Probefahrt ins Chaos - Frankfurter Neue Presse
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Seite 6 HINTERGRUND Samstag, 24. September 2011<br />
KOMMENTAR<br />
Peinliche Auftritte<br />
Der Regierungssprecher<br />
twittert,<br />
Angela Merkel<br />
hat Podcasts auf<br />
ihrer Internetseite(bundeskanzlerin.de),<br />
und viele Parteien<br />
haben einen<br />
You-Tube-<br />
Kanal.<br />
Antonia<br />
Göhren<br />
Und wendas ansprechen soll? Uns<br />
Jugendliche! Beim Anschauen<br />
dieser Videos sollen wir denken:<br />
„Politik ist ja doch nicht so langweilig,<br />
wie ich immer dachte! Die<br />
sind ja cool beider Partei XY,die<br />
werdeich wählen! Und vielleicht<br />
engagiereich mich ja selbst mal in<br />
der Politik!“<br />
Doch sind das wirklich die Reaktionen,<br />
welche die Informationspolitik<br />
im Internet beiuns auslöst?<br />
„Coole“ Musik im Hintergrund der<br />
Partei-Videos? Private Details über<br />
Mitarbeiter der Bundesregierung?<br />
Soll uns das wirklich ansprechen?<br />
Ich glaubenicht, dass diese Internetauftritte<br />
der Politiker wirklich<br />
effektiv sind, und ich kenne<br />
auch keinen aus meinem Freundeskreis,<br />
der sich ernsthaft diese<br />
Beiträgeanschaut beziehungsweise<br />
anhört. Die Politiker schätzen<br />
unsereAltersgruppekomplett<br />
falsch ein. Bei Erwachsenen, die<br />
krampfhaft versuchen, auf jugendlich<br />
zu machen, denken wir eher<br />
an Midlife-Crisis als an Politiker,<br />
die sich Ansehen beijungen Leuten<br />
schaffen wollen. Ehrlich gesagt,<br />
finde ich das eher peinlich. Und ich<br />
fragemich auch, ob es den Politikern<br />
wirklich darum geht, uns für<br />
die Politik zu interessieren. Geht es<br />
ihnen nicht vielmehr um ihr eigenes<br />
Image?<br />
Im Internet, wo sich hauptsächlich<br />
jungeMenschen „rumtreiben“,<br />
wittern die Politiker deshalb eine<br />
Chance, ihr Imageaufzupolieren.<br />
Schließlich sind wir die neuen<br />
Wähler und, wasdie Politik betrifft,<br />
(zum Teil) noch völlig unorientiert<br />
und beeinflussbar.<br />
Grüne kritisieren<br />
Bürgschaft für<br />
Akw in Brasilien<br />
Berlin. Die Grünen haben geplante<br />
Exportkreditgarantien für ein umstrittenes<br />
brasilianisches Atomkraftwerk<br />
kritisiert. „Der schwarz-gelbe<br />
Atomlobbyismus im Ausland geht<br />
auch nach der nuklearen Katastrophe<br />
in Fukushima weiter“, sagte<br />
der Haushaltspolitiker Sven-Christian<br />
Kindler. Im Haushaltsausschuss<br />
des Bundestags hatte die<br />
Bundesregierung laut Kindler mitgeteilt,<br />
dass eine Grundsatzzusage<br />
für die Hermesbürgschaft für den<br />
Bau des Meilers Angra 3umsechs<br />
Monate verlängert worden sei. Sie<br />
umfasse 1,3 Milliarden Euro. dpa<br />
<strong>Neue</strong> Initiative für<br />
Afghanistan<br />
New York. Der Wiederaufbau in<br />
Afghanistan soll durch eine engere<br />
wirtschaftliche Verflechtung mit<br />
den Nachbarstaaten unterstützt<br />
werden. Dazu wurde in New York<br />
am Rande der UN-Generalversammlung<br />
eine Initiative mit dem<br />
Namen „<strong>Neue</strong> Seidenstraße“ gestartet.<br />
Das Vorhaben wird von den<br />
USA, Deutschland und Afghanistan<br />
getragen. Ziel ist es, das Land am<br />
Hindukusch zu einer regionalen<br />
Handelsdrehscheibe zu machen.<br />
Geplant ist auch eine engere regionale<br />
Zusammenarbeit in den Bereichen<br />
Transport und Energieversorgung.<br />
Ziel ist es, Afghanistan unabhängiger<br />
von Transferzahlungen<br />
des Westens werden zu lassen. Vergleichbare<br />
Initiativen kamen allerdings<br />
in den vergangenen Jahren<br />
kaum voran. dpa<br />
Oppositionsführer<br />
siegt in Sambia<br />
Lusaka. Oppositionsführer Michael<br />
Sata hat die Präsidentenwahlen im<br />
afrikanischen Sambia gegen den<br />
bisherigen Präsidenten Rupiah<br />
Banda gewonnen. Nach Angaben<br />
des Obersten Richters Sakala wurde<br />
der 74-Jährige aufgrund seines uneinholbaren<br />
Vorsprungs zum Sieger<br />
erklärt, bevor alle Stimmen ausgezählt<br />
waren, berichtete die sambische<br />
Zeitung „The Post“. Bandas<br />
Partei MMD führte das Land seit<br />
1991. Bei den Wahlen war eszugewalttätigen<br />
Konflikten gekommen.<br />
5,2 Millionen registrierte Wähler<br />
waren aufgerufen, ein neues Parlament<br />
und den Präsidenten zu wählen.<br />
dpa<br />
Politik?<br />
junge zeitung<br />
„Das ist Leidenschaft!“<br />
„Danke für den<br />
netten Wunsch,<br />
ist ja selten hier“<br />
Die Bundesregierung gibt sich<br />
modern und jugendlich. Ihr<br />
Sprecher,der ehemaligeZDF-<br />
Journalist Steffen Seibert,<br />
schreibt über den Nachrichtendienst<br />
Twitter.Unter dem<br />
Namen „@RegSprecher“ sendet<br />
er dort mehrmals täglich<br />
Meldungen in SMS-Länge. Hier<br />
einige(kuriose) Beispiele aus<br />
den vergangenen Monaten:<br />
@7. März (Rosenmontag):<br />
„Auch RegSprecher macht<br />
heute karnevalsfrei (Politik immer<br />
im Blick). Allen Jecken und Narren<br />
da draußen einen tollen Tag, helau,<br />
aalaf, usw.“<br />
@20. März: Seibert bedankt sich<br />
bei einem Nutzer: „Danke für<br />
den netten Wunsch, ist ja eher selten<br />
hier.“<br />
@22. März: Ein Nutzer fragt:<br />
„Mal ganz ehrlich: War’s beim<br />
ZDF spannender als bei Merkel?“<br />
RegSprecher antwortet: „Nein.“<br />
@30. März: Ein Nutzer namens<br />
Frerichs fragt: „Hat RegSprecher<br />
das gemacht, weil er ein junger<br />
tougher Typ sein will?“ Reg-<br />
„Ich bin ein sehr politischer Mensch“, sagt die frühere Bundestagsabgeordnete Anna Lührmann. Sie hat mit jungen Jahren viel bewegt. Fotos: Finja Filzinger Sprecher antwortet: „,Jung und<br />
tough‘, nur weil man mit 50 nun<br />
Viele Jugendliche interessieren sich nicht sonderlich für Politik –aber es kann sichlohnen<br />
beruflich twittert? Wenn es so einfach<br />
wäre...“<br />
Mit 19 Jahren wurde sie in den gement und vor allem ihre Meinannt worden ist –allerdings erst, Zum Schluss weist uns noch An-<br />
@ Bundestag gewählt und gehörte nung zur Politikverdrossenheit der wenn die Lage es für ihre zweijährina Lührmann darauf hin, dass<br />
1. April: „Kanzlerin am Menis-<br />
nach kurzer Zeit dem<br />
deutschen Jugendlichen – und ge Tochter zulässt. Außerdem will nicht nur die Jugendlichen politikkus<br />
operiert, alles gut verlau-<br />
wichtigsten Ausschuss an. Der auch der Erwachsenen.<br />
sie eine Doktorarbeit über die araverdrossen sind. Diese Eigenschaft<br />
fen. Sie arbeitet von zuHause aus<br />
Lebenslauf vonAnna Lührmann Angefangen hat bei Anna Lührbische Revolution verfassen. trifft vor allem auch auf die Er-<br />
und will wie geplant Sonntag zur<br />
ist ein Beispiel dafür,was man mann alles mit einer Greenpeace- Denkt sie daran, jemals wieder in wachsenen zu. Es scheint also ein<br />
Eröffnung Hannovermesse.“ (An-<br />
als Jugendlicher in der Politik Kindergruppe. Sie setzte sich als die Politik zurückzukehren? „Viel- Gesellschaftsproblem zu sein, dass<br />
merkung der Redaktion: Was sie<br />
erreichen kann, wenn man sich Kind gegen Tierversuche ein, samleicht“, erwidert sie, „denn ich bin man nicht mehr für seine Interes-<br />
auf Gehhilfen auch tat.)<br />
@ bemüht.<br />
melte Unterschriften, wurde aktiv. seitdem immer auf der Suche, etsen eintritt.<br />
1. April: „Habe mit Kanzlerin<br />
Weiter ging es dann mit der „Grüwaszuverändern.“ Engagiert: Mitglieder des „Europäi- telefoniert. Sie hat sich sehr<br />
� Von Marie Mußler und Marisa Diehl nen Jugend“, der Jugendorganisati- In Sachen Politikbegeisterung Fehlende Themen<br />
schen Jugendparlaments“ 2010 in über Genesungswünsche per Twiton<br />
der Grünen. „Dort habe ich viel bringt uns Frau Lührmann beson- Sicherlich fehlen die Themen, die Frankfurt. Foto: dpa ter gefreut und bedanktsich dafür.“<br />
@ Frankfurt. 5. Stunde, Politikunter- Vorwissen für den Bundestag geders eine Sache nahe: Man müsse jeden ansprechen. In einem Wohl-<br />
3. April: Zur Frage, warum er<br />
richt. Das Thema lautet „Demokrasammelt –ich hatte teilweise mehr für seine Ziele kämpfen. Wenn man standsstaat geht es dem größten<br />
überhaupt twittert: „Nachdem<br />
tie in der heutigen Zeit“, der Lehrer parat als manch ein anderer Kolle- einfach wegbleibe und sagt, dass Teil gut –dabesitzt niemand mehr<br />
es viele Regierungen weltweit tun,<br />
ist am Verzweifeln. „Leute, warum ge“, erzählt sie und lacht.<br />
Politik nicht interessant genug sei, die Muße für etwaseinzutreten.<br />
fand ich es an der Zeit zu twittern.<br />
arbeitet ihr nicht mit? Politik geht<br />
dann sei das unpolitisch. „Es hilft Schaut man sich im aktuellen<br />
Kanzlerin wareinverstanden.“<br />
jeden etwas an! Ist euch denn alles Respekt verschafft<br />
@ nicht zu warten, bis jemand Geschehen um, fällt auf,dass vor al-<br />
24. April: „Zurück aus den Fe-<br />
egal?“ „Langweilig“, gähnt ein Direkt nach dem Abitur ging’s über kommt, man muss von sich aus etlem die Jugendlichen mit Hilfe des<br />
rien. Habe mir verboten, zwi-<br />
Schüler.Eine andere Schülerin sagt: die Landesliste der Grünen in den was anfangen, um etwas zubewe- Internets viel erreichen können. Als<br />
schendurch zu twittern, man will ja<br />
„Wir können doch sowieso nichts Bundestag. Wardas nicht eine Hegen.“ Allerdings gebe es einige As- Beispiel gibt es da die ägyptische<br />
nicht süchtig werden. Ab morgen<br />
verändern!“<br />
rausforderung, als jüngstes Mitpekte inder deutschen Politik, die Revolution: Die Jugend nimmt die<br />
wieder Infos zur Politik.“<br />
Solche Unterrichtsstunden sind glied? „Ja, klar“, sagt sie. Insgesamt verbessert werden müssten: Bei- Ereignisse in die eigene Hand und<br />
@27. Juli (Ferienzeit): Ein Nut-<br />
Alltag in den Schulen geworden. habe sie sich aber gut gefühlt, weil spielsweise müsste die Sprache ein- kämpft für ihre Freiheit –weil es Engagiert: Junge Frauen bei einer<br />
zer namens Eiskater fragt:<br />
Immer häufiger hört man: „Politik? sie sich e<strong>ins</strong>etzen und auf diese facher und die vielen Sitzungen ihnen persönlich wichtig ist.<br />
Aktion der IG-Metall Jugend vor der<br />
„Twittert RegSprecher eigentlich<br />
Wasgeht mich das an?“<br />
Weise etwas bewegen konnte. An- konkreter werden.<br />
Weltweit hat man wohl auf jeden Alten Oper. Foto: dpa<br />
noch oder hat nach der Bundesre-<br />
Doch wir können es nicht glaufangs sei ihr die Arbeit zwar schwer<br />
Fall gemerkt, dass Jugendliche in<br />
ben, dass sich so wenige Jugendli- gefallen. „Doch mit Selbstbewusst- Komplizierte Vorgänge<br />
gierung auch das Propagandaminis-<br />
der Politik eingebunden werden<br />
terium die Arbeit eingestellt?“ Regche<br />
für Politik interessieren. Die sein kommt man durch, und wenn Es ist eine Tatsache, dass die Politik müssen (vor allem durch die Pro-<br />
Sprecher antwortet: „1) Überlegen<br />
politische E<strong>ins</strong>tellung oder die Mei- man berechtigte Kritik äußert, ver- heutzutage sehr kompliziert gewortestbewegungen in den arabischen<br />
Sie sich gut, womit sie uns da in einung<br />
zu aktuellen Themen zählen schafft man sich viel Respekt“, sagt den ist. Die meisten würden gar Ländern). Anna Lührmann glaubt,<br />
nen Topf werfen 2) Die Bundesre-<br />
oft nichts mehr. Auch unser Enga- Frau Lührmann. Und sie hatte Er- nicht die politischen Regeln ken- dass die Jugendorganisationen aktigierung<br />
arbeitet 3) Ich bin in den<br />
gement bei diesem Zeitungsprojekt folg. Mit 21 Jahren war sie Mitglied nen, die vielleicht auf den ersten ver und der Dialog zwischen Abge-<br />
Ferien.“<br />
trifft auf Unverständnis.<br />
im Haushaltsausschuss des Bundes- Blick ein wenig schwierig erscheiordneten und Jugendlichen stärker<br />
@2. September: „Ich freue mich<br />
Aus diesem Grund wollen wir tages, der als wichtigster Ausschuss nen. „Das ist wie bei einem Fuß- werden muss und dass es auf dem<br />
über jetzt schon mehr als<br />
die Ursachen auffinden, die diesen gilt, weil es dort darum um die Fiballspiel. Wenn ich die Regeln Internet basierende Ideen geben<br />
35 000 Follower (Anmerkung der<br />
Trend verursachen. In der jüngsten nanzierung vonProjekten geht. nicht kenne, dann ist es nicht span- sollte, damit sich Mädchen und Interessiert: Jugendliche verfolgen<br />
Red.: Das sind Abonnenten seines<br />
Shell-Jugendstudie ist zwar von ei- Mit 26 Jahren war dann aber erst nend. Genauso ist es mit der Poli- Jungen stärker beteiligen können. auf der Besuchertribüne im Bun-<br />
kostenlosen Dienstes), damit hätte<br />
nem leichten Anstieg beim politi- einmal Schluss mit der Politik. Zu tik“, so Lührmann.<br />
Stéphane Hessel schreibt in seidestag eine Debatte. Foto: dpa<br />
ich am Anfang nie gerechnet.“<br />
schen Interesse von Jugendlichen groß ist die Angst Lührmanns, dass Doch ist das wirklich ein Grund, nem Buch „Empört euch“, dass der<br />
@ die Rede, aber dennoch weiterhin sie innerlich verbogen wird und sich nicht zu engagieren? Anna Widerstand aus Empörung komme.<br />
7. September: „Bundestag, die<br />
vonPolitikverdrossenheit.<br />
dass sie zu lange in der Politik Lührmann sagt, häufig fehlten Er möchte, dass man sich ein-<br />
Haushaltsrede der Kanzlerin,<br />
Wir hoffen, in einem Gespräch bleibt. Sie ging mit ihrem Mann, auch Themen, „die die Massen momischt, sich empört. Diese Eigen-<br />
ab 10.30 Uhr“. Anderer Nutzer ant-<br />
mit Anna Lührmann (28) Antwor- dem Botschafter Rainer Eberle, in bilisieren“. Und sicherlich komme schaft sei kostbar und man werde<br />
wortet: „Tut mir leid, aber die aufreten<br />
zu finden. Die gebürtige Hof- den Sudan. In Karthum studiert sie zu diesen Problemen auch noch aktiv,stark und engagiert.<br />
gendsten Haushaltsreden finden in<br />
heimerin war die jüngste Bundes- an einer der größten Frauen-Hoch- der Egoismus einer jeden Person Es geht also um die Erkenntnis,<br />
gleichgeschlechtlichen Studententagsabgeordnete<br />
im Deutschen schulen Afrikas „Gender und hinzu. „Den meisten ist es egal, wie dass „das Schlimmste die Gleich-<br />
WGs statt.“ Seibert erwidert: „Das<br />
Bundestag, bis heute hat niemand Peace“ und arbeitet später für die es den anderen geht. Hinzu kommt gültigkeit ist“ (Stéphane Hessel)<br />
ist mir erspart geblieben. Habe nur<br />
mehr mit 19 Jahren den Sprung <strong>ins</strong> Vereinten Nationen im Land. noch das Gefühl, dass man eh und dass jede Sache, für die man<br />
Erfahrung mit gemischten WGs.“<br />
@ hohe Haus geschafft. Wir erfahren Zurzeit ist sie wieder in Deutsch- nichts bewirken kann. Aber wenn eintritt, ein Stück Leidenschaft ist.<br />
19. September: Zur Wahl in<br />
viel über ihren Werdegang als Abland, doch es ist geplant, mit ihrem man wirklich etwas durchsetzen Nicht umsonst sagt Anna Lühr- Engagiert: Schülerinnen mit Kanzle- Berlin. „CDU: Sehr ordentligeordnete<br />
(2002 bis 2009), über ih- Mann nach Libyen zu gehen, der will, braucht man Mut und Kommann: „Politik? Das ist Leidenrin Merkel bei einem Jugendinteches Ergebnis. FDP:Schmerzlich.“<br />
re Gedanken zum politischen Enga- dort zum neuen Botschafter erpromissbereitschaft.“schaft!“grationsgipfels in Berlin. Foto: dpa Gesammelt von Antonia Göhren<br />
Geht es beider Massendatenspeicherung<br />
um die „nationale<br />
Sicherheit“, oder kann man auf<br />
sie verzichten? EinigeAntworten.<br />
� Von Sarah Gawronska<br />
Frankfurt. Können Sie sich einen<br />
Alltag ohne Handy und Computer<br />
noch vorstellen? Nicht nur die Jugend<br />
kommuniziert heutzutage zunehmend<br />
per SMS, auch die „älteren“<br />
Generationen können oft am<br />
Ende des Tages kaum mehr sagen,<br />
wann zu wem Kontakt aufgenommen<br />
wurde.<br />
Stellen Sie sich vor, jemand anderes<br />
als der Empfänger der besagten<br />
Kurznachrichten könnte über Sie<br />
detailliert Auskunft geben. Wer<br />
sollte das sein? Ganz einfach gesprochen:<br />
der Staat. Warum sollte<br />
er sich dafür interessieren? Weil Sie<br />
ein potenzieller Terrorist und<br />
Schwerverbrecher sind.<br />
Die Vorratsdatenspeicherung ist<br />
ein schwieriges Thema in Deutschland.<br />
Beschlossen wurde sie Ende<br />
2007 vom Bundestag mit den Stimmen<br />
von CDU, CSU und SPD, um<br />
die Verbrechens- und Terrorismusbekämpfung<br />
zu erleichtern. Vom1.<br />
Januar 2008 an wurden die Telefonnummern<br />
von Anrufern und Ange-<br />
Der Staat als Datenkrake<br />
Die Regierung streitet über die Vorratsdatenspeicherung, aber wie effektiv ist diese eigentlich?<br />
rufenen, die Uhrzeit und Dauer<br />
der Gespräche, bei Handytelefonaten<br />
außerdem die Orte der Telefonierenden<br />
für ein halbes Jahr gespeichert.<br />
Dazu kamen die Speicherung<br />
von SMS, E-Mail- und IP-<br />
Adressen sowie die Verbindungsdaten<br />
bei jeder Internetnutzung.<br />
Im März 2010 wurde die<br />
Vorratsdatenspeicherung nach<br />
einer Sammelklage von ca.<br />
35000 Bürgern vom Verfassungsgericht<br />
schließlich für verfassungswidrig<br />
erklärt: Sie sei zwar<br />
nicht grundsätzlich mit dem<br />
Grundgesetz unvereinbar, jedoch<br />
verletzten die Vorschriften<br />
in ihrer damaligen Fassung das<br />
Recht auf Privatsphäre und das<br />
Fernmeldegeheimnis.<br />
Trotz der Aufhebung der Richtlinien<br />
ist das Thema Vorratsdatenspeicherung<br />
noch allgegenwärtig,<br />
zuletzt forderten Vertreter der CSU<br />
nach den Anschlägen in Norwegen<br />
ihre Wiedereinführung, unterstützt<br />
wird diese Forderung von einer<br />
Richtlinie der EU, die die Mitgliedsstaaten<br />
seit 2006 zur Speicherung<br />
verpflichtet.<br />
Seit Monaten zeichnet sich keine<br />
Übere<strong>ins</strong>timmung in der Diskussion<br />
über die Vorratsdatenspeicherung<br />
ab: Union und FDP sind sich<br />
uneinig, die FPD schlägt sich in<br />
dieser Frage auf die Seite der Opposition<br />
und spricht sich gegen die<br />
Speicherung aus – und Bürgerrechtler<br />
demonstrieren fortlaufend<br />
für mehr Privatsphäre.<br />
Mittlerweile hat der Gelegenheits-Tagesschau-Seher<br />
seine<br />
Schwierigkeiten, dem Gezanke in<br />
den politischen Reihen zu folgen –<br />
oder es gar zu verstehen. Daher<br />
sind hier ein paar der grundsätzlichen<br />
Fragen und Antworten bezüg-<br />
Keine Informationen sind von der Datenkrake<br />
sicher. Zeichnung: Gesa Koy<br />
lich der Vorratsdatenspeicherung<br />
(und ihrer Zukunft) kurz zusammengefasst:<br />
� Setzt eine effektive Verbrechensbekämpfung<br />
die Vorratsdatenspeicherung<br />
voraus?<br />
Nein. Zu Zeiten der Vorratsdatenspeicherung<br />
hat sich die Verbrechensaufklärungsrate<br />
kaum merklich<br />
verändert. Außerdem weisen<br />
Kritiker immer wieder darauf hin,<br />
dass potenzielle Straftäter und Ter-<br />
roristen Wege finden könnten,<br />
um ihre Enttarnung zu umgehen.<br />
� Ist Deutschland verpflichtet, die europäische<br />
Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung<br />
zu erfüllen?<br />
Laut Bürgerrechtlern: Nein –<br />
die Richtlinie sei laut der EU-<br />
Grundrechtecharta rechtswidrig,<br />
so befand auch ein irischer Gerichtshof.<br />
Mittlerweile liegt es<br />
beim Europäischen Gerichtshof,<br />
über die Rechtmäßigkeit der Richtlinie<br />
zu entscheiden. Wann und wie<br />
der Gerichtshof urteilen wird, ist<br />
allerdings noch ungewiss; vom<br />
Ausgang der Klage wird die<br />
Gestaltung einer möglichen<br />
Neureglung der Vorratsdatenspeicherung<br />
in Deutschland abhängig<br />
sein.<br />
� Waspassiert, wenn die Richtlinie<br />
bestehen bleibt und Deutschland sich<br />
weigert, die Vorratsdatenspeicherung<br />
wieder einzuführen?<br />
Sollte Deutschland die Richtlinie<br />
nicht zeitnah umsetzen, droht zunächst<br />
ein Vertragsverletzungsverfahren,<br />
die Strafe könnte mehrere<br />
Millionen Eurobetragen.<br />
� Wasist unter dem Begriff der sogenannten<br />
„Mindestdatenspeicherung“<br />
zu verstehen?<br />
Mindestdatenspeicherung und Vor-<br />
ratsdatenspeicherung decken sich<br />
in ihrer Bedeutung, außer dem Namen<br />
ändert sich nichts.<br />
� Wasist dran an der immer wieder<br />
aufflammenden Kritik der Datenschützer?<br />
Das Versprechen der Union, die<br />
neue Regelung zur Vorratsdatenspeicherung<br />
mit dem Datenschutz<br />
vereinbar zu machen, ist tatsächlich<br />
paradox. Zwar entschied das Bundesverfassungsgericht<br />
2010, dass die<br />
dauerhafte Speicherung von Daten<br />
nicht explizit gegen das Grundgesetz<br />
verstoße, jedoch geht mit der<br />
EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung<br />
mindestens eine E<strong>ins</strong>chränkung<br />
einiger Grundrechte<br />
einher, darunter nach wie vor das<br />
Fernmeldegeheimnis und das<br />
Recht auf Privatsphäre. Letztlich<br />
mag es zwar übertrieben sein, angesichts<br />
einer möglichen Einführung<br />
der Vorratsdatenspeicherung in<br />
Deutschland bereits die Herrschaft<br />
von Big Brother anzukündigen –jedoch<br />
lässt sich im Hype um den<br />
globalen „Kampf gegen den Terror“<br />
bei der Betrachtung des großen<br />
Spielraums zur Auslegung und Verschärfung<br />
der EU-Richtlinie zumindest<br />
kein Beitrag zur demokratischen<br />
und freiheitlichen Ordnung<br />
Deutschlands erahnen.