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Contergan oder die Macht der Arzneimittelkonzerne - Sternentaler

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<strong>die</strong> möglichen Auswirkungen <strong>der</strong> von Dr. Lenz gemachten Enthüllungen und versuchte <strong>die</strong> Firma zum<br />

sofortigen Zurückziehen des Mittels zu veranlassen. Die Vertreter <strong>der</strong> Firma Grünenthal erklärten,<br />

sie hätten dazu keine Vollmacht, würden aber in <strong>der</strong> Mittagspause mit ihren Vorgesetzten in<br />

Verbindung treten und weitere Instruktionen einholen. Nach dem Mittagsessen hatte sich <strong>die</strong><br />

Haltung <strong>der</strong> Firma erheblich versteift. Die Grünenthal-Vertreter drohten sogar, <strong>die</strong> Firma werde<br />

Entschädigungsansprüche stellen, wenn <strong>die</strong> Behörden das Mittel verbieten würden. Dann for<strong>der</strong>ten<br />

sie, dass Dr. Lenz <strong>die</strong> Konferenz verlassen solle. Als er gegangen war, wurde erklärt, <strong>die</strong> Firma sei<br />

bereit, <strong>die</strong> <strong>Contergan</strong>packungen mit einer speziellen Warnschrift „Nicht einzunehmen während <strong>der</strong><br />

Schwangerschaft“ zu versehen. Die Vertreter <strong>der</strong> Behörde wiesen darauf hin, dass <strong>der</strong>artige<br />

Massnahmen nicht ausreichend seien, aber Chemie Grünenthal war nicht gewillt, irgendwelche<br />

weiteren Zugeständnisse zu machen. Die Behörden waren jedoch zuversichtlich, dass <strong>der</strong> Verdacht<br />

auf <strong>die</strong>se schrecklichen Eigenschaften in <strong>die</strong> Laienpresse durchsickern und einen starken Druck <strong>der</strong><br />

öffentlichen Meinung auf <strong>die</strong> Firma hervorrufen würde.<br />

Auf einer internen Beratung in Stolberg am 25.November erklärte Dr. von Schra<strong>der</strong>-Beielstein, dass<br />

nach seiner Meinung das Zurückziehen des Mittels nicht länger hinausgezögert werden könne.<br />

Mückter vertrat <strong>die</strong> entgegengesetzte Meinung, obwohl er von dem britischen Lizenzpartner darüber<br />

informiert war, dass ein an<strong>der</strong>er Arzt in Australien unabhängig von Lenz eine mögliche kausale<br />

Beziehung zwischen Thalidomid in <strong>der</strong> Schwangerschaft und bestimmten Missbildungen festgestellt<br />

hatte.<br />

Der Verzögerungstaktik <strong>der</strong> Firma Grünenthal wurde ein Ende bereitet, als am 26. November 1961<br />

<strong>die</strong> Zeitung „Welt am Sonntag“ unter <strong>der</strong> Schlagzeile „Missbildungen durch Tabletten.-Der<br />

alarmierende verdacht eines Arztes gegen ein weltweit verbreitetes Arzneimittel“ vor <strong>der</strong><br />

Öffentlichkeit <strong>die</strong> Katastrophe enthüllte. Die Welt am Sonntag zitierte <strong>die</strong> meisten <strong>der</strong> von Dr. Lenz<br />

in seinem Brief an Chemie Grünenthal vom 16.November vorgebrachten Argumente: „Je<strong>der</strong> Monat<br />

Verzögerung in <strong>der</strong> Klärung bedeutet, dass 50 bis 100 schrecklich verstümmelte Kin<strong>der</strong> geboren<br />

werden.“ Die For<strong>der</strong>ungen von Lenz, das Mittel sofort zurückzuziehen, wurden von <strong>der</strong> Zeitung<br />

ebenfalls wie<strong>der</strong>holt. Sie fuhr fort: „Sofortige Zurückziehung des Präparates! Sollte <strong>die</strong>se Warnung,<br />

getragen von ärztlichem Verantwortungsbewußtsein, ignoriert werden? Es ist höchste Zeit, dass <strong>die</strong><br />

Behörden eingreifen, und zwar unverzüglich!“<br />

Dieser Artikel in <strong>der</strong> Welt am Sonntag enthüllte <strong>die</strong>se pharmakologische Bombe zum ersten Mal dem<br />

erschreckten Publikum.<br />

Am gleichen Tag beschloss Chemie Grünenthal, das Präparat vom Markt zurückzuziehen. Als Grund<br />

dafür gab <strong>die</strong> Firma vor, mehr <strong>die</strong> Stärke <strong>der</strong> öffentlichen Meinung zu fürchten, <strong>die</strong> durch den Artikel<br />

in <strong>der</strong> Welt am Sonntag entstehen könnte, und weniger <strong>die</strong> tatsächliche Schädigung selbst. Am<br />

27.November 1961 schrieb Grünenthal an <strong>die</strong> Arzneimittelkommission <strong>der</strong> Deutschen Ärzteschaft:<br />

„Da <strong>die</strong> Presseberichte <strong>die</strong> Basis <strong>der</strong> wissenschaftlichen Diskussion untergraben haben, haben wir<br />

beschlossen, <strong>Contergan</strong> sofort vom Markt zurückzuziehen.“ Ein Brief vom 22.Dezember 1961 an den<br />

japanischen Lizenzpartner besagt: „ Infolge des ständigen Druckes von Dr. Lenz auf <strong>die</strong><br />

Gesundheitsbehörden und vor allem wegen <strong>der</strong> Pressekampagne in Deutschland, <strong>der</strong>en Ausbruch<br />

wir befürchteten, und <strong>die</strong> auch tatsächlich ausgebrochen ist, waren wir schließlich gezwungen, …am<br />

25. November <strong>Contergan</strong> vom Markt zurückzuziehen.“<br />

Am 27.November wurde <strong>Contergan</strong> aus dem Handel gezogen und mit ihm auf ausdrückliches<br />

Ersuchen des Ministeriums des Inneren von Nordrhein-Westfalen <strong>die</strong> an<strong>der</strong>en thalidomidhaltigen<br />

Präparate.<br />

Gleichzeitig verbreitete das BRD-Gesundheitsministeriums eine klare, aber vorsichtige Warnung, dass<br />

<strong>Contergan</strong> im Verdacht stehe, ein wesentlicher Faktor bei <strong>der</strong> Auslösung <strong>der</strong> Phokomelie zu sein.<br />

Radio- und Fernsehstationen und <strong>die</strong> Titelseiten <strong>der</strong> Zeitungen verbreiteten schnell Meldungen, in<br />

denen <strong>die</strong> Frauen vor <strong>der</strong> Einnahme des Mittels gewarnt wurden.<br />

Anfang 1961 hatte Professor Hans Weicker von <strong>der</strong> Universitätskin<strong>der</strong>klinik Bonn bereits intensiv<br />

Informationen über <strong>die</strong> plötzliche Zunahme <strong>der</strong> Phokomelie gesammelt. Weicker hatte<br />

Informationen aus 50 Familien mit Kin<strong>der</strong>n mit <strong>die</strong>sen Missbildungen. Die Mütter wurden befragt,<br />

welche Mittel sie während <strong>der</strong> Schwangerschaft genommen hatten. In 22 Prozent gaben sie an,<br />

während <strong>der</strong> Frühschwangerschaft <strong>Contergan</strong> eingenommen zu haben. Als Weicker am 18.November

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