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HRRS Ausgabe 3/2013 - hrr-strafrecht.de

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Aufsätze und Anmerkungen<br />

schrieben wird. Hingewiesen wird erstens auf <strong>de</strong>n Ausnahmetatbestand<br />

in SR-Res. Nr. 1390 (2002), Ziff. 2(b),<br />

wonach das Verbot von Einreise o<strong>de</strong>r Transit nicht gilt,<br />

wenn diese notwendig zur Durchführung justizieller<br />

Verfahren sind. Der Terminus “notwendig” lasse eine<br />

einzelfallorientierte Anwendung <strong>de</strong>s Verbots zu (Z. 177).<br />

Zweitens enthalte besagte Resolution in Abs. 8 die<br />

grundsätzliche Aussage, 25 wonach <strong>de</strong>n nationalen Behör<strong>de</strong>n<br />

eine gewisse Flexibilität („where appropriate“) bei<br />

<strong>de</strong>r Implementierung <strong>de</strong>r Resolution zugestan<strong>de</strong>n wird<br />

(Z. 178). Schließlich weist <strong>de</strong>r EGMR auf eine Motion<br />

<strong>de</strong>s Schweizer Nationalrats an <strong>de</strong>n Bun<strong>de</strong>srat hin. Diese<br />

verlangte, <strong>de</strong>n Sicherheitsrat darüber in Kenntnis zu<br />

setzen, dass die Schweiz die Antiterrorismussanktionen<br />

nicht mehr unbedingt umsetzen wür<strong>de</strong>, was aus Sicht<br />

<strong>de</strong>s Gerichtshofs die Annahme eines gewissen Ermessens<br />

voraussetzt (Z. 179).<br />

Für <strong>de</strong>n EGMR steht damit fest, dass die Schweiz begrenzten,<br />

aber <strong>de</strong>nnoch realen Spielraum hatte. Lei<strong>de</strong>r<br />

vermag keine einzige <strong>de</strong>r vorgetragenen Erwägungen zu<br />

überzeugen. Es ist unbestritten, dass nationale Behör<strong>de</strong>n<br />

Ausnahmen gewähren können, wenn dies zur Durchführung<br />

von Gerichtsverfahren u.ä. notwendig ist. Ebenso<br />

klar ist aber auch – und mit diesem Satz setzt sich <strong>de</strong>r<br />

EGMR nicht auseinan<strong>de</strong>r –, dass alle weiteren Ausnahmen<br />

aus an<strong>de</strong>ren Grün<strong>de</strong>n nur vom Sanktionsausschuss<br />

gewährt wer<strong>de</strong>n können. 26 Hierauf haben, wenn auch<br />

sehr (bzw. zu) spät, die Schweizerischen Behör<strong>de</strong>n hingewiesen<br />

und Unterstützung avisiert. Das Bun<strong>de</strong>sgericht<br />

sieht die Behör<strong>de</strong>n hierzu sogar als verfassungsrechtlich<br />

verpflichtet an. Tatsächlich ließen sich einige Maßnahmen<br />

vorstellen, um <strong>de</strong>n persönlichen und gesundheitlichen<br />

Nöten <strong>de</strong>s Beschwer<strong>de</strong>führers Rechnung zu tragen,<br />

ohne <strong>de</strong>n Sanktionszweck zu gefähr<strong>de</strong>n. Das Sanktionsregime<br />

unterstellt letztlich, dass sich die Adressaten in<br />

ihrem Wohnsitz- bzw. Heimatstaat befin<strong>de</strong>n und sich<br />

zumin<strong>de</strong>st dort frei bewegen und mit <strong>de</strong>n humanitär<br />

gebotenen Leistungen zum Lebensunterhalt und zur<br />

Gesundheitspflege versorgen können. Es liegt daher<br />

nicht fern, <strong>de</strong>n Bewohnern von Enklaven, in <strong>de</strong>r die Versorgung<br />

mit <strong>de</strong>n humanitär notwendigen Versorgungsleistungen<br />

nicht gesichert ist, eine hinreichen<strong>de</strong> Versorgung<br />

durch freien Transit über festgelegte Strecken – ggf.<br />

mit GPS-Tracking o<strong>de</strong>r (kostenpflichtiger) Eskorte – zu<br />

gewährleisten und damit die (unterstellte) territoriale<br />

Geschlossenheit zu fingieren. Alternativ könnte <strong>de</strong>r „umschließen<strong>de</strong>“<br />

Staat diese Leistungen durch Einreise verfügbar<br />

machen. Auf gleichem Weg ließe sich eine Aufrechterhaltung<br />

<strong>de</strong>s Familienlebens mit Angehörigen<br />

außerhalb <strong>de</strong>r Enklave bewerkstelligen. Allerdings hätten<br />

die nationalen Behör<strong>de</strong>n nur ein Vorschlagsrecht und<br />

könnten eine Ausnahme daher lediglich proaktiv erbitten<br />

und dies mit einer substanziellen Begründung versehen.<br />

Das Letztentscheidungsrecht läge ein<strong>de</strong>utig beim Sanktionsausschuss.<br />

Der Vorwurf gegenüber <strong>de</strong>r Schweiz<br />

25<br />

“… all States to take immediate steps to enforce and<br />

strengthen through legislative enactments or administrative<br />

measures, where appropriate, the measures imposed<br />

un<strong>de</strong>r domestic laws or regulations against their nationals<br />

and other individuals or entities operating on their territory<br />

...”<br />

26<br />

Erst später kommt <strong>de</strong>r EGMR auf diesen Umstand bei <strong>de</strong>r<br />

Benennung <strong>de</strong>r konkreten Defizite zurück, Z. 191 ff.<br />

Meyer – Der Fall Nada vor <strong>de</strong>m EGMR<br />

kann also allenfalls darin liegen, diesen Weg nicht frühzeitig<br />

und konsequent beschritten zu haben. Die Möglichkeit<br />

hierzu hätten sie bereits ab 2003 zu Beginn <strong>de</strong>r<br />

effektiven Durchsetzung <strong>de</strong>r Sanktion gegenüber Nada<br />

gehabt.<br />

Zu klären bliebe aber, woraus sich eine solche Verpflichtung<br />

<strong>de</strong>r Schweiz gegenüber einem im Ausland wohnhaften<br />

Auslän<strong>de</strong>r ergeben soll. Dass das Bun<strong>de</strong>sgericht die<br />

Behör<strong>de</strong>n von Verfassungs wegen für verpflichtet hält,<br />

hat <strong>de</strong>n EGMR nicht zu interessieren, da als Normordnung<br />

für ihn nur die EMRK relevant ist. Hier tritt erneut<br />

zutage, dass <strong>de</strong>r EGMR nicht begrün<strong>de</strong>t, woraus sich die<br />

Grundrechtsberechtigung Nadas aus Art. 8 EMRK<br />

gegenüber <strong>de</strong>r Schweiz ergibt. Wie gesehen, ist die Aktivierung<br />

<strong>de</strong>r materiellen Konventionsbindung <strong>de</strong>r Schweiz<br />

gegenüber Nada keinesfalls selbstverständlich. Hinzu<br />

käme vorliegend, dass – über das Abwe<strong>hrr</strong>echt hinaus –<br />

<strong>de</strong>n Vertragsstaat auch eine entsprechen<strong>de</strong> positive<br />

Schutzpflicht treffen müsste, aus <strong>de</strong>r sich die beschriebenen<br />

Verpflichtungen <strong>de</strong>r Behör<strong>de</strong> ableiten ließen. Auch<br />

die zweite Flexibilitätsquelle versiegt bei näherer Betrachtung.<br />

Zum einen fällt Nada gar nicht in <strong>de</strong>n persönlichen<br />

Anwendungsbereich <strong>de</strong>r angesprochenen Regelung<br />

in <strong>de</strong>r SR-Resolution. Zum an<strong>de</strong>ren geht die Interpretation<br />

<strong>de</strong>s EGMR in <strong>de</strong>r Sache fehl. 27 „Where appropriate“<br />

gewährt keine Ermessensspielräume über Ob und<br />

Angemessenheit <strong>de</strong>r Durchsetzung, son<strong>de</strong>rn bezieht sich<br />

allein auf die Auswahl <strong>de</strong>r im Text genannten Mittel zur<br />

Durchsetzung.<br />

Ebenso unergiebig ist <strong>de</strong>r Hinweis auf die Motion <strong>de</strong>s<br />

Nationalrats. Dass diese erst nach <strong>de</strong>r endgültigen Streichung<br />

Nadas von <strong>de</strong>r Liste erfolgte und damit von <strong>de</strong>n<br />

Behör<strong>de</strong>n gar nicht beachtet wer<strong>de</strong>n konnte, ist dabei nur<br />

<strong>de</strong>r augenscheinlichste Kritikpunkt. Spannen<strong>de</strong>r ist,<br />

wieso es für die rechtliche Beurteilung, welche rechtlichen<br />

Umsetzungsspielräume bestimmte völkerrechtliche<br />

Instrumente zulassen, auf die – ohnehin nur unterstellte<br />

– implizite Bewertung eines rein politischen Gremiums<br />

im Rahmen einer politischen Entscheidung ankommen<br />

soll. Welchen rechtlichen Wert soll dieses Argument<br />

haben? Zuständig für die Bewertung sind aus Konventionssicht<br />

allein <strong>de</strong>r EGMR und aus UN-Sicht nur <strong>de</strong>r<br />

Sicherheitsrat. Eine Bewertungsprärogative räumen bei<strong>de</strong><br />

Institutionen <strong>de</strong>n jeweiligen Mitgliedstaaten für rechtliche<br />

Kernfragen nicht ein. Der EGMR kann sich von seiner<br />

Verantwortung nicht frei machen, in<strong>de</strong>m er auf<br />

rechtspolitische Verlautbarungen parlamentarischer Organe<br />

in <strong>de</strong>n Vertragsstaaten verweist.<br />

Auf dieser wackeligen Grundlage bleibt es daher für <strong>de</strong>n<br />

EGMR dabei, dass die zuständigen Behör<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r<br />

Schweiz nicht hinreichend auf die Beson<strong>de</strong>rheiten <strong>de</strong>s<br />

Einzelfalls, insbeson<strong>de</strong>re die geografische Lage sowie<br />

Alter und Gesundheit <strong>de</strong>s Beschwer<strong>de</strong>führers, eingegangen<br />

sind (Z. 191-193). Dieses fehlen<strong>de</strong> Bemühen ist aber<br />

nicht das einzige Unterlassen, das <strong>de</strong>r Schweiz vorgeworfen<br />

wird. Bei <strong>de</strong>r Prüfung, ob die getroffenen Maßnahmen<br />

unter <strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>ren Voraussetzungen <strong>de</strong>s konkreten<br />

Falles <strong>de</strong>n Anfor<strong>de</strong>rungen von Art. 8 EMRK genügen,<br />

prüft <strong>de</strong>r EGMR als Anpassungsoptionen nicht Bloß die<br />

Nutzung von Ausnahmevorbehalten, son<strong>de</strong>rn auch alter-<br />

27<br />

So auch Malinverni, Concurring opinion, Z. 3 ff.<br />

<strong>HRRS</strong> März <strong>2013</strong> (3/<strong>2013</strong>)<br />

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