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HRRS Ausgabe 3/2013 - hrr-strafrecht.de

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Rechtsprechung<br />

1. Das im Grundgesetz verankerte Schuldprinzip und die<br />

mit ihm verbun<strong>de</strong>ne Pflicht zur Erforschung <strong>de</strong>r materiellen<br />

Wahrheit sowie <strong>de</strong>r Grundsatz <strong>de</strong>s fairen, rechtsstaatlichen<br />

Verfahrens, die Unschuldsvermutung und die<br />

Neutralitätspflicht <strong>de</strong>s Gerichts schließen es aus, die<br />

Handhabung <strong>de</strong>r Wahrheitserforschung, die rechtliche<br />

Subsumtion und die Grundsätze <strong>de</strong>r Strafzumessung zur<br />

freien Disposition <strong>de</strong>r Verfahrensbeteiligten und <strong>de</strong>s<br />

Gerichts zu stellen. (BVerfGE)<br />

2. Verständigungen zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten<br />

über Stand und Aussichten <strong>de</strong>r Hauptverhandlung,<br />

die <strong>de</strong>m Angeklagten für <strong>de</strong>n Fall eines Geständnisses<br />

eine Strafobergrenze zusagen und eine Strafuntergrenze<br />

ankündigen, tragen das Risiko in sich, dass die<br />

verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht in vollem Umfang<br />

beachtet wer<strong>de</strong>n. Gleichwohl ist es <strong>de</strong>m Gesetzgeber<br />

nicht schlechthin verwehrt, zur Verfahrensvereinfachung<br />

Verständigungen zuzulassen. Er muss jedoch zugleich<br />

durch hinreichen<strong>de</strong> Vorkehrungen sicherstellen, dass die<br />

verfassungsrechtlichen Anfor<strong>de</strong>rungen gewahrt bleiben.<br />

Die Wirksamkeit <strong>de</strong>r vorgesehenen Schutzmechanismen<br />

hat <strong>de</strong>r Gesetzgeber fortwährend zu überprüfen. Ergibt<br />

sich, dass sie unvollständig o<strong>de</strong>r ungeeignet sind, hat er<br />

insoweit nachzubessern und erfor<strong>de</strong>rlichenfalls seine<br />

Entscheidung für die Zulässigkeit strafprozessualer Absprachen<br />

zu revidieren. (BVerfGE)<br />

3. Das Verständigungsgesetz sichert die Einhaltung <strong>de</strong>r<br />

verfassungsrechtlichen Vorgaben in ausreichen<strong>de</strong>r Weise.<br />

Der in erheblichem Maße <strong>de</strong>fizitäre Vollzug <strong>de</strong>s Verständigungsgesetzes<br />

führt <strong>de</strong>rzeit nicht zur Verfassungswidrigkeit<br />

<strong>de</strong>r gesetzlichen Regelung. (BVerfGE)<br />

4. Mit <strong>de</strong>n Vorschriften <strong>de</strong>s Verständigungsgesetzes hat<br />

die Zulassung von Verständigungen im Strafverfahren<br />

eine abschließen<strong>de</strong> Regelung erfahren. Außerhalb <strong>de</strong>s<br />

gesetzlichen Regelungskonzepts erfolgen<strong>de</strong> sogenannte<br />

informelle Absprachen sind unzulässig. (BVerfGE)<br />

5. Für die Ausgestaltung <strong>de</strong>s Strafverfahrens – und für<br />

Absprachen im Beson<strong>de</strong>ren – ergeben sich aus <strong>de</strong>m<br />

Grundgesetz die folgen<strong>de</strong>n Maßstäbe:<br />

a) Aus <strong>de</strong>m in <strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong>garantie und im<br />

Rechtsstaatsprinzip verankerten Schuldgrundsatz folgt<br />

für das Strafverfahren, dass je<strong>de</strong> Strafe die Feststellung<br />

eines individuell vorwerfbaren Verhaltens voraussetzt<br />

und dass die Strafe in einem gerechten Verhältnis zur<br />

Schwere <strong>de</strong>r Tat und zum Verschul<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Täters stehen<br />

muss.<br />

b) Der Staat ist von Verfassungs wegen gehalten, zum<br />

Schutz elementarer Rechtsgüter eine funktionstüchtige<br />

Strafrechtspflege zu gewährleisten, die Straftäter in<br />

einem justizförmigen, <strong>de</strong>m Beschleunigungsgrundsatz<br />

und <strong>de</strong>r materiellen Wahrheit verpflichteten Verfahren im<br />

Rahmen <strong>de</strong>r Gesetze einer schuldangemessenen Bestrafung<br />

zuführt und die rechtskräftig verhängte Strafen auch<br />

vollstreckt.<br />

c) Zugleich hat <strong>de</strong>r Strafprozess <strong>de</strong>m mit Strafe Bedrohten<br />

eine wirksame Sicherung seiner Grundrechte in<br />

einem fairen Verfahren zu gewährleisten und sicherzu–<br />

Straf- und Strafverfahrensrechtliche Entscheidungen <strong>de</strong>s EGMR/BVerfG<br />

stellen, dass <strong>de</strong>r Beschuldigte seine prozessualen Rechte<br />

mit <strong>de</strong>r erfor<strong>de</strong>rlichen Sachkun<strong>de</strong> wahrnehmen und<br />

Übergriffe staatlicher Stellen o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rer Verfahrensbeteiligter<br />

angemessen abwehren kann. Als Ausprägungen<br />

<strong>de</strong>s Rechtsstaatsprinzips sind dabei die Aussage- und<br />

Selbstbelastungsfreiheit <strong>de</strong>s Beschuldigten sowie die<br />

Unschuldsvermutung zu achten.<br />

d) Das Rechtsstaatsprinzip sowie das Prinzip <strong>de</strong>r richterlichen<br />

Unabhängigkeit und <strong>de</strong>s gesetzlichen Richters<br />

gewährleisten <strong>de</strong>m Beschuldigten das Recht, vor einem<br />

unparteilichen und unvoreingenommenen Richter zu<br />

stehen, <strong>de</strong>r nicht aufgrund persönlicher o<strong>de</strong>r sachlicher<br />

Beziehungen zu <strong>de</strong>n Verfahrensbeteiligten o<strong>de</strong>r zum<br />

Streitgegenstand die gebotene Neutralität vermissen<br />

lässt.<br />

e) Das im Rechtsstaatsprinzip und im Recht auf ein faires<br />

Verfahren verankerte Recht <strong>de</strong>s Beschuldigten, sich von<br />

einem Anwalt seines Vertrauens verteidigen zu lassen,<br />

verbietet es, im Strafprozess Verfahrensweisen vorzusehen,<br />

die – etwa durch Schaffung sachwidriger Anreize –<br />

das Vertrauensverhältnis zwischen Beschuldigtem und<br />

Verteidiger unterlaufen und das Recht auf eine effektive<br />

Verteidigung entwerten.<br />

6. Die gesetzliche Regelung <strong>de</strong>r Verständigungen im<br />

Strafverfahren ist verfassungsgemäß, weil sie in ausreichen<strong>de</strong>m<br />

Maße mit spezifischen Schutzmechanismen<br />

versehen ist, die bei <strong>de</strong>r gebotenen präzisieren<strong>de</strong>n Auslegung<br />

und Anwendung erwarten lassen, dass die verfassungsrechtlichen<br />

Anfor<strong>de</strong>rungen erfüllt wer<strong>de</strong>n. Im Einzelnen<br />

be<strong>de</strong>utet dies:<br />

a) Das Verständigungsgesetz statuiert kein neues, konsensuales<br />

Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>s Strafverfahrens, son<strong>de</strong>rn integriert<br />

Absprachen – die das Grundgesetz nicht schlechthin<br />

ausschließt – in <strong>de</strong>n von Verfassungs wegen <strong>de</strong>r bestmöglichen<br />

Erforschung <strong>de</strong>r materiellen Wahrheit und <strong>de</strong>r<br />

Findung einer tat- und schuldangemessenen Strafe verpflichteten<br />

Strafprozess.<br />

b) Grundlage eines Strafurteils kann niemals die Verständigung<br />

als solche sein, son<strong>de</strong>rn nur die – ausreichend<br />

fundierte – Überzeugung <strong>de</strong>s Gerichts von <strong>de</strong>m von ihm<br />

festzustellen<strong>de</strong>n Sachverhalt. Das Gericht bleibt dabei an<br />

die unverän<strong>de</strong>rt gelten<strong>de</strong> Amtsaufklärungspflicht gebun<strong>de</strong>n.<br />

Daher ist ein inhaltsleeres Formalgeständnis keine<br />

taugliche Grundlage für die richterliche Überzeugungsbildung.<br />

Angesichts <strong>de</strong>s verständigungsbedingten Anreizes<br />

zur Abgabe eines falschen Geständnisses ist je<strong>de</strong>s<br />

Geständnis – erfor<strong>de</strong>rlichenfalls durch Beweiserhebung in<br />

<strong>de</strong>r Hauptverhandlung – auf seine Richtigkeit zu überprüfen.<br />

c) Sowohl die tatsächlichen Feststellungen als auch <strong>de</strong>ren<br />

rechtliche Würdigung bleiben <strong>de</strong>r Disposition <strong>de</strong>r an<br />

einer Verständigung Beteiligten entzogen. Insbeson<strong>de</strong>re<br />

darf eine Strafrahmenverschiebung – auch im Zusammenhang<br />

mit Son<strong>de</strong>rstrafrahmen für beson<strong>de</strong>rs o<strong>de</strong>r<br />

min<strong>de</strong>r schwere Fälle – nicht Gegenstand einer Verständigung<br />

sein. Ein auf einer Verständigung basieren<strong>de</strong>s<br />

Urteil darf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n schuldangemessenen Strafens nicht<br />

verlassen.<br />

<strong>HRRS</strong> März <strong>2013</strong> (3/<strong>2013</strong>)<br />

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