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HRRS Ausgabe 3/2013 - hrr-strafrecht.de

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Rechtsprechung<br />

Untersuchungshaft (Freiheitsgrundrecht; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz;<br />

Heranwachsen<strong>de</strong>; Beschleunigungsgebot<br />

in Haftsachen; Haftprüfungsentscheidung;<br />

Begründungstiefe; Jugend<strong>strafrecht</strong>; hypothetisches<br />

Strafen<strong>de</strong>; Verfahrensför<strong>de</strong>rung).<br />

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 104<br />

GG; § 116 Abs. 1 StPO; § 57 StGB; § 88 JGG<br />

1. Bei <strong>de</strong>m einer Straftat lediglich Verdächtigen ist zur<br />

Wahrung <strong>de</strong>r im Rechtsstaatsprinzip wurzeln<strong>de</strong>n Unschuldsvermutung<br />

eine Freiheitsentziehung im Strafverfahren<br />

nur dann zulässig, wenn die unabweisbaren Bedürfnisse<br />

einer wirksamen Strafverfolgung <strong>de</strong>n Freiheitsanspruch<br />

<strong>de</strong>s Beschuldigten überwiegen. Bei <strong>de</strong>r Abwägung<br />

ist <strong>de</strong>m Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung<br />

zu tragen.<br />

2. Der Grundsatz <strong>de</strong>r Verhältnismäßigkeit ist auch im<br />

Hinblick auf die Dauer <strong>de</strong>r Untersuchungshaft von Be<strong>de</strong>utung.<br />

Mit zunehmen<strong>de</strong>r Dauer steigen die Anfor<strong>de</strong>rungen<br />

an die Zügigkeit <strong>de</strong>r Verfahrensbearbeitung, an<br />

<strong>de</strong>n die Haftfortdauer rechtfertigen<strong>de</strong>n Grund sowie an<br />

die Begründungstiefe von Haftfortdauerentscheidungen.<br />

3. Das in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verankerte Beschleunigungsgebot<br />

in Haftsachen erfor<strong>de</strong>rt es, die notwendigen<br />

Ermittlungen mit <strong>de</strong>r erfor<strong>de</strong>rlichen Schnelligkeit abzuschließen<br />

und eine gerichtliche Entscheidung über die<br />

<strong>de</strong>m Beschuldigten vorgeworfenen Taten ohne vermeidbare<br />

und <strong>de</strong>m Staat zuzurechnen<strong>de</strong> Verfahrensverzögerungen<br />

herbeizuführen.<br />

4. An <strong>de</strong>n zügigen Fortgang <strong>de</strong>s Verfahrens sind umso<br />

strengere Anfor<strong>de</strong>rungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft<br />

bereits andauert. Mit zunehmen<strong>de</strong>r Dauer<br />

<strong>de</strong>r Untersuchungshaft steigen außer<strong>de</strong>m die Anfor<strong>de</strong>rungen<br />

an <strong>de</strong>n die Haftfortdauer rechtfertigen<strong>de</strong>n Grund<br />

sowie an die Begründungstiefe von Haftfortdauerentscheidungen.<br />

5. Bei <strong>de</strong>r Abwägung <strong>de</strong>r Angemessenheit <strong>de</strong>r Verfahrensdauer<br />

haben die Gerichte vorrangig auf objektive<br />

Kriterien wie die Komplexität <strong>de</strong>r Rechtssache, die Vielzahl<br />

<strong>de</strong>r beteiligten Personen und das Verhalten <strong>de</strong>r Verteidigung<br />

abzustellen. Zu würdigen sind außer<strong>de</strong>m die<br />

voraussichtliche Gesamtdauer <strong>de</strong>s Verfahrens, die im<br />

Raum stehen<strong>de</strong> konkrete Straferwartung und – für <strong>de</strong>n<br />

Fall <strong>de</strong>r Verhängung einer Freiheitsstrafe – das hypothetische<br />

Strafen<strong>de</strong>.<br />

6. Bei <strong>de</strong>r Erörterung <strong>de</strong>s hypothetischen Strafen<strong>de</strong>s ist<br />

auch die Möglichkeit <strong>de</strong>r Aussetzung <strong>de</strong>s Strafrestes zur<br />

Bewährung nach § 57 StGB bzw. § 88 JGG zu berücksichtigen.<br />

Hierfür besteht insbeson<strong>de</strong>re dann Anlass, wenn<br />

<strong>de</strong>r Beschuldigte nicht vorbestraft ist und erstmalig von<br />

einer freiheitsentziehen<strong>de</strong>n Maßnahme betroffen sein<br />

wür<strong>de</strong> und wenn die Jugendgerichtshilfe die Anwendung<br />

von Jugend<strong>strafrecht</strong> empfohlen hat.<br />

7. Der Pflicht zur beschleunigten Durchführung <strong>de</strong>r<br />

Hauptverhandlung genügt das Gericht regelmäßig nicht,<br />

wenn es in <strong>de</strong>m jeweiligen Verfahren – ungeachtet einer<br />

möglichen mehrwöchigen Unterbrechung wegen Urlaubs<br />

– durchschnittlich nur ca. einen Sitzungstag pro Woche<br />

Straf- und Strafverfahrensrechtliche Entscheidungen <strong>de</strong>s EGMR/BVerfG<br />

durchführt. Dies gilt insbeson<strong>de</strong>re dann, wenn das Gericht<br />

an einer nennenswerten Zahl von Verhandlungstagen<br />

nur kurze, <strong>de</strong>n Sitzungstag nicht ausschöpfen<strong>de</strong> Zeit<br />

verhan<strong>de</strong>lt und das Verfahren dadurch nicht entschei<strong>de</strong>nd<br />

för<strong>de</strong>rt.<br />

229. BVerfG 2 BvR 2392/12 (3. Kammer <strong>de</strong>s<br />

Zweiten Senats) – Beschluss vom 23. Januar<br />

<strong>2013</strong> (LG Erfurt / AG Erfurt)<br />

DNA-Analyse (Körperzellen; Entnahme; molekulargenetische<br />

Untersuchung; künftige Strafverfahren; Recht<br />

auf informationelle Selbstbestimmung; körperliche<br />

Unversehrtheit; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz);<br />

einstweilige Anordnung (Folgenabwägung).<br />

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 2 Satz 1<br />

GG; § 81g StPO; § 32 Abs. 1 BVerfGG<br />

1. Die Anordnung <strong>de</strong>r Entnahme und <strong>de</strong>r molekulargenetischen<br />

Untersuchung von Körperzellen zur Verwendung<br />

in künftigen Strafverfahren nach § 81g StPO setzt eine<br />

Prognose bezüglich künftig zu erwarten<strong>de</strong>r Taten <strong>de</strong>s<br />

Verurteilten voraus, die einzelfallbezogen zu begrün<strong>de</strong>n<br />

ist.<br />

2. Basiert die beabsichtigte DNA-Untersuchung auf einer<br />

jugend<strong>strafrecht</strong>lichen Verurteilung wegen sexuellen<br />

Missbrauchs von Kin<strong>de</strong>rn, so erscheint ein Verfassungsverstoß<br />

zumin<strong>de</strong>st möglich, wenn die gerichtlichen Entscheidungen<br />

keinerlei Ausführungen dazu enthalten, dass<br />

es sich um einen erst 14-jährigen Beschuldigten han<strong>de</strong>lt,<br />

<strong>de</strong>r eine 13-Jährige lediglich geküsst und bei dieser einen<br />

„Knutschfleck“ hinterlassen hat, wobei die Handlungen<br />

aus seiner Sicht auf gegenseitigem Einverständnis beruhten.<br />

3. Bei <strong>de</strong>r Folgenabwägung im Rahmen <strong>de</strong>s § 32 Abs. 1<br />

BVerfGG über eine Anordnung nach § 81g StPO überwiegt<br />

<strong>de</strong>r teilweise irreparable Eingriff in die körperliche<br />

Unversehrtheit und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung<br />

insbeson<strong>de</strong>re bei einem Jugendlichen regelmäßig<br />

das Interesse an einer sofortigen Vollziehung <strong>de</strong>r<br />

Untersuchung.<br />

226. BVerfG 2 BvR 376/11 (2. Kammer <strong>de</strong>s<br />

Zweiten Senats) – Beschluss vom 24. Januar<br />

<strong>2013</strong> (LG München I / AG München)<br />

Durchsuchungsbeschluss (Anfor<strong>de</strong>rungen an <strong>de</strong>n Tatverdacht;<br />

bloße Vermutungen); Bestellbetrug.<br />

Art. 13 GG; § 102 StPO; § 105 StPO; § 263 StGB<br />

1. Das Gewicht <strong>de</strong>s mit einer Durchsuchung verbun<strong>de</strong>nen<br />

Eingriffs in die durch Art. 13 Abs. 1 GG geschützte<br />

persönliche Lebenssphäre verlangt als Durchsuchungsvoraussetzung<br />

Verdachtsgrün<strong>de</strong>, die über vage Anhaltspunkte<br />

und bloße Vermutungen hinausreichen.<br />

2. Eine Durchsuchung verletzt das Grundrecht aus<br />

Art. 13 Abs. 1 GG, wenn sich für sie sachlich zureichen<strong>de</strong><br />

plausible Grün<strong>de</strong> nicht mehr fin<strong>de</strong>n lassen.<br />

3. Eine Durchsuchung darf nicht <strong>de</strong>r Ermittlung von<br />

Tatsachen dienen, die zur Begründung <strong>de</strong>s Verdachts<br />

erfor<strong>de</strong>rlich sind; <strong>de</strong>nn sie setzt einen Verdacht bereits<br />

voraus.<br />

<strong>HRRS</strong> März <strong>2013</strong> (3/<strong>2013</strong>)<br />

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