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HRRS Ausgabe 3/2013 - hrr-strafrecht.de

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Rechtsprechung<br />

d) Ein wirksamer Rechtsmittelverzicht ist gera<strong>de</strong> auch<br />

dann ausgeschlossen, wenn sich die Beteiligten unter<br />

Verstoß gegen gesetzliche Vorschriften verständigt haben.<br />

Bindungswirkung vermögen solche Verständigungen<br />

nicht zu entfalten. Die gesetzliche – von § 348 StGB<br />

sanktionierte – Protokollierungspflicht gilt für alle Verständigungen.<br />

Die Einbeziehung an<strong>de</strong>rer anhängiger<br />

Ermittlungsverfahren in eine Verständigung – etwa über<br />

§ 154 Abs. 1 StPO – ist unzulässig.<br />

e) Die gesetzliche Pflicht zur Offenlegung und vollständigen<br />

Dokumentation von Verfahrensabsprachen soll sicherstellen,<br />

dass diese so ablaufen, wie vom Gesetz vorgeschrieben.<br />

Die Offenlegungs- und Dokumentationspflicht<br />

bezieht sich auch auf Vorgespräche, soweit sie<br />

nicht nur formale Fragen, son<strong>de</strong>rn (auch) <strong>de</strong>n möglichen<br />

Inhalt einer Verständigung betreffen. Die Verständigung<br />

selbst darf nur in <strong>de</strong>r Hauptverhandlung erfolgen.<br />

f) Der Funktion <strong>de</strong>r Staatsanwaltschaft, die Gesetzmäßigkeit<br />

<strong>de</strong>s strafgerichtlichen Verfahrens sicherzustellen,<br />

kommt in <strong>de</strong>r Verständigungssituation eine herausgehobene<br />

Be<strong>de</strong>utung zu. Die Staatsanwaltschaft hat ihre Zustimmung<br />

zu gesetzeswidrigen Verständigungen zu verweigern<br />

und gegen Urteile, die auf solchen Verständigungen<br />

beruhen, Rechtsmittel einzulegen.<br />

g) Die im Verständigungsgesetz vorgesehenen Schutzmechanismen<br />

bil<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Kern <strong>de</strong>s gesetzlichen Regelungskonzeptes<br />

und zielen auch darauf ab, eine vollumfängliche<br />

Rechtsmittelkontrolle von Verständigungen sicherzustellen.<br />

Die gesetzlichen Mitteilungs-, Belehrungs- und<br />

Dokumentationspflichten stellen daher nicht bloße Ordnungsvorschriften<br />

dar. Vielmehr führt ein Verstoß regelmäßig<br />

zur Rechtswidrigkeit einer gleichwohl getroffenen<br />

Verständigung. Das Urteil wird regelmäßig auf diesem<br />

Verstoß beruhen.<br />

h) Der Wegfall <strong>de</strong>r Bindungswirkung, wenn rechtlich<br />

o<strong>de</strong>r tatsächlich be<strong>de</strong>utsame Umstän<strong>de</strong> übersehen wor<strong>de</strong>n<br />

sind o<strong>de</strong>r sich neu ergeben und <strong>de</strong>r in Aussicht gestellte<br />

Strafrahmen <strong>de</strong>shalb nicht mehr tat- und schuldangemessen<br />

ist, ist Ausdruck <strong>de</strong>s gesetzgeberischen Willens,<br />

die Grundsätze <strong>de</strong>r richterlichen Überzeugungsbildung<br />

und <strong>de</strong>n Schuldgrundsatz auch bei Verständigungen<br />

unangetastet zu lassen. Die Belehrungspflicht über <strong>de</strong>n<br />

Wegfall <strong>de</strong>r Bindungswirkung und das für diesen Fall<br />

vorgesehene Verwertungsverbot bezüglich eines Geständnisses<br />

schützen die Aussagefreiheit <strong>de</strong>s Angeklagten.<br />

Bei einem Verstoß gegen die Belehrungspflicht wird<br />

das Revisionsgericht regelmäßig davon auszugehen haben,<br />

dass Geständnis und Urteil auf <strong>de</strong>m Fehler beruhen.<br />

7. Trotz einer die gesetzlichen Vorgaben in erheblichem<br />

Umfang vernachlässigen<strong>de</strong>n Verständigungspraxis kann<br />

gegenwärtig ein strukturelles Regelungs<strong>de</strong>fizit, das eine<br />

Verfassungswidrigkeit <strong>de</strong>r gesetzlichen Regelung zur<br />

Folge hätte, nicht festgestellt wer<strong>de</strong>n. Die Ursachen für<br />

das Vollzugs<strong>de</strong>fizit liegen vielmehr vorrangig in <strong>de</strong>r steigen<strong>de</strong>n<br />

Komplexität <strong>de</strong>r zu beurteilen<strong>de</strong>n Lebenssachverhalte,<br />

in einer stetigen Ausweitung <strong>de</strong>s materiellen<br />

Strafrechts, in immer differenzierteren Anfor<strong>de</strong>rungen an<br />

<strong>de</strong>n Ablauf <strong>de</strong>s Strafverfahrens und in einem bislang<br />

Straf- und Strafverfahrensrechtliche Entscheidungen <strong>de</strong>s EGMR/BVerfG<br />

offenkundig noch wenig ausgeprägten Bewusstsein <strong>de</strong>r<br />

Praxis für die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r gesetzlichen Schutzmechanismen.<br />

8. Den Gesetzgeber trifft allerdings eine Beobachtungsund<br />

ggf. eine Nachbesserungspflicht hinsichtlich <strong>de</strong>r<br />

gesetzlichen Schutzmechanismen. Sollte sich die gerichtliche<br />

Praxis auch weiterhin in erheblichem Umfang über<br />

die gesetzlichen Vorgaben hinwegsetzen, hätte <strong>de</strong>r Gesetzgeber<br />

<strong>de</strong>m durch geeignete Maßnahmen entgegenzuwirken.<br />

9. Eine Verständigung ist mit <strong>de</strong>m Grundsatz <strong>de</strong>s fairen<br />

Verfahrens regelmäßig unvereinbar, wenn <strong>de</strong>r Angeklagte<br />

zuvor nicht gemäß § 257c Abs. 5 StPO über die Voraussetzungen<br />

und Folgen einer Abweichung <strong>de</strong>s Gerichtes<br />

von <strong>de</strong>m in Aussicht gestellten Ergebnis im Sinne <strong>de</strong>s<br />

§ 257c Abs. 4 StPO belehrt wor<strong>de</strong>n ist. Dies gilt auch<br />

dann, wenn es nicht zu einer Abweichung von <strong>de</strong>r Verständigung<br />

gekommen ist. Das verständigungsbasierte<br />

Urteil beruht regelmäßig auf <strong>de</strong>m Verstoß gegen die<br />

Belehrungspflicht, sofern nicht aufgrund konkreter Umstän<strong>de</strong><br />

ausgeschlossen wer<strong>de</strong>n kann, dass <strong>de</strong>r Angeklagte<br />

das Geständnis auch bei ordnungsgemäßer Belehrung<br />

abgegeben hätte.<br />

10. Der Schuldgrundsatz und die darin verankerte Pflicht<br />

zur bestmöglichen Erforschung <strong>de</strong>r materiellen Wahrheit<br />

sind verletzt, wenn sich das Strafgericht im Rahmen einer<br />

Verständigung mit einem inhaltsleeren Formalgeständnis<br />

begnügt, das sich in einer Bezugnahme auf die Anklage<br />

erschöpft. Eine Verständigung verstößt außer<strong>de</strong>m dann<br />

gegen <strong>de</strong>n Schuldgrundsatz, wenn sie an <strong>de</strong>n Verzicht auf<br />

Beweisanträge zur Schuldfrage gekoppelt ist und wenn<br />

sie eine Strafrahmenverschiebung hinsichtlich eines min<strong>de</strong>r<br />

schweren Falles zum Gegenstand hat.<br />

11. Die Selbstbelastungsfreiheit <strong>de</strong>s Angeklagten kann<br />

durch eine übermäßige Differenz zwischen <strong>de</strong>n in Aussicht<br />

gestellten Strafobergrenzen für <strong>de</strong>n Fall einer Verständigung<br />

einerseits und <strong>de</strong>n Fall einer herkömmlichen<br />

Hauptverhandlung an<strong>de</strong>rerseits verletzt sein. Das Maß<br />

<strong>de</strong>s verfassungsrechtlich Zulässigen ist je<strong>de</strong>nfalls dann<br />

<strong>de</strong>utlich überschritten, wenn das Gericht auf <strong>de</strong>r Grundlage<br />

einer Verständigung zu einer zur Bewährung ausgesetzten<br />

Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren gelangt,<br />

während es für <strong>de</strong>n Fall einer herkömmlichen Hauptverhandlung<br />

zwei Einzelfreiheitsstrafen von jeweils bis zu<br />

drei Jahren bzw. eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren<br />

in Aussicht gestellt hatte.<br />

223. EuGH C 399/11 – Urteil vom 26. Februar<br />

<strong>2013</strong> (Stefano Melloni v. Ministerio Fiscal)<br />

Vereinbarkeit <strong>de</strong>s Rahmenbeschlusses über <strong>de</strong>n Europäischen<br />

Haftbefehl und Unionsgrundrechte (grundrechtskonforme<br />

Auslegung von Rahmenbeschlüssen;<br />

Recht auf ein faires Strafverfahren: Wesensgehalt und<br />

Menschenwür<strong>de</strong>, Verteidigungsrechte; Menschenrechte<br />

<strong>de</strong>r EMRK: Kohärenzklausel; Abwesenheitsverfahren:<br />

Rahmenbeschluss 2009/299/JL, Anwesenheitsrecht<br />

<strong>de</strong>s Angeklagten und Recht auf Verteidigerbeistand,<br />

Rechtsverzicht, gegenseitige Anerkennung rechtskräftiger<br />

Entscheidungen; zeitliche Anwendbarkeit <strong>de</strong>s geän<strong>de</strong>rten<br />

Rahmenbeschlusses und Zulässigkeit <strong>de</strong>s<br />

<strong>HRRS</strong> März <strong>2013</strong> (3/<strong>2013</strong>)<br />

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