Fallstudie Libanon (Nr. 51) - Geschwister-Scholl-Institut für ...
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des Staates. Staatspräsident wurde seither stets ein Maronit, Ministerpräsident ein Sunnit,<br />
das weniger bedeutende Amt des Parlamentspräsidenten wurde der schiitischen Bevölkerungsgruppe<br />
zugestanden. Die Parlamentssitze wurden im Verhältnis sechs zu fünf zwischen<br />
Christen und Muslimen aufgeteilt. Entscheidungen sollten nur aufgrund von Kompromiss<br />
und Konsens zwischen den großen Religionsgemeinschaften getroffen werden. 46 Diese<br />
power-sharing-Arrangements trugen nun in der Tat eine Zeit lang zur Stabilisierung der politischen<br />
Verhältnisse bei. Bis in die 1970er Jahre wurde der <strong>Libanon</strong> als erfolgreiches Beispiel<br />
einer Konkordanzdemokratie angeführt, das die Möglichkeit der friedlichen, institutionalisierten<br />
Koexistenz unterschiedlicher Gemeinschaften aufzeigen sollte. Ausgeblendet wurden<br />
hierbei jedoch einige diesem System inhärente Schwächen. Die <strong>Institut</strong>ionalisierung des<br />
politischen Konfessionalismus hat dazu beigetragen, die in der Tat vorhandenen konfessionellen<br />
Züge der libanesischen Gesellschaft noch zu verstärken. Es hat die Konfessionsgemeinschaften<br />
zum unüberbrückbaren Vermittler zwischen dem Staat und seinen Bürgern<br />
werden lassen: Libanesen wurden unweigerlich an ihre Konfessionsgemeinschaften und<br />
deren Eliten gebunden, die konfessionalen, auch regionalistischen Patronagebeziehungen<br />
wurden gefördert. Die an der Spitze der traditionellen familiären, lokalen, klanischen, konfessionellen<br />
Netzwerke und Strukturen 47 stehenden Notabeln – Familienoberhäupter, Patrone,<br />
anerkannte Führungspersönlichkeiten – und des Klerus wurden in ihrer Aufgabe der politischen<br />
Interessenartikulation bestätigt, die Entstehung nationaler, konfessionsunabhängiger<br />
politischer Organisationen und Parteien behindert. 48<br />
Angesichts gesellschaftlicher Wandlungsprozesse, erwies sich das libanesische Konkordanzsystem<br />
außerdem als besonders unbeweglich. Es stellte keine Mechanismen bereit, um<br />
soziale und soziodemographische Veränderungen aufzunehmen und konstruktiv zu bearbeiten.<br />
Insbesondere die starre Proporzpraxis erwies sich als konfliktträchtig. Innerhalb der libanesischen<br />
Gesellschaft hatten sich durch Zuwanderung und höhere Geburtenraten die Größenverhältnisse<br />
zugunsten der Muslime verschoben. Diese demographischen Veränderungen<br />
wurden durch Modernisierungs- und Urbanisierungsprozesse innerhalb der muslimischen,<br />
insbesondere der schiitischen Gruppen ergänzt. Die der maronitisch-christlichen Führungselite<br />
eingeräumte dominante Stellung innerhalb des politischen Systems entsprach<br />
immer weniger, sicher aber 1975 nicht mehr den demographischen und sozialen Verhältnissen.<br />
49 In Frage gestellt wurde die Legitimität der Machtverteilung zum einen durch die sunnitische<br />
Elite, die eine Anpassung des Proporzes in Richtung auf eine christlich-muslimische<br />
und maronitisch-sunnitische Parität forderte, zum anderen durch die Linke, welche <strong>für</strong> eine<br />
46 Zum Nationalpakt vgl. u.a. Salibi, Kamal, 1988: A house of many mansions. The history of Lebanon reconsidered,<br />
Berkeley, S. 185 ff.; Hanf, 1990, S. 98 ff.<br />
47 Die religiösen Gemeinschaften stehen in engstem Zusammenhang mit den Großfamilien und Familienclans, die<br />
fast immer einer Religion angehören.<br />
48 Vgl. Hanf, 1990, S. 103 ff.<br />
49 Vgl. Perthes, 2003, S. 95.