Jahresbericht 1988/89
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und seltsame Gefäße - oder waren es Tiere? - sausten auf vier Rädern an<br />
dem verblüfften Mädchen vorbei. In diesen stinkenden und lärmenden Dingern<br />
glaubte sie Menschen zu erkennen. Der Prinzessin war stets gesagt worden,<br />
übertriebene Gefühlsäußerungen seien nicht vornehm, daher gebot sie ihrem<br />
immer lauter werdenden Herzklopfen Einhalt und vergaß selbst in diesem Augenblick<br />
ihre Erziehung nicht. Nachdem sich das Mädchen also gefaßt hatte,<br />
wanderte es weiter die Straße entlang. Seine zierlichen Füße, die längere<br />
Fußmärsche nicht gewohnt waren, schmerzten bereits, als sie den Stadtrand<br />
erreichte. Die großen Wohnblöcke, die die Straße säumten, identifizierte<br />
Dornröschen bald als Häuser, obwohl sie mit den Behausungen des<br />
Mittelalters nicht sehr viel gemeinhatten . Nun wurde ein weiteres Problem<br />
offenbar: das Äußere der armen Prinzessin! Zu ihrer Zeit hatte sie zwar als<br />
sehr hübsch gegolten, doch das Schönheitsideal hatte sich gewandelt, und<br />
bekanntlich ist die Mode eine sehr schnellebige Sache. Dornröschens Kleider<br />
waren deshalb nicht unbedingt auf dem neuesten Stand. Aus diesem Grund<br />
mußte sie es sich gefallen lassen, daß die Leute ihr lachend nachsahen und<br />
mit den Fingern auf sie zeigten.<br />
Wenn ihr Vater das gesehen hätte, hätte er ihr die Köpfe der spottenden<br />
Ubeltäter auf einem goldenen Tablett, mit Blumen garniert auf ihr Tischchen<br />
stellen lassen. Hier fand sich jedoch niemand, der die Passanten an ihrem<br />
unverschämten Treiben hinderte.<br />
Dornröschen war höchst verärgert und beschloß, auf irgendeinem Weg zu dem<br />
König zu gelangen, den es ja ohne Zweifel hier irgendwo geben mußte. Da<br />
sie sich in dieser fremden Umgebung nicht zurechtfand, war sie gezwungen,<br />
jemanden nach dem Aufenthalt des Herrschers zu fragen. Sie entschied sich<br />
für einen alten, gut gekleideten Mann, der auf einer Bank saß und griesgrämig<br />
vor sich hinstarrte . Das Mädchen trat vor ihn hin und erkundigte<br />
sich höflich nach der Residenz des Königs. Erstaunt musterte der Befragte<br />
die Prinzessin und wies dann mit mürrischer Kopfbewegung in eine Richtung.<br />
Als Dornröschen wissen wollte, ob sich Ihre Majestät derzeit dort aufhalte,<br />
murmelte der Alte etwas von "völlig unwissenden Touristen, die blöde Fragen<br />
stellen", und laut setzte er hinzu: "Ich wünschte, es wäre so." Das Mädchen<br />
setzte sich neben ihn auf die Bank und hörte aufmerksam zu, als er fortfuhr:<br />
"Ich habe noch unseren letzten Kaiser gesehen, aber das ist lange her. Ich<br />
bin damals sehr jung gewesen. Ja, das waren noch Zeiten!" Erschrocken<br />
meinte Dornröschen: "Der letzte Kaiser?! Soll das etwa heißen, es gibt keinen<br />
König mehr?" Entgeistert starrte der Mann seine Sitznachbarin an und antwortete:<br />
"Aber weißt du denn nicht, daß wir seit vielen Jahren in einer<br />
Demokratie leben?" Die Prinzessin wußte mit dem Wort "Demokratie" nichts<br />
anzufangen, doch der alte Herr erklärte es ihr geduldig, während er sich<br />
immer mehr über das seltsame Kind wunderte. "Aber das kann doch nicht<br />
funktionieren! Ein Land, in dem alle Leute sagen, was sie wollen; ein Land,<br />
in dem alle Leute bestimmen können! Mein Vater hat mir immer gesagt, das<br />
Volk brauche eine starke Hand, die es in seiner Unwissenheit leitet!" rief<br />
das [viädchen aus. Der ivJann seufzte: "Ja, dein Vater ist wohl ein vernünftiger<br />
Mann, und du bist ein vernünftiges Mädchen. Man findet heutzutage<br />
wenig junge Leute, die so denken. Jawohl, man bräuchte einen starken Mann,<br />
der das Volk einigte und ihm Gehorsam beibrächte. Dann wäre endlich Ruhe!<br />
Das hier ist Chaos, das ist Anarchie!" Die letzten Worte hatte er sehr heftig<br />
gesprochen, nun erhob er sich von der Bank. Er wolle ein bißchen spazierengehen<br />
, bemerkte er und forderte Dornröschen auf, ihm Gesellschaft zu leisten.<br />
Die Prinzessin war sogleich einverstanden; schließlich kannte sie niemanden<br />
sonst in dieser seltsamen Welt. Mit schlurfenden Schritten setzte sich der Alte<br />
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