Anduin 95
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ANDUIN <strong>95</strong><br />
KURZGESCHICHTEN<br />
Er war Waffenschmied, und für sie fertigte<br />
er sein Meisterstück: eine Klinge aus reinem<br />
Eis, Frostbiss genannt, mit mächtigen Runen<br />
verziert. Das Eis stammte aus dem Herz eines<br />
Gletschers und war so kalt, dass es ständig<br />
von einer Schicht feinen Nebels umgeben<br />
ward. Doch er fand keine Gnade in ihren Augen.<br />
Eine Handelskarawane entdeckte ihn halb<br />
vergraben in einer Schneewehe. Seine Augen<br />
starrten blicklos gen Himmel, aber es<br />
war noch Leben in ihm. Man brachte ihn in<br />
die nächste Herberge und schickte nach einem<br />
Heiler. Dort erzählte er im Fieberwahn<br />
seine Geschichte, und ungestillte Sehnsucht<br />
lag in seiner Stimme, als er von der Dame berichtete<br />
und wie sehr er sich nach ihrer Berührung<br />
sehne.<br />
In dieser Nacht fauchte ein eisiger Wind<br />
um die Herberge und rüttelte an den Fensterläden.<br />
Schnee verdichtete sich zu einer<br />
weißen Mauer um das Haus, und Hagelkörner<br />
prasselten wie Steine gegen die Wände.<br />
Erst in den frühen Morgenstunden ließ das<br />
Wüten des Sturmes nach.<br />
Als man am nächsten Morgen das Zimmer<br />
des Fremden betrat, fand man sein Fenster<br />
offen und ihn, mit einer dicken Eisschicht bedeckt,<br />
auf seiner Pritsche liegen. Doch das<br />
Grausigste war: Seine Lippen waren zu einem<br />
seligen Lächeln verzogen.<br />
Dies ist die Geschichte, Reisender. Und<br />
falls Ihr den Weg über das Gebirge nehmt<br />
und oben auf der Eisspitze ein Schloss zu<br />
sehen meint, dann wendet den Blick ab, befehlt<br />
Euch Gottes Schutz an und geht weiter,<br />
so schnell Euch Eure Füße tragen.<br />
Lebt wohl. •<br />
Heimkehr<br />
TEXT: FRIEDERIKE SCHMUTZLER<br />
This is for long-forgotten<br />
light at the end of the world<br />
Horizon crying<br />
the tears he left behind long ago<br />
— Nightwish: The Islander<br />
Die Wellen brandeten an die Klippen, und<br />
der Wind blies die salzige Luft landeinwärts.<br />
Möwen kreischten über dem Meer, während<br />
sie immer wieder ihre Runden drehten,<br />
um dann unvermittelt herunter zu stossen<br />
in das gischtige Wasser und mit ihrer Beute<br />
im Schnabel in ihre Felsennester zurückzukehren.<br />
Keine von ihnen beachtete den alten<br />
Mann, der schon den ganzen Morgen auf einem<br />
Stein saß und gedankenverloren in die<br />
Ferne sah, denn sie wussten, ohne sein Boot<br />
war ein Fischer keine Konkurrenz für sie.<br />
Der alte Fischer seinerseits hatte kein Interesse<br />
an den Möwen und ihrem Tun. Er war<br />
mit seinen Gedanken beschäftigt, die ihm<br />
keine Ruhe ließen. Schon seit Tagen fand er<br />
keinen Schlaf mehr, merkwürdige Träume<br />
quälten ihn des Nachts und liessen ihn am<br />
Morgen müde und erschöpft aufwachen.<br />
Er war bei der Dorfheilerin gewesen, doch<br />
diese hatte ihn nur argwöhnisch angeblickt<br />
wie es alle Bewohner des Dorfes taten, auch<br />
nach dieser langen Zeit, und ihm geraten, am<br />
Abend ein wenig Milch zu trinken mit einer<br />
Kräutermischung, die sie ihm für einen viel zu<br />
hohen Preis verkauft hatte.<br />
Aber er war nun mal keiner der ihren, und<br />
das spürte er jeden Tag mehr.<br />
Seufzend erhob der alte Mann sich nun von<br />
seinem harten Sitz und richtete sich langsam<br />
auf, denn seine Knie schmerzten. Das Alter<br />
ging an niemandem spurlos vorüber. Noch<br />
einmal sah er zu den Möwen hinauf, dann<br />
ging er den Hügel hinab in Richtung Dorf.<br />
<br />
„Wo hast Du nur wieder gesteckt?“<br />
Seine Schwiegertochter erwartete ihn, die<br />
Hände in die Hüften gestemmt, in der Tür der<br />
Hütte, die er mit der Familie seines Sohnes<br />
teilte. Früher war dies sein Haus gewesen,<br />
erinnerte er sich, und er hatte hier das Sagen<br />
gehabt. Jetzt führte dieses schmallippige<br />
Wesen sich auf, als sei sie der König persönlich,<br />
und behandelte ihn wie einen ihrer Untertanen.<br />
„Du solltest Thrun mit den Netzen<br />
helfen,“ geiferte sie weiter, als sie bemerkte,<br />
dass er nicht auf ihre Worte reagiert hatte,<br />
sondern sie nur ansah. Sie hielt ihn für einen<br />
dummen Alten, der seine Zeit gehabt hatte,<br />
er war ihr lästig, das wusste er ganz genau.<br />
Seufzend schüttelte er den Kopf, was ihm<br />
nur ein schnippisches Brummen einbrachte,<br />
und ging weiter in Richtung des Anlegers.<br />
„He, da bist Du ja!“ Sein Sohn kam freudestrahlend<br />
auf ihn zu, und als der Alte in die<br />
Augen des jüngeren sah, durchfuhr in ein<br />
Stich.<br />
Es waren ihre Augen, die ihn da anblickten,<br />
ihr Meergrün und ihre Lachfalten, durch die<br />
das ganze Gesicht stets freundlich und jung<br />
aussah. Jeder hatte sie gemocht und verehrt,<br />
und genauso war es bei seinem Sohn. Warum<br />
nur hatte dieser wunderbare Mensch diesen<br />
Drachen heiraten müssen, der jetzt das Regiment<br />
in seinem Haus führte? Doch er würde<br />
nichts sagen, wie er schon lange nichts mehr<br />
sagte und gute Miene zum bösen Spiel machte.<br />
Stattdessen nuschelte er nur etwas von<br />
„Bin spazieren gewesen“ und ging dann mit<br />
seinem Sohn zu den anderen Fischern, um<br />
die Netze auszubessern. Während sein Sohn<br />
angeregt mit den anderen Männern scherzte<br />
und lachte, verrichtete der Alte seine Arbeit<br />
schweigend. Man grüsste ihn, seine Anwesenheit<br />
wurde zur Kenntnis genommen, aber<br />
das war alles, was er sich erhoffen durfte,<br />
seit Jahren, ja, sogar Jahrzehnten. Obwohl er<br />
schon so lange unter den Bewohnern dieser<br />
Insel lebte, wäre er niemals einer der Ihren.<br />
Zu eingeschworen waren die Gemeinschaft<br />
und die Bande der Menschen untereinander,<br />
als das ein Fremder Zugang zu ihnen gefunden<br />
hätte.<br />
Er war kein Fischer wie sie gewesen, obwohl<br />
er sich alle Mühe gegeben hatte, um<br />
sich an sie anzupassen, er hatte eine Frau aus<br />
ihrem Dorf geheiratet und mit ihr einen wunderbaren<br />
Sohn gezeugt. Und doch wusste er,<br />
dass sie hinter seinem Rücken immer noch<br />
von ihm als dem „Neuen“ sprachen – nach<br />
bald vierzig Jahren.<br />
Seite 98<br />
Kurzgeschichten & Comics