05.11.2013 Aufrufe

Jahresbericht 1988/89

Jahresbericht 1988/89

Jahresbericht 1988/89

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

hatte. Statt tausender [vlenschen war nur mehr ein kleines Mädchen mit seiner<br />

Mutter in dem Kasten eingesperrt. Vergnügt über so viel Platz, sang<br />

das Mädchen fröhliche Lieder und tanzte im Fernseher umher, während seine<br />

Mutter dazu Klavier spielte. Die Freude des Kindes und seiner Mutter ward<br />

sofort auf mich Übertragen, und ich beschloß, mich bei dem Verkäufer im<br />

Namen aller Opfer zu bedanken. Schwungvoll öffnete ich die Eingangstüre des<br />

Geschäftes und rief mit lauter Stimme dem Angestellten zu: "Mein Freund!<br />

Ich wußte, daß Ihr kein böser Mensch seid! Habt Dank für Eure gute Tat<br />

im Namen aller!" Der Verkäufer blickte mich verdutzt an, griff sich an den<br />

Kopf und murmelte etw1:s von "Türe zu!", während er sich in den Lagerraum<br />

des Geschäftes zurückzog.<br />

Frohen Mutes verließ ich den Laden und begann mich nach einer Bleibe umzusehen.<br />

Doch wo sollte ich einen Wohnort finden, der meinen Ansprüchen genügen<br />

konnte? Ich war gewohnt, mit den Tieren aufzustehen und mit der<br />

Sonne schlafenzugehen. Sollte ich nun, wo ich bereits 77 Jahre zählte, meine<br />

Gewohnheiten ändern? Sollte ich auf den geliebten Wald verzichten und in<br />

einer "Betonwüste" leben? Nein, das wollte ich nicht! Ich entschloß mich,<br />

einen Wald zu suchen. Unermüdlich pilgerte ich durch die Stadt - doch vergebens.<br />

Plötzlich schlug eine alte Turmuhr fünfm:JJ.. Menschenrnassen strömten<br />

aus den grauen Gebäuden zu Stufen, die anscheinend bis in das Erdinnere<br />

führten. Noch ehe ich reagieren konnte, wurde ich von dem Sog mitgezogen<br />

und befand mich auf einmal in einer unterirdischen Halle. Die Wände<br />

dieses Raumes waren mit Farbe besprüht und wurden mit Lichtern, die der<br />

Sonne ähnlich waren, jedoch von der schwarz gefärbten Decke kamen, beleuchtet.<br />

Die IVJenschen versammelten sich; nervös und abgespannt steckten<br />

sich die meisten von ihnen weiße Stangen, die sie später anzündeten, in<br />

den Mund. Daraufhin begannen sie, stinkenden Rauch auszuatmen. Ich<br />

wußte nicht, warum sie das taten, doch je besser ich die Menschen des<br />

20. Jahrhunderts kennenlernte , desto mehr zweifelte ich an ihrer Art zu<br />

leben und umso mehr sehnte ich mich nach der Heimat.<br />

Während ich in Gedanken versunken in dieser Halle stand, erschien plötzlich<br />

unter immer lauter werdendem Rattern ein silbrig-glänzender, starrer Wurm.<br />

Ruckartig öffneten sich zahlreiche Türen, worauf die Wartenden, wie von<br />

Panik ergriffen, in das Gefährt stiegen. Mir wurde klar, daß der Mensch<br />

dieses Tier nutzte, um schneller vorwärtszukommen , und ich begriff, daß<br />

diese Tatsache für mich die letzte Möglichkeit darstellte, einen Wald zu finden.<br />

Unsicher betrat ich ebenfalls das silberne Ungeheuer, und nachdem eine<br />

[Viännerstimme "Bitte zurücktreten! Türen schließen!" von oben herunter gerufen<br />

hatte, setzte sich der Wurm in Bewegung. Mir wurde flau im Magen,<br />

sodaß ich Platz nahm. Eine Frau mir gegenüber strickte eifrig an einem Schal.<br />

Ich nutzte diese Gelegenheit, ungestört mit jemandcm reden zu können, und<br />

fragte "ganz beiläufig", ob es in der Nähe einer Haltestelle einen Wald gäbe.<br />

Die Frau bemerkte bereits an meiner Aussprache, daß ich ein Fremder war.<br />

Stolz erwiderte sie, daß die U-Bahn, wie sie das Gefährt, in dem wir saßen,<br />

nannte, direkt vor einem großen Wald Endstation hätte. Obwohl mir diese<br />

Auskunft sehr große Freude bereitete, konnte ich meine MÜdigkeit nicht mehr<br />

zurückhalten, und ich mußte für kurze Zeit die Augen schließen. Auf einmal<br />

wurde ich durch die mir bereits bekannte Männerstimme, die von oben her<br />

"Endstation!" rief, geweckt. Schleunigst verließ ich die U-Bahn und eilte<br />

die Stufen hinauf ins Freie. Doch als ich den Wald erblickte, lösten sich<br />

meine Freude, meine Zukunftspläne und Vorstellungen in Nichts auf. Der Wald<br />

war zur einen Hälfte tot, zur anderen Hälfte krank. Die Luft erinnerte mich<br />

nicht an die übliche Waldluft , sondern sie war verdreckt, so wie alles in<br />

17

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!