HRRS Ausgabe 3/2013 - hrr-strafrecht.de
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Aufsätze und Anmerkungen<br />
II. Nada bei <strong>de</strong>n Schweizern<br />
Zugrun<strong>de</strong> lag <strong>de</strong>m Verfahren eine kuriose Konstellation.<br />
Der Beschwer<strong>de</strong>führer Nada ist ägyptischer und italienischer<br />
Staatsbürger. Am 9.11.2001 wur<strong>de</strong> er, ebenso wie<br />
einige seiner Unternehmen, vom Sanktionsausschuss <strong>de</strong>s<br />
Sicherheitsrats (sog. „1267-Committee“) auf die UN-<br />
Terrorliste 5 gesetzt. Im Jahr darauf verpflichtete <strong>de</strong>r Sicherheitsrat<br />
mit Resolution Nr. 1390 (2002) die UN-<br />
Mitgliedstaaten, für ihr Hoheitsgebiet ein Verbot <strong>de</strong>r Einund<br />
Durchreise bezüglich aller Personen, Gruppen und<br />
Unternehmen auf dieser Liste zu begrün<strong>de</strong>n. Zu dieser<br />
Zeit lebte Nada in <strong>de</strong>r italienischen Enklave Campione,<br />
die ca. 1.6 km 2 groß und komplett von schweizerischem<br />
Staatsgebiet, namentlich <strong>de</strong>m Kanton Tessin, umschlossen<br />
ist. Die Schweiz war zum damaligen Zeitpunkt noch<br />
kein Mitglied <strong>de</strong>r Vereinten Nationen. Der Bun<strong>de</strong>srat<br />
setzte die Sanktionsbeschlüsse <strong>de</strong>r Vereinten Nationen<br />
gleichwohl (gestützt auf Art. 184 Abs. 3 BV) per Exekutivverordnung<br />
für die Schweiz freiwillig (autonom) um. 6<br />
In ihrem Anhang 2 enthielt diese sog. Talibanverordnung<br />
<strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>srates eine Namensliste <strong>de</strong>r Sanktionsobjekte,<br />
die unverän<strong>de</strong>rt vom Sanktionsausschuss <strong>de</strong>r UN übernommen<br />
wur<strong>de</strong>, 7 weshalb das Einreise- und Transitverbot<br />
gegenüber <strong>de</strong>m Beschwer<strong>de</strong>führer auch in <strong>de</strong>r<br />
Schweiz umgehend wirksam wur<strong>de</strong>. Mit <strong>de</strong>m Inkrafttreten<br />
<strong>de</strong>s Beitritts zu <strong>de</strong>n Vereinten Nationen war die<br />
Schweiz als Mitgliedstaat gem. Art. 25 UN-Charta ab<br />
<strong>de</strong>m 10.9.2002 auch völkerrechtlich unmittelbar zur<br />
Umsetzung <strong>de</strong>r Sanktionsbeschlüsse <strong>de</strong>s Sicherheitsrats<br />
verpflichtet.<br />
Nach<strong>de</strong>m die Monitoring-Gremien <strong>de</strong>s Sanktionsausschusses<br />
die mangeln<strong>de</strong> Durchsetzung <strong>de</strong>r Maßnahme<br />
gegen Nada gegenüber <strong>de</strong>r Schweiz moniert hatten, wur<strong>de</strong><br />
das Einreise- und Transitverbot ab En<strong>de</strong> 2003 effektiv<br />
durchgesetzt. Erste Beschwer<strong>de</strong>n Nadas trugen keine<br />
Früchte. Ein Antrag auf Löschung seines Namens von <strong>de</strong>r<br />
Liste beim zuständigen Staatssekretariat für Wirtschaft<br />
(SECO) blieb erfolglos, obwohl die Bun<strong>de</strong>sanwaltschaft<br />
eine <strong>strafrecht</strong>liche Untersuchung gegen Nada wegen<br />
seiner vermeintlichen Verwicklungen in die Finanzierung<br />
<strong>de</strong>s internationalen Terrorismus mangels Beweisen zwischenzeitlich<br />
eingestellt hatte. Eine Löschung sei nur<br />
durch eine entsprechen<strong>de</strong> Entscheidung <strong>de</strong>s Sanktionsausschusses<br />
zu erreichen. Die Schweiz vermöge es nicht,<br />
Sanktionsobjekte eigenmächtig zu streichen. Die Auffassung<br />
<strong>de</strong>s SECO wur<strong>de</strong> En<strong>de</strong> 2007 vom Bun<strong>de</strong>sgericht<br />
bestätigt. 8 Das Bun<strong>de</strong>sgericht drückte sich dabei nicht<br />
um die Klärung <strong>de</strong>r Hierarchie zwischen UN-Recht und<br />
EMRK, die <strong>de</strong>r Fall aus Sicht <strong>de</strong>r eidgenössischen Behör-<br />
5<br />
Zur Differenzierung Meyer <strong>HRRS</strong> 2010, 74 ff.<br />
6<br />
Verordnung über Maßnahmen gegenüber Personen und<br />
Organisationen mit Verbindungen zu Usama bin La<strong>de</strong>n,<br />
<strong>de</strong>r Gruppierung «Al-Qaïda» o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Taliban vom 2. Oktober<br />
2000, SR 946.203. Heute stützt sich diese Verordnung<br />
auf Art. 2 <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sgesetzes vom 22. März 2002<br />
über die Durchsetzung von internationalen Sanktionen<br />
(Embargogesetz, EmbG).<br />
7<br />
Diese Liste wird periodisch durch Verordnungen <strong>de</strong>s<br />
Staatssekretariats für Wirtschaft SECO im Eidgenössischen<br />
Volkswirtschafts<strong>de</strong>partement aktualisiert.<br />
8<br />
BGE 133 II 450; Oesch Schweizerische Zeitung für internationales<br />
und europäisches Recht 2009, S. 337, 350.<br />
Meyer – Der Fall Nada vor <strong>de</strong>m EGMR<br />
<strong>de</strong>n aufgeworfen hatte. Die Bun<strong>de</strong>sverfassung enthält<br />
keine Kollisionsnorm, die diese Entscheidung vorweggenommen<br />
hätte, vgl. Art. 190 BV. Da das Bun<strong>de</strong>sgericht<br />
auch keine Möglichkeit zur Konfliktvermeidung im Wege<br />
<strong>de</strong>r völkerrechtlichen Vertragsinterpretation fand, sah es<br />
sich wegen Art. 103 UN-Charta gezwungen, Verpflichtungen,<br />
die aus <strong>de</strong>r UN-Charta folgen, <strong>de</strong>n Vorrang<br />
gegenüber kollidieren<strong>de</strong>n Pflichten aus an<strong>de</strong>ren internationalen<br />
Abkommen einzuräumen. An<strong>de</strong>rnfalls wäre die<br />
einheitliche Durchsetzung <strong>de</strong>r UN-Sanktionen gefähr<strong>de</strong>t<br />
wor<strong>de</strong>n. Dieser Vorrang sei zwar durch das völkerrechtliche<br />
ius cogens limitiert. Doch erreichten die unmissverständlich<br />
bemängelten rechtsstaatlichen Defizite <strong>de</strong>s<br />
Verfahrens aus Sicht <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sgerichts nicht dieses<br />
Niveau. Damit bewegte sich das Bun<strong>de</strong>sgericht in <strong>de</strong>rselben<br />
Bahn, die auch das EuG zuvor im erstinstanzlichen<br />
Urteil in <strong>de</strong>r Rechtssache Kadi eingeschlagen hatte.<br />
Während die Lausanner Richter keinerlei Ermessen bei<br />
<strong>de</strong>r Umsetzung <strong>de</strong>r Listung zu erkennen vermochten,<br />
stellten sie gleichwohl fest, dass das Sanktionsregime<br />
einige Ausnahmetatbestän<strong>de</strong> vorsähe, die es <strong>de</strong>n zuständigen<br />
Verwaltungsbehör<strong>de</strong>n durchaus erlaubt hätten, die<br />
Situation <strong>de</strong>s Beschwer<strong>de</strong>führers zu erleichtern. Nach<br />
SR-Res 1735 (2006), Ziff. 1. b) sollte die Maßnahme<br />
keine Anwendung fin<strong>de</strong>n, wenn „die Ein- o<strong>de</strong>r Durchreise<br />
zur Durchführung eines Gerichtsverfahrens erfor<strong>de</strong>rlich<br />
ist o<strong>de</strong>r wenn <strong>de</strong>r Ausschuss nach Resolution 1267<br />
(1999) ("<strong>de</strong>r Ausschuss") ausschließlich im Einzelfall<br />
feststellt, dass die Ein- o<strong>de</strong>r Durchreise gerechtfertigt<br />
ist“. Gem. Art. 4a Abs. 2 d. Talibanverordnung sei das<br />
Bun<strong>de</strong>samt für Migration nicht nur berechtigt, diese<br />
Ausnahmen in <strong>de</strong>r Schweiz zu gewähren, son<strong>de</strong>rn sogar<br />
verfassungsrechtlich zur Prüfung verpflichtet, ob Einzelfallgenehmigungen<br />
zu erteilen wären o<strong>de</strong>r allgemeinere<br />
Genehmigungen beim Sanktionsausschuss erwirkt wer<strong>de</strong>n<br />
könnten. Anträge auf Ein- und Durchreise zum Besuch<br />
von Anwälten und Ärzten waren zuvor fast durchgängig<br />
abschlägig beschie<strong>de</strong>n wor<strong>de</strong>n. Das zuständige<br />
Bun<strong>de</strong>samt für Migration hat danach ab 2008 tatsächlich<br />
Einzelausnahmen gewährt, die vom Beschwer<strong>de</strong>führer<br />
aber nur partiell wahrgenommen wur<strong>de</strong>n. Auch Anregungen,<br />
aufgrund seiner beson<strong>de</strong>ren Situation umfangreichere<br />
Ausnahmen beim Sanktionsausschuss zu beantragen,<br />
griff Nada nicht auf.<br />
Im Unterschied zu <strong>de</strong>n Mitgliedstaaten <strong>de</strong>r EU konnte<br />
die Schweiz die Verantwortung für die Entscheidung<br />
dieser Rechtsfragen nicht an die Unionsgerichte abschieben.<br />
An<strong>de</strong>rs als die Mitgliedstaaten <strong>de</strong>r EU hatte die<br />
Schweiz die Implementierung <strong>de</strong>r Sanktionsbeschlüsse<br />
durch ihre eigenen Organe selbst zu besorgen. Anstelle<br />
<strong>de</strong>s Rechtswegs vor <strong>de</strong>n EuGH durch Nichtigkeitsbeschwer<strong>de</strong>n<br />
gegen umsetzen<strong>de</strong> EU-<br />
Sanktionsverordnungen, <strong>de</strong>n die Betroffenen in <strong>de</strong>r<br />
Rechtssache Kadi beschreiten konnten, blieb Nada am<br />
En<strong>de</strong> nur die Individualbeschwer<strong>de</strong> zum EGMR. Parallel<br />
stellte <strong>de</strong>r Beschwer<strong>de</strong>führer im August 2009 erneut<br />
einen sog. <strong>de</strong>listing-Antrag beim Sicherheitsrat über <strong>de</strong>n<br />
2006 eingerichteten focal point, 9 <strong>de</strong>r endlich zum Erfolg<br />
führte. Die Schweiz unterstützte dieses Unterfangen<br />
durch ein Schreiben an <strong>de</strong>n Sanktionsausschuss, worin<br />
dieser darüber informierte wur<strong>de</strong>, dass eine <strong>strafrecht</strong>li-<br />
9<br />
SR-Res Nr. 1730 (2006).<br />
<strong>HRRS</strong> März <strong>2013</strong> (3/<strong>2013</strong>)<br />
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