Zeitgenossen - Kommentar Drucke bis Rezeption
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VI-30<br />
DIE ZEITGENOSSEN (APPARAT)<br />
und ihn bitter und wurmstichig findet, kann nicht häßlicher getäuscht<br />
sein, als wer mit der Hoffnung eines schönen Genusses und<br />
mannichfacher Anregung und Belehrung an die Lecture der obgenannten<br />
Schrift geht, die er bald mit Ekel und Verdruß wegwerfen<br />
wird. [...]<br />
Die Capitel des ersten Heftchens sind: ‚Der Mensch des 19.<br />
Jahrhunderts‘; ‚Das Jahrhundert‘; ‚Die neue Welt‘. Was läßt sich<br />
nicht unter diese Rubriken hineinschieben! In der That ist auch Alles<br />
durcheinander wie Kraut und Rüben; politisch- philosophischästhetisch-<br />
nationalökonomisch-philanthropisch seinsollende Sätze<br />
wimmeln wie ein Ameisenhaufen durcheinander, und wir möchten<br />
uns nicht die Mühe nehmen, dem sich vielleicht hindurchziehenden<br />
Faden nachzuspüren. Wir geben lieber ein paar Pröbchen:<br />
‚Die Moral der modernen Zeit, die sich von der Religion getrennt<br />
hat, wird mehr oder weniger immer von egoistischen Principien<br />
ausgehen, weil die Selbstbestimmung die nächste Folge der<br />
Bildung war, die die Menschen unserer Zeit über ihre angeborenen<br />
Existenzen emporhebt, zugleich aber auch das Heft ihrer Zukunft<br />
für immer ihnen in die Hand gibt. Das Mittelalter hatte eine<br />
Durchschnittsmoral, die mehr in leidendem Gehorsam als activer<br />
Freiheit bestand. ‘<br />
Eine Prämie dürfte man Dem aussetzen, der hierin Sinn und<br />
Zusammenhang entdeckt!<br />
‚Welches Europa triumphirte bei Leipzig, bei Waterloo? Das<br />
Europa vor oder nach der französischen Revolution? War Napoleon<br />
nur eine Person, d. h. der Ehrgeiz? War er eine Nation, d. h. der<br />
Übermuth? War er ein Begriff, d. h. war er die Revolution?‘<br />
Also Person = Ehrgeiz; Nation = Übermuth; Begriff = Revolution!<br />
eine tiefsinnige Logik. Weiter:<br />
‚Eine vage Tradition über Liebe liegt natürlich den Empfindungen<br />
des Mädchens unter, allein sie verwandelt sich nicht in ein<br />
Urtheil, in eine Vergleichung, sondern nur in das Gefühl, dereinst<br />
eine Verpflichtung haben zu müssen. Die Tradition der amoureusen<br />
Liebe spricht sich hier nur in dem Bewußtsein aus, daß man Diesen<br />
oder Jenen g e r n hat ...<br />
Die Ehen unsers Jahrhunderts sind weit mehr compromittirt als<br />
die der vergangenen.<br />
© EDITIONSPROJEKT KARL GUTZKOW, MARTINA LAUSTER, EXETER 2000 (F. 1.0)