Contergan oder die Macht der Arzneimittelkonzerne - Sternentaler
Contergan oder die Macht der Arzneimittelkonzerne - Sternentaler
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Einige Vertreter <strong>der</strong> Ärzteschaft waren offensichtlich recht immun gegenüber <strong>der</strong> „Diplomati“ <strong>der</strong><br />
Stolberger Firma. Professor Friedrich Tiemann, Direktor <strong>der</strong> Medizinischen Universitäts-Poliklinik in<br />
Bonn, schrieb am 26.April nach Stolberg:“Ich bedaure zutiefst <strong>die</strong> Veröffentlichung… Die<br />
gegenwärtige Diskussion über <strong>die</strong> Nebenwirkungen des <strong>Contergan</strong>s kann nicht durch Ihren Brief vom<br />
17.April bagatellisiert werden. Es scheint nur, dass Ihr Brief versucht, das zentrale Anliegen <strong>der</strong><br />
Diskussion zu umgehen, und Sie offensichtlich annehmen, dass <strong>die</strong> Empfänger Ihres Rundschreibens<br />
so unintelligent und ungebildet sind, das sie mit einer <strong>der</strong>artigen vereinfachten Propaganda<br />
beeindruckt werden können… Ihr Brief ist eine ungeheuerliche Anschuldigung und eines seriösen<br />
Unternehmens unwürdig.“<br />
Am 7.Mai 1969 erklärte Professor Tiemann während <strong>der</strong> Vernehmungen in Alsdorf, dass er niemals<br />
eine Antwort auf <strong>die</strong>sen Brief erhalten habe.<br />
Dr. Hubert Gigglberger aus Regensburg schrieb ebenfalls Anfang Mai nach Stolberg wegen seiner<br />
Beobachtungen von Nervenschädigungen. Er hielt es für ziemlich „unverantwortlich, ein <strong>der</strong>art<br />
fragwürdiges Mittel immer noch nicht aus dem Handel gezogen zu haben.“ Im Hinblick auf das<br />
Verhalten von Chemie Grünenthal wolle er nicht wie<strong>der</strong> ein Erzeugnis <strong>der</strong> Firma verschreiben. Nach<br />
seiner Meinung war <strong>die</strong> Vertrauenswürdigkeit des Unternehmens insgesamt offen in Frage gestellt.<br />
Dr. Gigglberger wurde von da an zum „Unruhestifter Nr. 1“ im süddeutschen Gebiet. Ein Grünenthal-<br />
Vertreter schrieb an <strong>die</strong> Zentrale.“Wir müssen <strong>die</strong>sen kranken Zahn herausziehen, bevor sich <strong>die</strong><br />
Infektion ausbreitet.“<br />
Ende Mai hatte Grünenthal Berichte über etwa 1300 Fälle von Polyneuritis erhalten. Dass <strong>die</strong><br />
Polyneuritis recht häufig sein konnte, wurde durch einen Arzt aus Nürnberg erläutert, <strong>der</strong> angab,<br />
dass <strong>die</strong> Hälfte seiner mit <strong>Contergan</strong> forte behandelten Patienten jetzt über Prästhesien klagte.<br />
Wie<strong>der</strong> und wie<strong>der</strong> verlangten Ärzte, dass Thalidomid aus dem Handel gezogen werde, aber<br />
vergeblich.<br />
Am 4.Mai trafen sich Leufgens und von Schra<strong>der</strong>-Beielstein mit dem Lizenzpartner Distillers Ltd. In<br />
London, <strong>der</strong> von 75 bis 90 Polyneuritisfällen berichtete. Es war nunmehr <strong>der</strong> Spolberger Firma klar,<br />
dass <strong>die</strong> Polyneuritis nicht auf bestimmte geografische Gebiete <strong>der</strong> Bundesrepublik beschränkt war,<br />
wie sie früher behauptet hatte. Inzwischen war <strong>die</strong> Überwachung von Ärzten und geschädigten<br />
Personen durch Privatdetektive auf Professor Laubenthal, Dr. Voss, Dr. Buchholz, Dr. Helsper, Dr.<br />
Finke und Dr. Frenkel ausgedehnt worden. Der Detektiv Jahnke konnte jedoch nur berichten:“<br />
Jedenfalls ist <strong>die</strong> ganze Aktion nicht durch <strong>die</strong> Industrie, son<strong>der</strong>n durch <strong>die</strong> Ärzte eingeleitet worden.“<br />
Die Lage verschärfte sich, als im Mai drei äußerst ungünstige Artikel in <strong>der</strong> medizinischen Literatur<br />
erschienen: Am 6.Mai erschien Dr.Frenkels Arbeit „<strong>Contergan</strong>-Nebenwirkungen“ in <strong>der</strong><br />
„Medizinischen Welt“, am 12.Mai ein Artikel des Neurologen Professor Scheid „Polyneuritische<br />
Syndrome nach längerer Thalidomid-Medikation“ in <strong>der</strong> „Deutschen Medizinischen Wochenschrift“,<br />
und in <strong>der</strong> gleichen Nummer <strong>die</strong>ser Zeitschrift wurde ein Aufsatz von Dr. Raffauf aus Essen<br />
veröffentlicht:“Bewirkt Thalidomid (<strong>Contergan</strong>) keine Schäden?“<br />
Es genügt, hier den folgenden Ausschnitt aus dem Aufsatz von Raffauf anzuführen:<br />
Anmerkung bei <strong>der</strong> Korrektur:“ Im letzten Prospekt <strong>der</strong> Firma Chemie Grünenthal heißt es in<br />
Ergänzung zu früheren Prospektmaterialien, <strong>die</strong> das Präparat als „ungiftig“ bezeichneten, dass es<br />
nach mehr <strong>o<strong>der</strong></strong> weniger langem Gebrauch von <strong>Contergan</strong> zu Überempfindlichkeitserscheinungen<br />
kommen könne. Merkmale solcher Nebenwirkungen könnten plötzlich auftretende Hautausschläge<br />
<strong>o<strong>der</strong></strong> beständige Unruhe, Zittern, Kribbeln <strong>o<strong>der</strong></strong> Taubheitsgefühl in den Händen bzw. Füßen sein.<br />
Nach dem sofortigen Absetzen des Mittels klängen <strong>die</strong>se allergischen Reaktionen wie<strong>der</strong> ab.-<br />
Mittlerweile haben wir mehr als 20 Fälle <strong>der</strong> beschriebenen Art gesehen und von manchen an<strong>der</strong>en<br />
gehört. Es handelt sich dabei nicht nur um harmlose <strong>o<strong>der</strong></strong> flüchtige Parästhesien, son<strong>der</strong>n um sehr<br />
hartnäckige Störungen <strong>der</strong> beschriebenen Form, <strong>die</strong> sicher auch lange Zeit nach dem Absetzen des<br />
<strong>Contergan</strong> weiter bestehen. Ob man sie als rein allergische Reaktionen aufzufassen berechtigt ist,<br />
möchten wir zunächst sehr bezweifeln.“<br />
Grünenthal nahm seine Zuflucht dazu, <strong>die</strong> wissenschaftliche Befähigung <strong>der</strong> Verfasser <strong>die</strong>ser Artikel<br />
in Frage zu stellen und bezeichnete ihre Berichte als „einseitig“ und „engstirnig“. Drei neue, äußerst<br />
ungünstige Artikel erschienen in <strong>der</strong> deutschen medizinischen Literatur, und Ende Mai übersandte<br />
Dr. von Schra<strong>der</strong>-Beielstein Kopien <strong>die</strong>ser Artikel a <strong>die</strong> Firmen National Drug Company in Phildelphia