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taz |DIE UTOPIE<br />

wochenende@taz.de | TAZ.AMWOCHENENDEapple SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 07<br />

GöttinwiderdierepublikanischeIdee.<br />

Sieist,wierechtspopulistischeKräftein<br />

anderenLändern,nurdieStärksteunter<br />

allen.SieallehabennurdasZiel,Europa<br />

alssäkularen,alsmultikulturellenund<br />

freiheitlichen Raum zugunsten einer<br />

losenSammlungchristlicherNationalstaaten<br />

abzulösen. Seltsam istjajetzt<br />

schon,dasssich,allenAversionenzum<br />

Trotz, die religiösen Kräfte in diesem<br />

EuropaeinigsindinihrenKämpfenwider<br />

die –wie sie es verstehen – Gottlosigkeit.EssindOrthodoxe,Katholiken,<br />

Protestanten mancherorts, aber auch<br />

JudenundMuslime.Dieheterosexuelle<br />

Familie mit einer ammengleichen<br />

MutterundeinemVateralsOberhaupt,<br />

das wollen sie. Sitte und Ordnung, das<br />

wollensie.KeinBabylonderLebensstile,das<br />

sich aufdas demokratische Miteinander<br />

verständigt. Sie heißen nicht<br />

allein Le Pen, sondern auch Orban,<br />

Kaczynski oder Putin. Man muss sie<br />

wohl verstehen: Ihre Sorge istnur die<br />

Eurokrise, der Verlustder HerrschaftspositionaufderErde,dieBeibehaltung<br />

des kolonialen Anspruchs wider die<br />

Auflösung alter Ordnungen. Wenn<br />

schon Ordnung, sagen sie, dann eine,<br />

die sich wie Gott und Vaterland defi-<br />

niert.UnddieTürkei?Diewirdsichwei-<br />

ter einigen und vonder EU abgrenzen.<br />

DergriechischeNachbar,dersichnoch<br />

in den Siebzigern hochmütig vonden<br />

NeureichenamBosporusabgrenzte,ist<br />

nunabgehängt –ein Armenhaus, das<br />

nurdeshalbnichtaufdieBeinekommt,<br />

weilesnichtsandereskenntalsdieAlimentationdurchBrüssel(unddenVerzichtaufReparationsforderungennach<br />

Grenzzaun zwischen Marokko und der spanischen Enklave Melilla. Das ging auch einmal anders Foto: Juan Medina/reuters<br />

MediterraneLehren<br />

UFERDas<br />

Mittelmeerzeigt,<br />

wieUnterschiede<br />

unsvoranbringen<br />

undunsGrenzen<br />

überwinden<br />

lassen.Wir<br />

müssennur<br />

seineschillernde<br />

Geschichte<br />

betrachten<br />

VON DAVID ABULAFIA<br />

Das Mittelmeer istderzeit<br />

zerrissen, zerstückelt<br />

und zerbrochen. Dabei<br />

wardas Wesen des Mittelmeers<br />

in den vergangenen<br />

Jahrhunderten,jaJahrtausenden<br />

die meiste Zeitein anderes, ein<br />

integratives. Nurinden, historischbetrachtet,seltenenPhasen<br />

des Ausschlusses, bedingt durch<br />

politische und ökonomische<br />

Spannungen,verloresseinenintegrativenCharakter.<br />

Aufder Suche nach einer Lösung<br />

ihrer ökonomischen ProblemeschauendieLänderanden<br />

nördlichen Küsten des Mittelmeers<br />

heute auf Brüssel oder<br />

Berlin. Sie kehren ihrem Meer<br />

den Rücken zu und damitihrer<br />

Berufung, die mindestens so<br />

sehr im Mittelmeer liegt wie in<br />

Europa. Es istalso Zeit, diesem<br />

Meer seine historische Rollezurückzugeben:<br />

als Ort imZentrum<br />

der globalen Ökonomie,<br />

PolitikundKultur.<br />

DasMittelmeerhatteinseiner<br />

ganzen Geschichte immer ein<br />

großes ökonomisches Potenzial.<br />

In den integrativen Zeiten war<br />

und istdie Summe seiner Teile<br />

beeindruckend. So erreichten<br />

dieantikenRömeretwas,dasweder<br />

vorher noch nachher jemals<br />

gelang: die politische Kontrolle<br />

über das gesamte Mittelmeer.<br />

Zwischen den Küsten herrschte<br />

reger Verkehr,was dazuführte,<br />

dass sich ethnische, religiöse<br />

und sozialeGrenzen auflösten,<br />

vor allem in Alexandria oder<br />

Rom. Auch in späteren Jahrhunderten<br />

waren die Städte an den<br />

RänderndesMittelmeersOrte,in<br />

denen Menschen verschiedener<br />

ethnischerundreligiöserIdentitäten<br />

zusammenlebten –Juden,<br />

ChristenundMuslime.<br />

Im 19. Jahrhundertschuf die<br />

Kolonisierung der südlichen<br />

Küsten durch die Europäer ein<br />

sehrenges,abersehrunsymmetrisches<br />

Verhältnis zwischen<br />

dem Norden und dem Süden.<br />

Doch mit der Dekolonisierung<br />

wurden die Probleme nichtgelöst,mit<br />

denen sich die daraus<br />

entstandenen neuen Länder<br />

konfrontiertsahen. Das Mittelmeer<br />

warvon nunaninnördliche<br />

und südliche Zonen geteilt,<br />

dieweitgehendgetrenntvoneinander<br />

agierten. Keinesfalls sollenmitdieserFeststellungdieTaten<br />

der Kolonisatoren verteidigt<br />

werden,diebesondersinAlgerienäußerstbrutalundkontraproduktivwaren.EinrabiaterNationalismushattebereitsimfrühen<br />

20. Jahrhundertmit der ZerstörungdesMittelmeersbegonnen.<br />

JeneOrte,dieeinstfürdieBegegnungderKulturen,Religionund<br />

Menschen gefeiertwurden, degradierten<br />

zu monochromen<br />

Städten, die ausschließlich von<br />

der Mehrheitsbevölkerung des<br />

Hinterlandes bewohntwurden.<br />

MitdemBevölkerungsaustausch<br />

der 1920er Jahre zwischen Griechen,TürkenundArmeniernbegannen<br />

ethnische Gruppen ihre<br />

Reviereabzustecken,umdieherum<br />

Menschen und religiöse<br />

Gruppen rangiert wurden. Ein<br />

Prozess, der anhält. Heute beobachtenwirihninSyrienalsAuswanderungvonChristen.<br />

Der Kampf umStabilität,<br />

Wohlstand und Demokratie im<br />

islamischen Mittelmeer wird<br />

langwierig sein. Aber Algerien,<br />

Tunesien und Libyen besitzen<br />

ausreichend Ressourcen, um ihreStädteunddasLebenihrerBewohner<br />

so transformieren zu<br />

können,wieesauchdieGolfstaatengetanhaben.Unmöglich,den<br />

Ausgang des Arabischen Frühlings<br />

vorherzusagen. Hoffen<br />

kannmannur,dasseinebessere<br />

Zukunft am Mittelmeer ohne<br />

den massenhaften Bau von<br />

Shopping-MallswieindenGolfstaatenbewerkstelligtwird.<br />

Instabil aber sind nichtnur<br />

die südlichen Mittelmeeranrainer.WeilimmermehrFlüchtlinge<br />

vorVerfolgung oder ausökonomischer<br />

Notfliehen und an<br />

den Küsten Italiens, Spaniens<br />

und anderer EU-Länder stranden,<br />

wirkt sich diese Instabilität<br />

auchaufdienördlichenAnrainer<br />

aus.AuflangeSichtkannEuropa<br />

also garnichtanders, als wieder<br />

jene gemischten Gesellschaften<br />

desaltenMittelmeerszufördern<br />

undzuzulassen,aufdiemanhistorischsostolzseinkann.Städte<br />

wieBarcelonaundMarseillelernen<br />

längst, wie eine urbane Gemeinschaft<br />

Menschen mitverschiedensten<br />

Hintergründen integriertundorganisiert.<br />

Bedauerlich ist, dass Angst<br />

und Vorurteilediesem neuerlichen<br />

Prozess der kulturellen IntegrationimWege<br />

stehen. Diese<br />

Vorurteilefinden sich unter einerMinderheitderEuropäer,die<br />

die Vielfaltfürchtet, und unter<br />

der Minderheitder Migranten,<br />

die sich im religiösen Fundamentalismus<br />

einmauern. Eine<br />

Utopie des Mittelmeers besteht<br />

aberdarin,dieDifferenzalsWert<br />

zuschätzen,vonihrzulernen.<br />

In all der Differenz gibt es<br />

dringende Fragen, die vonallen<br />

mediterranenNationengemeinsam<br />

gestelltwerden, insbesondere<br />

wasMigrationund die FörderungdesHandelszwischenEU<br />

undNicht-EU-Ländernbetrifft.<br />

Wahrist,dassesVersuchegab,<br />

dieLänderdesMittelmeersineinem<br />

losen Staatenbund zusammenzubinden.<br />

Ungeachtet der<br />

politischenDifferenzensollenin<br />

der „Mittelmeerunion“gemeinsameProblemeangegangenwerden.<br />

Diese Idee vonder „Mittelmeerunion“ist<br />

allerdings in ihremjetzigenZustandtatsächlich<br />

mehr eine Idee, mehr eine<br />

Wunschvorstellung als ein ausgearbeitetes<br />

Konzept, das so<br />

praktizierbarwäre.<br />

Ein weiteres Elementineiner<br />

UtopievomMittelmeerwäretatsächlich<br />

ein runder Tisch, an<br />

demIsrael,diePalästinenserund<br />

die arabischen Staaten sitzen<br />

und ihre gemeinsamen Probleme<br />

ernsthaft und konstruktiv<br />

diskutieren. Die Grundlage aber<br />

füreinesolcheUtopieistdasVertrauen<br />

–obzwischen Israel und<br />

den Palästinensern oder zwischen<br />

Türken und Griechen auf<br />

Zypern. In einem utopischen<br />

Mittelmeer würden sich diese<br />

Spannungen auflösen, auch<br />

wenn es alles andere als leicht<br />

fällt, bei diesem Gedanken optimistischzusein.<br />

Um die Utopie lebbar zu machen,<br />

gibt es noch eine Bedingung:denSchutzdermaritimen<br />

Umwelt.<br />

Wenn das Mittelmeer weiter<br />

als grenzenlose Lebensmittel-<br />

Ressource und gleichzeitig als<br />

riesengroße Müllhalde behandeltwird,gehtesverloren.Schon<br />

jetzterlebteseinenkatastrophalenWandel<br />

durch Überfischung,<br />

demEinleitenvonAbwasserund<br />

den riesigen Mengen an Plastik,<br />

andenendasMeerunddieTiere<br />

ersticken. Die Nahrungskette<br />

wurdeunterbrochenundwirsehen<br />

das Ergebnis in den kleinen<br />

Mengen Fisch, die das Mittelmeernurnochhergibt.Alsgrößtenteils<br />

geschlossener Raum ist<br />

dieses Meer vondem globalen<br />

Missbrauch der Meere am heftigsten<br />

betroffen. Will mandie<br />

UtopievomMittelmeererhalten,<br />

wirdmandieBedürfnissekünftiger<br />

Generationen achten und<br />

dem Meer und seinen EinwohnernZeitgebenmüssen,sichvon<br />

demSchadenzuerholen,denwir<br />

ihnenangetanhaben.<br />

Die Zukunft des Mittelmeers<br />

liegtalsoindenHändenderLeute,<br />

die an seinen Küsten und auf<br />

seinenInselnleben,aberauchin<br />

denHändenunseraller,diesich<br />

um die Zerstörung des Mittelmeers<br />

Sorgen machen. Und es<br />

gibtnureinenWeg,dieseZerstörung<br />

aufzuhalten: die verlorene<br />

Utopie des Mittelmeers wiederherzustellen.<br />

Das bedeutet, dem<br />

Mediterranenwiederseinenhistorischen<br />

Platz zurückzugeben,<br />

alsTreffpunktvonKulturenund<br />

Menschen, als Zentrum der GeschichtederMenschheit.<br />

AusdemEnglischenübersetzt<br />

vonDorisAkrap<br />

■ David Abulafia ist Professor für<br />

Geschichte in Cambridge, England.<br />

Sein aktuelles Buch bei S. Fischer:<br />

„Das Mittelmeer. Eine Biografie“<br />

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