HRRS Ausgabe 3/2013 - hrr-strafrecht.de
HRRS Ausgabe 3/2013 - hrr-strafrecht.de
HRRS Ausgabe 3/2013 - hrr-strafrecht.de
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Rechtsprechung<br />
d) Ein wirksamer Rechtsmittelverzicht ist gera<strong>de</strong> auch<br />
dann ausgeschlossen, wenn sich die Beteiligten unter<br />
Verstoß gegen gesetzliche Vorschriften verständigt haben.<br />
Bindungswirkung vermögen solche Verständigungen<br />
nicht zu entfalten. Die gesetzliche – von § 348 StGB<br />
sanktionierte – Protokollierungspflicht gilt für alle Verständigungen.<br />
Die Einbeziehung an<strong>de</strong>rer anhängiger<br />
Ermittlungsverfahren in eine Verständigung – etwa über<br />
§ 154 Abs. 1 StPO – ist unzulässig.<br />
e) Die gesetzliche Pflicht zur Offenlegung und vollständigen<br />
Dokumentation von Verfahrensabsprachen soll sicherstellen,<br />
dass diese so ablaufen, wie vom Gesetz vorgeschrieben.<br />
Die Offenlegungs- und Dokumentationspflicht<br />
bezieht sich auch auf Vorgespräche, soweit sie<br />
nicht nur formale Fragen, son<strong>de</strong>rn (auch) <strong>de</strong>n möglichen<br />
Inhalt einer Verständigung betreffen. Die Verständigung<br />
selbst darf nur in <strong>de</strong>r Hauptverhandlung erfolgen.<br />
f) Der Funktion <strong>de</strong>r Staatsanwaltschaft, die Gesetzmäßigkeit<br />
<strong>de</strong>s strafgerichtlichen Verfahrens sicherzustellen,<br />
kommt in <strong>de</strong>r Verständigungssituation eine herausgehobene<br />
Be<strong>de</strong>utung zu. Die Staatsanwaltschaft hat ihre Zustimmung<br />
zu gesetzeswidrigen Verständigungen zu verweigern<br />
und gegen Urteile, die auf solchen Verständigungen<br />
beruhen, Rechtsmittel einzulegen.<br />
g) Die im Verständigungsgesetz vorgesehenen Schutzmechanismen<br />
bil<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Kern <strong>de</strong>s gesetzlichen Regelungskonzeptes<br />
und zielen auch darauf ab, eine vollumfängliche<br />
Rechtsmittelkontrolle von Verständigungen sicherzustellen.<br />
Die gesetzlichen Mitteilungs-, Belehrungs- und<br />
Dokumentationspflichten stellen daher nicht bloße Ordnungsvorschriften<br />
dar. Vielmehr führt ein Verstoß regelmäßig<br />
zur Rechtswidrigkeit einer gleichwohl getroffenen<br />
Verständigung. Das Urteil wird regelmäßig auf diesem<br />
Verstoß beruhen.<br />
h) Der Wegfall <strong>de</strong>r Bindungswirkung, wenn rechtlich<br />
o<strong>de</strong>r tatsächlich be<strong>de</strong>utsame Umstän<strong>de</strong> übersehen wor<strong>de</strong>n<br />
sind o<strong>de</strong>r sich neu ergeben und <strong>de</strong>r in Aussicht gestellte<br />
Strafrahmen <strong>de</strong>shalb nicht mehr tat- und schuldangemessen<br />
ist, ist Ausdruck <strong>de</strong>s gesetzgeberischen Willens,<br />
die Grundsätze <strong>de</strong>r richterlichen Überzeugungsbildung<br />
und <strong>de</strong>n Schuldgrundsatz auch bei Verständigungen<br />
unangetastet zu lassen. Die Belehrungspflicht über <strong>de</strong>n<br />
Wegfall <strong>de</strong>r Bindungswirkung und das für diesen Fall<br />
vorgesehene Verwertungsverbot bezüglich eines Geständnisses<br />
schützen die Aussagefreiheit <strong>de</strong>s Angeklagten.<br />
Bei einem Verstoß gegen die Belehrungspflicht wird<br />
das Revisionsgericht regelmäßig davon auszugehen haben,<br />
dass Geständnis und Urteil auf <strong>de</strong>m Fehler beruhen.<br />
7. Trotz einer die gesetzlichen Vorgaben in erheblichem<br />
Umfang vernachlässigen<strong>de</strong>n Verständigungspraxis kann<br />
gegenwärtig ein strukturelles Regelungs<strong>de</strong>fizit, das eine<br />
Verfassungswidrigkeit <strong>de</strong>r gesetzlichen Regelung zur<br />
Folge hätte, nicht festgestellt wer<strong>de</strong>n. Die Ursachen für<br />
das Vollzugs<strong>de</strong>fizit liegen vielmehr vorrangig in <strong>de</strong>r steigen<strong>de</strong>n<br />
Komplexität <strong>de</strong>r zu beurteilen<strong>de</strong>n Lebenssachverhalte,<br />
in einer stetigen Ausweitung <strong>de</strong>s materiellen<br />
Strafrechts, in immer differenzierteren Anfor<strong>de</strong>rungen an<br />
<strong>de</strong>n Ablauf <strong>de</strong>s Strafverfahrens und in einem bislang<br />
Straf- und Strafverfahrensrechtliche Entscheidungen <strong>de</strong>s EGMR/BVerfG<br />
offenkundig noch wenig ausgeprägten Bewusstsein <strong>de</strong>r<br />
Praxis für die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r gesetzlichen Schutzmechanismen.<br />
8. Den Gesetzgeber trifft allerdings eine Beobachtungsund<br />
ggf. eine Nachbesserungspflicht hinsichtlich <strong>de</strong>r<br />
gesetzlichen Schutzmechanismen. Sollte sich die gerichtliche<br />
Praxis auch weiterhin in erheblichem Umfang über<br />
die gesetzlichen Vorgaben hinwegsetzen, hätte <strong>de</strong>r Gesetzgeber<br />
<strong>de</strong>m durch geeignete Maßnahmen entgegenzuwirken.<br />
9. Eine Verständigung ist mit <strong>de</strong>m Grundsatz <strong>de</strong>s fairen<br />
Verfahrens regelmäßig unvereinbar, wenn <strong>de</strong>r Angeklagte<br />
zuvor nicht gemäß § 257c Abs. 5 StPO über die Voraussetzungen<br />
und Folgen einer Abweichung <strong>de</strong>s Gerichtes<br />
von <strong>de</strong>m in Aussicht gestellten Ergebnis im Sinne <strong>de</strong>s<br />
§ 257c Abs. 4 StPO belehrt wor<strong>de</strong>n ist. Dies gilt auch<br />
dann, wenn es nicht zu einer Abweichung von <strong>de</strong>r Verständigung<br />
gekommen ist. Das verständigungsbasierte<br />
Urteil beruht regelmäßig auf <strong>de</strong>m Verstoß gegen die<br />
Belehrungspflicht, sofern nicht aufgrund konkreter Umstän<strong>de</strong><br />
ausgeschlossen wer<strong>de</strong>n kann, dass <strong>de</strong>r Angeklagte<br />
das Geständnis auch bei ordnungsgemäßer Belehrung<br />
abgegeben hätte.<br />
10. Der Schuldgrundsatz und die darin verankerte Pflicht<br />
zur bestmöglichen Erforschung <strong>de</strong>r materiellen Wahrheit<br />
sind verletzt, wenn sich das Strafgericht im Rahmen einer<br />
Verständigung mit einem inhaltsleeren Formalgeständnis<br />
begnügt, das sich in einer Bezugnahme auf die Anklage<br />
erschöpft. Eine Verständigung verstößt außer<strong>de</strong>m dann<br />
gegen <strong>de</strong>n Schuldgrundsatz, wenn sie an <strong>de</strong>n Verzicht auf<br />
Beweisanträge zur Schuldfrage gekoppelt ist und wenn<br />
sie eine Strafrahmenverschiebung hinsichtlich eines min<strong>de</strong>r<br />
schweren Falles zum Gegenstand hat.<br />
11. Die Selbstbelastungsfreiheit <strong>de</strong>s Angeklagten kann<br />
durch eine übermäßige Differenz zwischen <strong>de</strong>n in Aussicht<br />
gestellten Strafobergrenzen für <strong>de</strong>n Fall einer Verständigung<br />
einerseits und <strong>de</strong>n Fall einer herkömmlichen<br />
Hauptverhandlung an<strong>de</strong>rerseits verletzt sein. Das Maß<br />
<strong>de</strong>s verfassungsrechtlich Zulässigen ist je<strong>de</strong>nfalls dann<br />
<strong>de</strong>utlich überschritten, wenn das Gericht auf <strong>de</strong>r Grundlage<br />
einer Verständigung zu einer zur Bewährung ausgesetzten<br />
Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren gelangt,<br />
während es für <strong>de</strong>n Fall einer herkömmlichen Hauptverhandlung<br />
zwei Einzelfreiheitsstrafen von jeweils bis zu<br />
drei Jahren bzw. eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren<br />
in Aussicht gestellt hatte.<br />
223. EuGH C 399/11 – Urteil vom 26. Februar<br />
<strong>2013</strong> (Stefano Melloni v. Ministerio Fiscal)<br />
Vereinbarkeit <strong>de</strong>s Rahmenbeschlusses über <strong>de</strong>n Europäischen<br />
Haftbefehl und Unionsgrundrechte (grundrechtskonforme<br />
Auslegung von Rahmenbeschlüssen;<br />
Recht auf ein faires Strafverfahren: Wesensgehalt und<br />
Menschenwür<strong>de</strong>, Verteidigungsrechte; Menschenrechte<br />
<strong>de</strong>r EMRK: Kohärenzklausel; Abwesenheitsverfahren:<br />
Rahmenbeschluss 2009/299/JL, Anwesenheitsrecht<br />
<strong>de</strong>s Angeklagten und Recht auf Verteidigerbeistand,<br />
Rechtsverzicht, gegenseitige Anerkennung rechtskräftiger<br />
Entscheidungen; zeitliche Anwendbarkeit <strong>de</strong>s geän<strong>de</strong>rten<br />
Rahmenbeschlusses und Zulässigkeit <strong>de</strong>s<br />
<strong>HRRS</strong> März <strong>2013</strong> (3/<strong>2013</strong>)<br />
68