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Contergan oder die Macht der Arzneimittelkonzerne - Sternentaler

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Die durch Thalidomid verursachte Nervenschädigung ist eine toxische Polyneuritis und kann durch<br />

ihre charakteristischen Symptome von einer durch an<strong>der</strong>e Faktoren, wie Alkoholmissbrauch usw.,<br />

verursachten Polyneuritis unterschieden werden. Nach ständiger Einnahme von Thalidomid über<br />

einen längeren <strong>o<strong>der</strong></strong> kürzeren Zeitraum (zwei Wochen bis zu drei Jahren) tritt ein prickelndes Gefühl<br />

in den Extremitäten auf, dem Empfindungen <strong>der</strong> Taubheit und Kälte (Parathesie) folgen. Die Taubheit<br />

beginnt gewöhnlich in den Zehen und wird anfangs vom Patienten nicht bemerkt. Sie dehnt sich<br />

weiter bis in <strong>die</strong> Fußsohle, dann bis zum Knöchel und schließlich bis in <strong>die</strong> Wade aus, aber nicht<br />

weiter hinauf als bis an das Knie. Viele Monate später, kaum jemals gleichzeitig, beginnt <strong>die</strong> Taubheit<br />

in den Fingerspitzen. Nach einiger Zeit entwickelt sich das vollständige Bild einer toxischen<br />

Polyneuritis, einschließlich starker Muskelschmerzen und-krämpfe in den Extremitäten,<br />

Glie<strong>der</strong>schwäche, Reflex- und Koordinationsstörungen an Armen und Beinen (Ataxie). Der Patient ist<br />

nicht in <strong>der</strong> Lage, <strong>die</strong> Stellung seiner Beine nach dem Gefühl zu beurteilen. Daher wird sein Gang<br />

unsicher und unkoordiniert. In ihrer vollentwickelten Form kann eine teilweise Lähmung auftreten,<br />

und in <strong>der</strong> Mehrzahl <strong>der</strong> Fälle werden sogar grobe Formen <strong>der</strong> Handarbeit unmöglich. Das Opfer<br />

wird dauernd körperbehin<strong>der</strong>t. In schweren Fällen kann das klinische Bild an eine funikuläre Myelose<br />

erinnern. In einem internen Bericht des Schweizer Pharmazeikonzerns CIBA werden <strong>die</strong> Wirkungen<br />

des Thalidomids mit dem Thallium, dem Diphterietoxins und sogar dem o-Trikresylphosphat<br />

verglichen. (Das ist ein organischer Phosphorsäureester, <strong>der</strong> in bestimmten Schmiermitteln<br />

enthalten ist. Er verursachte <strong>die</strong> Vergiftung von Tausenden von Menschen in Marokko, als Mineralöl<br />

zur Verfälschung von Olivenöl verwendet wurde.)<br />

Abgesehen von <strong>der</strong> Polyneuritis kam es oft zu schweren Symptomen seitens des<br />

Zentralnervensystems. Unwillkürliche Zuckungen <strong>der</strong> Gesichtsmuskulatur, Muskelzittern am ganzen<br />

Körper, abnorme Körpergefühle und schwere Störung <strong>der</strong> Konzentrationsfähigkeit zusammen mit<br />

Sprechschwierigkeiten, Doppeltsehen und in einigen Fällen sogar epileptischen Anfällen traten auf.<br />

Im Gegensatz zu den Schädigungen in Form <strong>der</strong> peripheren Neuritis verschwanden <strong>die</strong>se Wirkungen<br />

auf das Zentralnervensystem, wenn <strong>die</strong> Einnahme des Thalidomids abgebrochen wurde. In <strong>der</strong><br />

Mehrzahl <strong>der</strong> Fälle führte <strong>die</strong> periphere Neuritis zu Dauerschäden, und obwohl eine gewisse<br />

Besserung zu verzeichnen ist, bleiben <strong>die</strong> meisten Symptome bestehen. Die Häufigkeit <strong>der</strong>artiger<br />

Entscheidungen ist nicht sicher, aber in Fällen von längerer Zufuhr sind Häufigkeiten zwischen 5 und<br />

20 Prozent in <strong>der</strong> Literatur über <strong>die</strong>se Frage berichtet worden. Abgesehen von ärztlichen Personal<br />

<strong>der</strong> Firmen, <strong>die</strong> Thalidomid auf den Markt gebracht haben, und von wenigen Ärzten, <strong>die</strong> eng mit<br />

<strong>die</strong>sen Firmen liiert sind, besteht heute völlige Übereinstimmung unter den Ärzten über <strong>die</strong> Ätiologie<br />

schwerer Nervenschädigungen durch Thalidomid.<br />

Im Dezember 1960 begann Dr.Voss, <strong>der</strong> ich ernsthaft für <strong>die</strong> Nervenschädigung interessierte, eine<br />

systematische Erforschung ähnlicher Fälle. Am 01.Mai hatte er in einem neurologischen<br />

Fortbildungskurs bereits vor einem größeren Kreis von Ärzten darauf hingewiesen, dass Thalidomid<br />

das Nervensystem schädigen könne.<br />

Während des Jahres 1960 stieg <strong>der</strong> Absatz von Thalidomid ständig an und betrug im Mai bereits 46<br />

Prozent des Gesamtumsatzes von Chemie Grünenthal. Viele Ärzte meinten jedoch, <strong>die</strong> Anwendung<br />

des Mittels müsse strenger kontrolliert werden. Am 14. April skizzierte Dr. Mückter einige<br />

Grundsätze für <strong>die</strong> Zukunft:<br />

„Unglücklicherweise erhalten wir jetzt in steigen<strong>der</strong> Zahl Berichte über Nebenwirkungen <strong>die</strong>ses<br />

Mittels ebenso Briefe von Ärzten und Apothekern, <strong>die</strong> <strong>Contergan</strong> unter Rezeptpflicht gestellt haben<br />

möchten. Unsererseits muss alles getan werden, um den Rezeptzwang zu vermeiden, zumal bereits<br />

ein wesentlicher Anteil unseres Umsatzes aus Freihandverkäufen stammt.“<br />

Solche Gegenmaßnahmen sollten sein:“Mit dem Fehlen <strong>der</strong> Toxizität zu argumentieren…und ein<br />

sorgsames Herangehen an <strong>die</strong> verantwortlichen Behörden…“<br />

Die Zahl <strong>der</strong> Berichte über verschiedene Nebenwirkungen, einschließlich <strong>der</strong> Polyneuritis, stieg rasch<br />

an, aber Grünenthal bagatellisierte sie weiterhin <strong>o<strong>der</strong></strong> leugnete sogar jede frühere Kenntnis wie im<br />

Fall <strong>der</strong> Polyneuritis. Am 8.März fragte ein Arzt aus dem St. Franziskus-Krankenhaus in Köln-Ehrenfeld<br />

nach den möglichen neurologischen Wirkungen von <strong>Contergan</strong>, da er selbst nach Einnahme des<br />

Mittels über mehrere Monate an <strong>der</strong>artigen Symptomen gelitten hatte. Er erhielt folgende<br />

Antwort:“Wir möchten Sie darüber informieren, dass uns bis heute keine <strong>der</strong>artigen Berichte erreicht

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