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36 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple www.taz.de | reise@taz.de REISE | sonntaz<br />
SCHOLLE 2014 HatsichdasReisenüberholt?VisionenfürdenAusstiegausdemRattenrennenderVielfliegerei<br />
Endlichdaheim!<br />
VON CHRISTEL BURGHOFF<br />
UND EDITH KRESTA<br />
Die„BigVisioniers“treten<br />
in Aktion: Eine findige,<br />
erfolgsorientierte Szene<br />
vontouristischen Großveranstaltern<br />
will den Tourismusumgestalten<br />
–mit Unterstützung<br />
der Welttourismusorganisation<br />
(WTO) und unter<br />
recht verhaltenem Beifall der<br />
Kirchen und NGOs. Corporate<br />
Social Responsibility (CSR),<br />
Nachhaltigkeitund die RenaissancederNähesindihreLeitworte.<br />
Das globaleNetzwerk der Big<br />
Visioners,aufDeutschGroßvisionäre,<br />
hatkonkrete Vorstellungen<br />
für diesen Strukturwandel<br />
entwickelt: Zurück zur Scholle,<br />
backtotheroots,lautetdieParole<br />
der Unternehmen: „Scholle<br />
2014“.<br />
Undalswärendiegutenalten<br />
Sozialtugenden in die jungen<br />
Manager von heute gefahren,<br />
kümmernsiesichjetztum„wahreWerte“.Siewollennichtlänger<br />
Surrogate liefern, sondern Ursprünglichkeit,<br />
Authentizität,<br />
Nähe, Region, Land. Die I-Worte:<br />
Intimität, Introvertiertheit, IntensitätundInteraktionstattder<br />
E-Worte: Extroversionen, Extrem,EklektienundExotiken.<br />
Gründe gibt es viele: Die zunehmend<br />
unsichere Weltlage<br />
und der weltumspannende Terrorismushabendiewirtschaftliche<br />
Zuversicht der Unternehmen<br />
irritiert, ihre Geschäfte<br />
an fernen Gestaden gefährdet.DieunsicherenReisewege<br />
des Mittelalters grüßen<br />
die Reisezukunft.<br />
Die zunehmende<br />
Kritik<br />
an Umweltverschmutzung,<br />
unfairen Arbeitsbedingungen,anderZweckentfremdung<br />
fruchtbaren Landes<br />
für schickeClubs, des raren<br />
GutesWasserfürGolfplätze,<br />
die Zerstörung der Küsten,<br />
taten das Ihrige.<br />
UnddieKlimabilanz<br />
des Tourismus ist<br />
katastrophal.<br />
Werrund um<br />
die Welt<br />
fliegt für<br />
sein Vergnügen,<br />
verpulvert<br />
Ressourcen<br />
und hinterlässt<br />
Spuren,<br />
die durch<br />
nichts zu kompensie-<br />
rensind.AuchnichtvonAtmos-<br />
SiewollendasLand<br />
alsdenwahren<br />
Gefühlsraumerschließenundverkaufen<br />
fair. Nach Expertenmeinung<br />
trägt der weltweite Tourismus<br />
rundneunProzentzudenglobalen<br />
Emissionen bei. Ist esdas<br />
wert,dasReisenindieFerne?<br />
Das touristische Universum<br />
vongestern warein modernes<br />
Haus: gemütlich und bequem<br />
ausgestaltet, von der Kellerbar<br />
überdieSaunabiszurbegrünten<br />
undverglastenTerrasse.Aufden<br />
Frühstückstischen fehlte nirgends<br />
das Nutella-Döschen –ob<br />
in Surinam, am Nordkap oder<br />
aufTrinidad.KosmischeGemütlichkeit.<br />
Langweile. Überall dieselben<br />
Standards, dasselbe Lebensgefühl,<br />
derselbe Lebensstil.<br />
EinZustand,indemdieWeltund<br />
dieReiselustzunehmendvordie<br />
Hundegehen.<br />
DieErotiksowieso.DerTourismus<br />
betreibe Raubbau ander<br />
wichtigsten Ressource unseres<br />
Lebens,derErotik,sagtbeispielsweise<br />
der Kulturwissenschaftler<br />
Bruno August Krümpelmann.<br />
Organisierter Tourismus kanalisiere<br />
Verführungen und Normabweichungen,<br />
indem er Eigenbewegungverhindert.Ertilgedie<br />
freien Räume über die<br />
schnelle Anreise und<br />
Illustrationen: Christian Barthold<br />
die Besetzung<br />
des Urlaubsraumes mitorganisierten,<br />
verdichteten Aktivitäten.<br />
Die Traumreisen der VeranstalterseieneinvirtuellerErsatz<br />
für unsere konkreten Triebziele.<br />
Zeit ist Geld. Im organisierten<br />
Tourismus gehen so die freien<br />
Gestaltungsoptionen verloren.<br />
AbergenaudasliebtErosbesonders.<br />
Eros, das istfür Krümpelmann<br />
der Flow,die schöpferische<br />
Kraft, die Herausforderung,<br />
die Zeit<br />
braucht, um sich voll<br />
zu entfalten. Die<br />
Lust schlechthin.<br />
Diese suchendieUrlauber<br />
aber<br />
vergeblich.<br />
Verständlich,<br />
dass sie<br />
nur noch<br />
lustlos buchen.<br />
Das<br />
Umdenken<br />
der Manager<br />
trifft also aufdiese<br />
harteRealität.Aufdie<br />
Bedürfnisse der Touristen<br />
selbst. Dem wachsenden<br />
Bedürfnis nach<br />
mehrHeimeligkeit,nach<br />
Sinn, Ruhe, Entspannung,<br />
Entschleunigung,<br />
Familie, nach dem Ausstieg<br />
aus dem rasenden<br />
Stillstand. Die Antwort ist<br />
Landlust. Der Trend der<br />
Trendsetter. Jene<br />
sagenumwobenen<br />
Großstädter miteinem Hang zu<br />
einemnatürlichenundnachhaltigen<br />
Lebensstil –und dickem<br />
Portemonnaie. Diese Hoffnungsträger<br />
des grünen Konsums,diefastschonvergessenen<br />
Lohas (Lifestyle of Health and<br />
Sustainability),dieerlebnis-und<br />
welthungrigen Vielflieger,diese<br />
Protagonisten vonLifestyle,Gesundheit<br />
und Nachhaltigkeit,<br />
stehenlängstaufLandlust.<br />
MitVollgas in den Hobbykeller.GrassierendeNaturlust.Obst<br />
und KüchengerätezuStillleben.<br />
VerwunscheneWeiher zurDämmerstunde.<br />
Filigrane Gräser im<br />
Frostmäntelchen. Sternehäkeln<br />
zum Wohlfühlen. Stille. Alles<br />
ruht.Kräutersegen.LichtfürsLeben.<br />
Blumenparadies für Balkonien<br />
oder ich mache euch eine<br />
Kerze. Singen macht glücklich.<br />
Der Einödhof mitdrei GenerationenindergutenStubealsIdeal.<br />
DieMagiedesGartens.„Anlauen<br />
Abenden sollen in Tontöpfen<br />
Kerzen brennen, in den BaumkronenbunteLampionshängen.<br />
Ein Glas Rosensekt lässig in der<br />
Hand, sollten alle dem Zauber<br />
des Gartens erliegen. Buffets<br />
wollte ich erstellen, Sehnsüchte<br />
wecken, mitallen Sinnen sollte<br />
der Garten genossen und dabei<br />
der Alltag vergessen werden“,<br />
schreibt beispielsweise Marina<br />
UhlimLandlust-Magazin.Natur-<br />
liebe,modesteKleidung,<br />
Skepsis gegenüber falschem Luxus,<br />
postmaterielle Besinnlichkeit<br />
und die Liebe zum„Do it<br />
yourself“ –all das verspricht<br />
Notausgänge auseinem RattenrennenderVielfliegerei.<br />
Das schlichte Naturerlebnis<br />
warder Aufhänger des touristischen<br />
Leitbildes der Unterneh-<br />
ANZEIGE<br />
men: „Scholle 2014“. Wer aber<br />
glaubt, dass Wandern und Radfahren<br />
schon alles sind, der hat<br />
die Fantasie der Macher unterschätzt.<br />
Die Big Visioniers, die<br />
unterdemLabelderNachhaltigkeit<br />
agieren und Qualität und<br />
VerantwortungimneuenTourismuspropagieren,wetteifernmit<br />
weltweiten Thinktankszur Rettung<br />
des Globus. Sie wollen das<br />
Land als den wahren Gefühlsraum<br />
erschließen und verkaufen.<br />
Kein Krümel Scholle, der<br />
jetzt nichtumgedrehtwird, um<br />
ein findiges Angebot zu entwickeln,keinlandaffinesBedürfnis<br />
dertrendigenLohas,dasnichtals<br />
Konsumprodukt aufden Markt<br />
geworfen werden könnte.<br />
DievisionäreAngebotswelle<br />
derweltweitvernetztenTouristiker<br />
will dem Engagementfür<br />
Naturund Umwelt,<br />
regionalen Projekten, Burnout,<br />
Sinnsuche und Nähebedürfnissen<br />
gerechtwerden.<br />
Die Provinz soll sich zu neuen<br />
Gastlandschaften wandeln,<br />
die die touristischen<br />
Heimkehrer mit offenen Armen<br />
und vorallem mitganz<br />
neuen Versprechen empfängt.<br />
Man munkelt: Deutschlands<br />
größter Reiseveranstalter<br />
habesichgeradedieOptionfür<br />
die meisten der 2.000 herrschaftlichen<br />
Wohnsitze in<br />
Mecklenburggesichert.Erplane<br />
dortintime Kontakträume: vom<br />
Swinger-, Swing- bis Singclub.<br />
Manmunkeltauch,dassKoreain<br />
deutsche Klöster investiert, um<br />
Wellness und Sinnfindung zu<br />
professionalisieren. IndustriebrachenwerdenzuKräutergärten<br />
für Gottes Apothekeaus der Natur.<br />
Abgehängte Regionen von<br />
ChemnitzüberBochumbiszum<br />
SaarlandsollenzuWildbeobachtungsstätten<br />
in ZusammenarbeitmitdenNaturschutzverbändenwerden,einDritteldavonals<br />
Jagdrevier,umechtesTötenund<br />
Überleben in der Wildnis zu lernen.<br />
In abgehängten Landstrichen<br />
wie Mecklenburg oder<br />
BrandenburgblühendieIdeen.<br />
UndneueStandardssollengesetztwerden,auchfürSchweine.<br />
Beispielsweise in Brandenburg.<br />
DennaufderAgendadertouristischen<br />
Unternehmen: „Scholle<br />
2014“stehtjetztauchderSchutz<br />
unserer Mitwelt, das EngagementfürgesunderegionaleProdukte<br />
und selbstverständlich<br />
auch für das stressfreie Züchten<br />
und Schlachten vonSchweinen.<br />
Die ersten großen Schweinemaststättenmusstenschonnach<br />
Polenausweichen.<br />
Kuschelige Welt,die die lange<br />
vernachlässigten Bedürfnisse<br />
der modernen Menschen nach<br />
echterHeimaternstnimmt,aufgreift,umsetzt?DramadesEros?<br />
Die ganze Geschichte nur ein<br />
Fake?<br />
Wirwartenab.