erst ein Jahr nach dem<br />
Nachweis seiner teratogenen Wirkung vom italienischen Markt zurückgezogen hatten, wurde als<br />
undenkbar betrachtet.<br />
Der erste wirklich wissenschaftliche Ansatz zu einer Teratologie im m<strong>o<strong>der</strong></strong>nen Sinne (das Studium von<br />
Missgeburten, nach dem griechischen Teratos-Ungeheuer) hat wahrscheinlich mit den<br />
experimentellen Untersuchungen von Dareste begonnen, <strong>die</strong> in einer Monographie mit dem Titel<br />
„Recherches sur la production arteficielle des monstruosites ou essai de teratogenie experrimentale“<br />
(Untersuchungen über <strong>die</strong> künstliche Erzeugung von Monstruositäten <strong>o<strong>der</strong></strong> Essai zur<br />
experimentellen Teratogenie) im Jahre 1891 veröffentlicht wurden. Dareste konnte mittels