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Der Volkswirt<br />
DENKFABRIK | Der Mindestlohn macht zunichte, was die rot-grüne Regierung unter<br />
Bundeskanzler Gerhard Schröder mit der Agenda 2010 erreicht hat: den Abbau<br />
der Langzeitarbeitslosigkeit, neue Jobs für gering Qualifizierte. Von Hans-Werner Sinn<br />
Das Rezept für Stagflation<br />
Vor zehn Jahren hat<br />
Gerhard Schröder mit<br />
seiner Agenda 2010<br />
die impliziten Mindestlöhne<br />
des deutschen Sozialsystems<br />
gesenkt. Er hat die Arbeitslosenhilfe<br />
abgeschafft und<br />
es mehr als zwei Millionen<br />
Deutschen zugemutet, stattdessen<br />
mit der Sozialhilfe vorlieb zu<br />
nehmen, die er Arbeitslosengeld<br />
II nannte und um einen<br />
Lohnzuschuss in Form von Hinzuverdienstmöglichkeiten<br />
ergänzte,<br />
den Kritiker fälschlicherweise<br />
als „Aufstockung“<br />
bezeichnen. Indem er weniger<br />
Geld fürs Wegbleiben und mehr<br />
fürs Mitmachen gab, hat er die<br />
Mindestlohnansprüche der<br />
Betroffenen gesenkt. Das hat<br />
die Lohnskala nach unten hin<br />
ausgespreizt, im Niedriglohnbereich<br />
viele neue Stellen<br />
geschaffen und die Langzeitarbeitslosigkeit<br />
reduziert.<br />
EIN JOBWUNDER<br />
Deutschland, der allseits bemitleidete<br />
OECD-Weltmeister bei<br />
der Arbeitslosigkeit der gering<br />
Qualifizierten, hatte sich zu einer<br />
substanziellen Arbeitsmarktreform<br />
aufgerafft, die mithalf, ein<br />
Jobwunder hervorzubringen,<br />
um das wir heute von unseren<br />
Nachbarn beneidet werden. Die<br />
Arbeitslosigkeit ging von zwölf<br />
Prozent im Jahr 2005 auf nur<br />
noch etwa sieben Prozent in diesem<br />
Jahr zurück. Auf der Basis<br />
der heutigen Erwerbspersonen<br />
gerechnet, entspricht das einem<br />
Rückgang der Arbeitslosenzahl<br />
um 2,2 Millionen. Interessanterweise<br />
sind das genauso viele<br />
Menschen, wie seinerzeit durch<br />
die Agenda von der Arbeitslosenhilfe<br />
auf die Sozialhilfe<br />
herabgestuft wurden.<br />
Die Agenda bedeutete zugleich<br />
eine erhebliche Entlastung der Sozialsysteme,<br />
denn trotz der Lohnzuschüsse<br />
sparte der Staat viel<br />
Geld, weil er weniger Arbeitslose finanzieren<br />
musste. Der Anteil der<br />
Ausgaben für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger<br />
am BIP ging in<br />
der Zeit von 2005 bis 2012 von 3,7<br />
Prozent auf 2,4 Prozent zurück.<br />
Das entspricht auf der Basis des<br />
heutigen BIPs einer Entlastung<br />
des Staates um 35 Milliarden Euro<br />
pro Jahr.<br />
Besonders bemerkenswert ist,<br />
dass die Ungleichheit nicht zunahm,<br />
denn es erwies sich für viele<br />
Arbeitnehmer als besser, einen<br />
schlecht bezahlten Job zu haben,<br />
»Wenn Deutschland<br />
in eine<br />
neue Flaute<br />
kommt, hilft das<br />
niemandem«<br />
der durch das Arbeitslosengeld II<br />
aufgebessert wurde, als keinen<br />
Job – ganz abgesehen vom Schutz<br />
vor sozialer Ausgrenzung durch Arbeitslosigkeit,<br />
der den Betroffenen<br />
zusätzlich zugutekam. Nach einer<br />
Dokumentation der in dieser<br />
Hinsicht unverdächtigen Hans-<br />
Böckler-Stiftung fiel der Gini-Koeffizient,<br />
der die Ungleichheit der<br />
deutschen Einkommensverteilung<br />
(nach Steuern und Transfers)<br />
misst, sogar von 29 Prozent im<br />
Jahr 2005 auf 28 Prozent im Jahr<br />
2010. Schröder verlor über der Reform<br />
seinen Posten, aber Deutschland<br />
gewann den sozialen Frieden.<br />
Das Erreichte steht bei den anstehenden<br />
Koalitionsverhandlunder<br />
von unten her hochgestaucht,<br />
die Arbeitslosigkeit der gering<br />
Qualifizierten nimmt wieder zu,<br />
die Langzeitarbeitslosigkeit wird<br />
erneut zum Thema, und die Sozialsysteme<br />
werden wieder teurer.<br />
Der soziale Frieden wird gefährdet,<br />
weil sich die Einkommensverteilung<br />
nicht verbessert, jedoch<br />
wieder mehr Menschen aus dem<br />
Arbeitsprozess ausgegrenzt werden.<br />
Der Jubel der ökonomischen<br />
Laienprediger für den Mindestlohn<br />
wird nach wenigen Jahren einer<br />
bitteren Ernüchterung weichen.<br />
Der Hauptgrund dafür, dass die<br />
Effekte dramatisch sein werden,<br />
liegt im Euro-Verbund. Die Lohner-<br />
gen nun auf dem Spiel. Ob CDU<br />
und CSU mit den Grünen oder der<br />
SPD koalieren: Beide Parteien haben<br />
einen gesetzlichen Mindestlohn<br />
von 8,50 Euro gefordert und<br />
werden schwerlich davon abzubringen<br />
sein. Ein solcher Mindestlohn<br />
wird das Rad der Geschichte<br />
wieder in die Zeit vor Schröder zurückdrehen,<br />
denn er wird erhebliche<br />
Lohnerhöhungen erzwingen.<br />
Immerhin beziehen im Westen<br />
circa 15 Prozent und im Osten circa<br />
27 Prozent der Arbeitnehmer,<br />
insgesamt etwa sechs Millionen<br />
Menschen, einen Lohn, der niedriger<br />
ist. Was passieren wird, ist das<br />
Gegenteil dessen, was schon passiert<br />
ist. Die Lohnskala wird wiehöhung<br />
am unteren Ende der<br />
Lohnskala wird nämlich Kettenwirkungen<br />
haben, die weit über<br />
das hinausgehen, was ökonometrische<br />
Studien in England<br />
oder den USA, die beide über<br />
eigene Währungen mit einem<br />
flexiblen Außenwert verfügen,<br />
zeigen können. Ein Teil der<br />
Lohnerhöhung der Geringverdiener<br />
wird sich wegen der Trägheit<br />
der Lohnabstände in den<br />
mittleren Lohnbereich und damit<br />
auch in das Preisniveau der<br />
deutschen Güter übertragen.<br />
Dadurch kommt es zu einer realen<br />
Aufwertung Deutschlands<br />
gegenüber den Euro-Partnern,<br />
die die Vorteile der realen Abwertung<br />
im Euro-Verbund, von<br />
der Deutschlands Arbeitsmarkt<br />
profitiert hat, wieder zunichtemacht.<br />
NICHT KAUFEN<br />
Man könnte meinen, das sei genau<br />
das Richtige, um Griechenland<br />
und Co. wieder wettbewerbsfähig<br />
zu machen. Indes<br />
brauchen diese Länder eine<br />
deutsche Nachfrageinflation,<br />
wie sie sich wegen der Umlenkung<br />
der Kapitalströme nach<br />
Ausbruch der Finanzkrise in<br />
Form des deutschen Baubooms<br />
auch schon zeigte. Was sie nicht<br />
brauchen, ist die Stagflation,<br />
die durch den gesetzlichen Mindestlohn<br />
erzeugt wird. Wenn<br />
Deutschland die Produkte Südeuropas<br />
nicht kaufen kann, weil<br />
es durch einen politisch verordneten<br />
Kostendruck in eine neue<br />
Flaute kommt, hilft das niemandem.<br />
Hans-Werner Sinn ist Präsident<br />
des ifo Instituts und Ordinarius<br />
an der Ludwig-Maximilians-<br />
Universität in München.<br />
FOTO: ROBERT BREMBECK FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
44 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche<br />
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